Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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denen Lastkraftwagen fahren konnten; man konstruierte Eisenbahnen, mit denen sich mehr Menschen und Produkte über weitere Entfernungen transportieren ließen. Entlang dieser Route wurden Handelsstationen eingerichtet, um die weißen Siedler zu versorgen und in Massenproduktion hergestellte Güter an die Einheimischen zu verkaufen. Im KongoKongo ersetzte die Überschusswirtschaft auf Plantagen die bisherige Subsistenzwirtschaft. Kaffee und Bananen sollten in so großen Mengen zur Verfügung stehen, dass sich die Ausfuhr per Schiff auch lohnte. In SüdafrikaSüdafrika grub man Bergwerke verschiedenster Art, um Diamanten oder Metalle wie Kupfer und Silber aus dem Boden zu holen.3 Solche Innovationen intensivierten die Ausbeutung der Ressourcen und verbanden die koloniale Produktion mit den Weltmärkten; und sie brachten auch den Kolonisierten – zumindest einigen – einen Hauch des europäischen Lebensstils.

      Dieses imperiale System beruhte darauf, dass die sozialen Schichten einer Kolonialgesellschaft streng nach Rassen sortiert waren; es stand eindeutig fest, wer die Herren waren und wer die Beherrschten. Im Prinzip teilte sich die Kolonialgesellschaft wie folgt: Oben stand die herrschende weiße Klasse, auf Zwischenhöhe eine Gruppe subalterner Helfer, und schließlich, ganz unten, die ausgebeuteten lokalen Arbeitskräfte. Die Wirklichkeit war natürlich oft komplexer, denn es existierte ja eine parallele einheimische Hierarchie, die sich den neuen Machtverhältnissen anpassen musste. Entweder wurde sie fundamental umgeformt oder schrittweise aufgelöst. Gelegentlich mischten sich jedoch die beiden Sphären, was das Aufrechterhalten scharfer Abgrenzung erschwerte. Einige Europäer wurden zwangsläufig »Einheimische«; umgekehrt wollten die Söhne der lokalen Elite, nachdem sie europäische Universitäten besucht hatten, nicht länger untergeordnete Rollen spielen. Aber mochten auch einige Weiße sich von der Landschaft faszinieren lassen oder Zuneigung zur lokalen Bevölkerung entwickeln – manche Memoirenliteratur hat diesen Vorgang romantisiert, etwa Karen BlixensBlixen, Karen autobiografischer Roman Out of Africa (dt. Jenseits von Afrika) –, blieb das grundlegende Verhältnis zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten nichtsdestoweniger das einer krassen Ungleichheit.4 Zudem sorgte ein ganzes Bündel an Umständen – verschiedene Sitten und Gebräuche, Apartheid-Gesetze, Einsatz physischer Gewalt – dafür, dass die beiden Welten generell doch getrennt blieben.

      In der festen Gewissheit, den Fortschritt zu bringen, stülpten die Europäer ihre eigenen Institutionen den unterworfenen Völkern über. Dies manifestierte sich anschaulich in kolonialen Gebäuden, die eine kuriose Mixtur aus mutterländischen und lokalen Stilen zeigten. Den Mittelpunkt einer kolonialen Verwaltungshauptstadt bildete gewöhnlich ein Gouverneurspalast wie etwa der in WindhoekWindhoek: eine strahlend weiße Konstruktion mit Verandas und Gartenanlagen, die sich für Administration und Repräsentation gleichermaßen eignete. Ebenso brauchten die neuen Herren Kasernen, denn man musste ja Militär und Polizei unterbringen, derer man zur Aufrechterhaltung der Ordnung bedurfte. Da die Kolonisatoren oft krank wurden, mussten sie Hospitäler bauen lassen, ausgestattet mit weißen Ärzten, denen schwarze Schwestern zur Hand gingen. Ferner gab es Kirchen, die sowohl die Kolonisatoren als auch die Frischkonvertierten seelsorgerisch zu betreuen hatten. Auch Schulen nach europäischem Muster wurden geschaffen, Lehranstalten aller Stufen, vom Primar- bis zum Sekundarbereich. Schließlich entstanden in gesundheitlich besonders unbedenklichen Gegenden Villen mit viel Grün drumherum; in ihnen wohnten die Weißen samt ihrer Dienerschar. Abseits des Trubels jener Städte, in denen die Einheimischen hausten, bildeten diese repräsentativen Bauten, Denkmäler des europäischen Lebensstils, eine Parallelwelt, in der sich Kolonisatoren und Kolonisierte kaum je begegneten.5

      Wie weit den Europäern der Zugriff gelang, hing von zweierlei ab: erstens vom Druck der imperialen Modernisierung, zweitens vom Entwicklungsstadium der lokalen Kultur. Gab es nur einige indigene Stämme, gelang den Kolonisatoren problemlos die komplette Inbesitznahme, und Versuche einer Rebellion wurden rasch zerschlagen. Eine solche »vollständige Abhängigkeit« charakterisierte Kolonien reinsten Wassers wie den belgischen KongoKongo und das portugiesische AngolaAngola. Wo höher entwickelte lokale Kulturen existierten, komplexere Religionen und stärker ausgebildete Formen politischer Organisation, war der europäische Einfluss begrenzter, sodass lokale Strukturen überlebten. Solche »halbautonomen« Regime oder Protektorate gab es in ÄgyptenÄgypten und MarokkoMarokko, obwohl sie formell zum britischen bzw. französischen Imperium gehörten. Wenn die indigene Bevölkerung eine lange Tradition der Unabhängigkeit und eine Kultur hohen Niveaus besaß, so hielten diese Faktoren die Kolonisateure davon ab, den ganzen Staat zu annektieren. Die Imperialisten konnten dann nur Landeköpfe an der Küste einrichten oder politischen Druck ausüben. Typische Beispiele eines solchen extrem lockeren imperialen Regiments waren ChinaChina und das Osmanische Reich.

      Die europäische Herrschaft fußte also auf einer komplexen Mischung aus imperialistischer Macht und lokaler Mitwirkung. Natürlich war militärische Stärke wichtig, namentlich zu Beginn, als man Eroberungen tätigte, und auch später, als man Revolten niederschlug – wichtig ja, aber nicht hinreichend, denn die Kolonien waren zu groß und die Besatzer zu wenige. Ihr Erfolg beruhte wohl hauptsächlich darauf, dass die europäischen Generäle, Administratoren und Pflanzer sich in bestehende Strukturen einfügten, vorherige Herrscher ersetzten oder für die neue Ordnung vereinnahmten, wobei sie die unteren Ebenen der Gesellschaft weitgehend unangetastet ließen. Dazu nutzten die Kolonisatoren auch Anreize: So vergaben sie Orden und Titel und teilten ein paar ihrer finanziellen Gewinne mit Einheimischen, um sie kooperationsbereiter zu machen. Wollte man militärische Sicherheit, administrative Kontrolle und ertragreiche ökonomische Nutzung der Kolonie, brauchte man lokale Arbeitskräfte auf den niederen Rängen, und die mussten in europäischen Verfahrensweisen geschult werden, damit sie effizient funktionierten. Die entstehende Kolonialgesellschaft war daher ein hybrides Reich, in dem Ausbeutung und rassische Ungleichheit herrschten, das aber gleichzeitig modernisierende europäische Einflüsse mit verbleibenden indigenen Traditionen verschmolz.

      Imperiale Visionen

      Über diese strukturellen Ähnlichkeiten hinaus entwickelten die großen europäischen Mächte konkurrierende imperiale Visionen. Wie die im Einzelnen ausfielen, hing ab von der Vergangenheit, der Politik und den Ressourcen des jeweiligen Landes. Das britische Empire, erfolgreich als Seemacht, besaß zu jener Zeit die ausgedehntesten Gebiete, denn es hatte schon im 17. Jahrhundert begonnen, sich Flächen anzueignen. Zwar erlebte es mit der amerikanischen Unabhängigkeit ein Debakel, holte sich aber immerhin die Kontrolle über Kanada zurück. Zudem konnte London neue Siedlungskolonien in Australien und Neuseeland eröffnen. Doch das »Kronjuwel« des Empire war der indische SubkontinentIndien – wegen seines ungeheuren Reichtums und der immens hohen Bevölkerungszahl winkten den Kolonisatoren dort große Profite. Um die imperialen Verkehrsverbindungen zu sichern, bemächtigte sich England in den 1880ern des SuezkanalsSuezkanal und warf die islamische Mahdi-Rebellion im SudanSusan nieder. Im »Wettlauf um Afrika« trieb London die »Kap-Kairo«-Vision voran: Von KapstadtKapstadt nach KairoKairo sollte eine Eisenbahnlinie gebaut werden, die durch aneinandergrenzende britische Besitztümer geführt und eine Nord-Süd-Achse gebildet hätte. Das Projekt wurde allerdings von den Portugiesen, Belgiern und Deutschen blockiert. Diese paradoxe Melange, in der ökonomische Ausbeutung, Rassenhochmut und humanitäre Rhetorik miteinander verschmolzen, trug trotz gewisser Widersprüche recht weit. Einerseits schaffte man den Sklavenhandel ab, andererseits betrieb man erfolgreich Eroberung und Unterwerfung – bis man in Territorien geriet, die schon Konkurrenten besetzt hielten.1

      In seiner Art, persönlichen Profit mit imperialen Ambitionen zu verbinden, war Cecil RhodesRhodes, Cecil ein typischer britischer Imperialist. Geboren 1853 in HertfordshireHertfordshire als Sohn eines Pfarrers, wurde er seiner schwachen Gesundheit wegen 1870 in die britische Kolonie NatalNatal (Südafrika) gesandt. Während seines späteren unregelmäßigen Studiums an der Universität Oxford verinnerlichte er gründlich das dort verbreitete Ethos des Empire. Zuerst war er recht erfolgreich als Obstfarmer tätig, doch sein eigentlicher Durchbruch kam mit der Gründung der Bergbaufirma De Beers Mining Company, die schließlich, unterstützt von der Familie Rothschild, den Diamantenmarkt beherrschen sollte. Als einer der wohlhabendsten englischen Geschäftsleute in Afrika wurde er Premierminister der Kapkolonie, in der er rassistische Gesetze einführte, die es ermöglichten, Schwarzen ihr Land wegzunehmen. Um die Herrschaft Großbritanniens über den ganzen Süden Afrikas auszudehnen, förderte er die Burenkriege, die das Empire gegen niederländische Siedlerrepubliken


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