Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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Säuberungen bis hin zu Adolf HitlersHitler, Adolf Holocaust dort –, Auswüchse einer Moderne waren, die Amok lief. Am Ende der heftigen Gefechte glichen weite Teile Europas einer Mondlandschaft, in der verstörte Bewohner um das nackte Überleben kämpften. Die Versuche des social engineering der Diktatoren hatten ungeheure Zerstörung angerichtet.

      Die genannte Blickrichtung lässt uns des Weiteren erkennen, dass der Alte Kontinent nicht unterging, sondern sich aus der Asche wieder emporschwang. Das konnte er, weil er im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts eine konservative Version der Modernisierung anstrebte. Unterstützt von den Vereinigten Staaten, nutzte der westliche Teil die Chance, die Demokratie mit Hilfe des Wohlfahrtsstaats zu stabilisieren, während die östliche Hälfte eine Sowjetisierung erlebte. Daraus ergaben sich die Krisen des Kalten Krieges, die glücklicherweise im Zaum gehalten wurden durch die Furcht vor nuklearer Vernichtung; zudem befreite die Dekolonisation Europa von seinem imperialen Ballast. Die wirtschaftliche Integration innerhalb Westeuropas bewies, dass man dort die Lektionen über die Schädlichkeit nationalistischer Feindseligkeiten gelernt hatte, während die östliche Hälfte unter der diktatorischen Herrschaft Russlands verblieb. Im Gegensatz zur Zwischenkriegsphase akzeptierten nach dem Zweiten Weltkrieg die meisten Europäer die Moderne, weil sie ihnen merkliche Verbesserungen ihres Lebensstandards brachte, etwa bei Konsum und Unterhaltung. Beiderseits des Eisernen Vorhangs waren die Politiker überzeugt, sie könnten das wohltätige Potenzial des Fortschritts ausschöpfen, indem sie soziale Reformen planten. Wieder einmal wurde die Modernisierung zum Leitwort einer friedlichen Koexistenz der konkurrierenden Zukunftsentwürfe in Ost und West.

      Schließlich ergibt meine Analyse, dass im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts eine unvorhergesehene kulturelle Revolte gegen die Moderne das wiedergewonnene Vertrauen in den Fortschritt erschütterte. Die Jugendrebellion, neue soziale Bewegungen und postmoderne Kritik lehnten die rationalistische Synthese des klassischen Modernismus ab. Gleichzeitig unterminierte die ökonomische Transformation, die sich im Gefolge der Globalisierung vollzog, die gesellschaftlichen Stützpfeiler sozialdemokratischen Planens. Das Ende des Kalten Kriegs bahnte der »friedlichen Revolution« von 1989 den Weg, die den Kommunismus stürzte; nun blieb als Modell für die Transformation Osteuropas einzig die demokratische Modernisierung übrig. Neue globale Herausforderungen im wirtschaftlichen Wettbewerb, »Armutsmigration« und internationaler Terrorismus machten jedoch rasch diesem Triumph ein Ende. Um 2000 sah sich Europa vor der Aufgabe, seine eigene Version des Wohlfahrtskapitalismus gegen die Hegemonie des amerikanischen Modells und die aufsteigenden asiatischen Konkurrenten zu verteidigen. Indem sie die Hoffnungen und Enttäuschungen, die mit diesem Streben nach Fortschritt verbunden waren, ins Schlaglicht rückt, liefert unsere Perspektivierung eine neue Interpretation des kontinentalen Ringens mit dem Fortschritt während des 20. Jahrhunderts.

      Auch wenn sich der Fokus des Interesses inzwischen auf andere Regionen der Erde verschiebt – der Fall Europa bleibt wichtig, denn er repräsentiert ein drastisches Beispiel für die Fehlschläge und Erfolge, die beim Umgang mit der Modernisierung geschehen können. Aufstieg, Fall und Wiedergeburt des Alten Kontinents im 20. Jahrhundert bieten eine hochdramatische Erzählung, vorangetrieben von außergewöhnlichen Individuen, voller überraschender Kehren und Schicksalswendungen. Einerseits kann man sie lesen als Warnung vor den unheilvollen Folgen, die eine radikale Veränderung der Gesellschaft durch diktatorische Systeme anrichtet. Das stalinistische Russland und das nazistische Deutschland hinterließen eine Spur von Leid und Tod, und zwar in einem schier unvorstellbaren Ausmaß. Andererseits kann das Exempel Europas auch ermutigen, denn es bezeugt, dass Gesellschaften, die an den Rand der Selbstzerstörung gerieten, sich regenerieren können, wenn sie aus den Lektionen ihrer mörderischen Vergangenheit lernen, dass sie um einer besseren Zukunft willen kooperieren müssen.8 Nur gar zu deutlich zeigen sich die Verheerungen, die eine autodestruktive Kriegsführung und ein ausbeuterischer Kapitalismus angerichtet haben. Daher führt die europäische Erfahrung letztendlich vor Augen, wie wichtig es ist, die Stabilität der Demokratie durch friedliche Kooperation nach außen und einen leistungsfähigen Wohlfahrtsstaat im Inneren zu bewahren. Die entscheidende Einsicht, die aus jenem Jahrhundert der Turbulenzen zu ziehen wäre, lautet also, dass die Dynamik der Moderne zu zügeln ist, damit ihr wohltätiges Potenzial freigesetzt werden kann.

      TEIL I

      Fortschrittsversprechen, 1900–1929

      Globale Herrschaft

      Südafrikanische SüdafrikaDiamantenmine, 1911

      Das diamantene Thronjubiläum Königin VictoriasVictoria I., der sechzigste Jahrestag ihres Machtantritts, bildete den symbolischen Höhepunkt des europäischen Imperialismus. Kolonialminister Joseph ChamberlainChamberlain, Joseph hatte die Idee zu diesem prächtigen Festival of the British Empire gehabt; es kamen auch elf Premierminister aus den selbstverwalteten dominions. Ein zeitgenössischer Film hat dieses Ereignis festgehalten; auf dessen flimmernden Bildern ist kaum zu erkennen, dass LondonLondon schier unterging in Fahnen, Girlanden und Scharen neugieriger Menschen, zurückgehalten von Soldaten mit hohen Pelzmützen. Militäreinheiten aus dem gesamten Empire paradierten zu Fuß oder auf Pferden durch die Straßen. Sie trugen farbenfrohe Uniformen, so das Kontingent der kanadischen Reiterpolizei ihre roten Waffenröcke und indische Regimenter die traditionelle Tracht ihrer Heimat. An der Spitze des Zuges fuhr die bald achtzigjährige KöniginVictoria I. in einer Pferdekutsche. Die Prozession hielt vor der Sankt-Pauls-Kathedrale, wo ein Gottesdienst unter freiem Himmel stattfand. Auch andernorts in England und nicht minder in den Kolonien wurde der Tag mit Reden und Feuerwerk festlich begangen. Das diamantene Jubiläum stellte die militärische Macht des Imperiums zur Schau und ebenso die Zuneigung vieler seiner Untertanen zu ihrer betagten Monarchin.1

      Zeitgenössische Propagandisten und auch spätere Kommentatoren wurden und werden nicht müde, die Verdienste des Empire zu preisen, von denen Kolonisatoren und Kolonisierte profitiert hätten. Schriftsteller wie H. Rider HaggardHaggard, H. Rider verfassten aufregende Geschichten, so die Abenteuer des Allan Quartermain, die in Afrika spielten und nachmals Anregung für die Indiana-Jones-Filme liefern sollten. Journalisten, darunter der junge Winston ChurchillChurchill, Winston, schilderten anschaulich begeisternde Siege der Kolonialtruppen gegen in Überzahl kämpfende Derwische, ohne deren Abschlachtung moralisch bedenklich zu finden. Ein Jahrhundert später hat das dschihadistische Chaos dazu geführt, dass wieder die Vorteile der imperialen Ordnung erörtert werden: Verglichen mit dem Problemwirrwarr, den spätere Konflikte zwischen Religionen oder Nationalstaaten ausgelöst hätten, habe sie doch funktioniert. Der britische Historiker Niall FergusonFerguson, Niall erklärt deshalb, das Empire habe »weltweit den Wohlstand gefördert«, indem es den liberalen Kapitalismus, die englische Sprache, die parlamentarische Demokratie und die Ideen der Aufklärung in Schulen und Universitäten verbreitet habe. Er sieht darin eine Frühform dessen, was er anglobalization nennt (gemeint ist die Globalisierung mit Großbritannien und den USAVereinigte Staaten als treibenden Kräften, namentlich nach dem Zweiten Weltkrieg). Mit Verweis auf das segensreiche Walten des britischen Weltreichs schließt FergusonFerguson, Niall, das »Empire und seine Folgewirkungen« hätten »die moderne Welt so tiefgehend geformt, dass wir deren Beschaffenheit fast als selbstverständlich nehmen«.2

      Andererseits mehrten sich im Laufe des Jahrhunderts die kritischen Stimmen; ja, Imperialismus avancierte zu einem der verhasstesten Begriffe im Wortschatz der Politik. Literaten beschrieben die Ausbeutung und den Rassismus, die Europa anderen Teilen der Welt angedeihen ließ, in packenden Geschichten, so Joseph ConradConrad, Joseph in seiner Novelle Heart of Darkness (dt. Herz der Finsternis). Kritiker wie John A. HobsonHobson, John A. attackierten den Kolonialismus, denn er habe »seinen Ursprung im selbstsüchtigen Interesse bestimmter Kreise der Industrie und Finanz sowie bestimmter Berufsgruppen, die privaten Profit aus einer Politik imperialer Expansion ziehen wollen«. Während des Ersten Weltkriegs meinte der Revolutionär Wladimir I. LeninLenin, Wladimir I., der Imperialismus sei »seinem ökonomischen Wesen nach Monopolkapitalismus«, und die Kette der imperialistischen Ausbeutung könne an ihrem schwächsten Glied zerbrochen werden, nämlich seiner Heimat Russland. Da sie dringend einer theoretischen Rechtfertigung bedurften, um die europäische Herrschaft zu stürzen,


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