Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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Entbehrungen auf sich, um deren Segnungen mit jenen Bedürftigen zu teilen. Im Gegensatz zu den Geschäfts- und Verwaltungsleuten, die doch vorwiegend als Ausbeuter agierten, gaben diese Altruisten dem Imperialismus ein menschlicheres Gesicht, was die Kritik an ihm weniger harsch ausfallen ließ.5

      Europäer, die wenig direkten Kontakt zum Imperium hatten, nahmen es meist bereitwillig hin, solange es mehr Nutzen als Kosten versprach. In den Metropolen gingen Wissbegierige schon einmal zu einem wissenschaftlichen Vortrag, lauschten einer Abenteuergeschichte oder bestaunten ausgestellte Exotika. Wesentlich höher war die Zahl derer, die Kolonialwaren für den täglichen Bedarf kauften, ohne sich groß um deren Herkunft zu kümmern. Wieder andere hörten sich politische Reden an, die neue einschlägige Erwerbungen und Errungenschaften priesen, oder lasen in der Zeitung Artikel über koloniale Themen – die Kolonien schienen ihnen durchaus interessant, aber weit weg. Oder sie wurden in der Kirche während eines Gottesdienstes um eine Spende für einen Missionsfonds gebeten. Generell produzierten diese geringfügigen Kontakte wohl die Empfindung, dass man zu etwas gehörte, das über den Nationalstaat hinausging, etwas Imperialem eben. Die Bereitschaft, für dieses Große auch Opfer zu bringen, schufen sie hingegen kaum. Die Europäer waren möglicherweise schon stolz, dass ihre Fahnen über ausländischen Besitztümern wehten, etwa über Frankreichs Überseegebieten (la France d’outre mer). Aber um sie davon zu überzeugen, dass die ganze Unternehmung aller Mühen wert sei, mussten Imperialenthusiasten einiges tun. Immerhin konnten selbst skeptische »Unterschichtler« daheim sich einreden, sie gehörten zu jener »Herrscherklasse«, die in den Kolonien das Sagen hatte.6

      Um die Jahrhundertwende wurden die kritischen Stimmen dann doch lauter, bis sie gar das gesamte koloniale Projekt in Frage stellten. Gewöhnlich lösten eklatante Vorfälle ökonomischer Spekulation und militärischer Brutalität sowie Korruptionsskandale in der Verwaltung solche Rügen aus. Befürworter des Freihandels fragten sich, ob der Handel nicht auch ohne politischen Gebietsbesitz zu florieren vermöge. Internationale Kommentatoren äußerten die Besorgnis, dass Interessenkonflikte zwischen imperialen Mächten – wie sie sich etwa bei der Konfrontation zwischen Sir Herbert KitchenerKitchener, Herbert und Major Jean-Baptiste MarchandMarchand, Jean-Baptiste manifestierten – zu einem Krieg innerhalb Europas führen könnten. Sprecher der aufstrebenden Arbeiterbewegung geißelten den imperialistischen Hurrapatriotismus, der nur von den Problemen daheim ablenke und von der Notwendigkeit, sich ihrer anzunehmen. Moralisten agitierten gegen gesundheitsschädliche Laster, die man aus den Kolonien importiert habe, wie den Konsum von Opium. Mitfühlende Beobachter wie Sir Roger CasementCasement, Roger prangerten die unmenschliche Behandlung der Eingeborenen im KongoKongo an – Klagen, die schließlich immerhin dazu führten, dass das Land dem belgischen König weggenommen wurde. Ferner hoben koloniale Intellektuelle die eklatante Diskrepanz zwischen den Bekenntnissen der Europäer zur Zivilität und ihrer Praxis hervor, die von rassistischen Vorurteilen und ökonomischer Ausbeutung gekennzeichnet war. Nach und nach kam das Imperium in Verruf.7

      Während seiner Glanzzeit war die »Kultur des Imperiums« nichtsdestoweniger stark genug, solche Attacken abzuwehren und sogar einen populären Imperialismus zu verbreiten, der in den Kolonien eine Belohnung sah, die den Europäern aufgrund ihrer Überlegenheit von Natur aus zukam. Um der Kritik entgegenzuwirken, erzeugten die imperialistischen Interessenverbände – namentlich die Ligen der Flotten, der Armeen und der Kolonisten – wahre Fluten von Propaganda. Plakate, Pamphlete und Reden priesen in rauen Mengen die Verdienste und Segnungen des Imperiums. Es bedurfte schon einer konzertierten Anstrengung, um der Kolonisierung des KongoKongo im Mutterland Popularität zu verschaffen, doch am Ende wurden die Belgier – außer den Sozialisten – tatsächlich stolze Imperialisten.8 Nicht minder zeigte sich das kulturelle Establishment von imperialistischen Ideen durchdrungen. Kinderbuchautoren spannen Abenteuergeschichten, Dramatiker ließen ihre Stücke in kolonialer Szenerie spielen, und Journalisten schrieben packende Reportagen. Dass sich die Organisation der Boy Scouts (Pfadfinder), gegründet 1907 von General Robert Baden-PowellBaden-Powell, Robert, so rasch international verbreitete, beweist, dass die Idee, Jungen imperialen Zwecken zuliebe ein quasi-militärisches Training angedeihen zu lassen, überall Anklang fand. Imperialistische Geisteshaltungen infizierten weite Kreise mit jener fatalen Mischung aus Nationalismus, Militarismus und Rassismus, die bald Europa selbst zerreißen sollte.

      Europäische Hegemonie

      Es ist gar nicht so einfach, sich heute rückblickend zu vergegenwärtigen, wie weit Europas Herrschaft über die Welt einmal gereicht hat, weil sie seither bis auf wenige Spuren zerstört worden ist. Doch um 1900 konnte jedes Schulkind, das eine Weltkarte betrachtete, sofort sehen, dass der Globus unterschiedlich eingefärbt war. Praktisch alle Territorien in Afrika, Asien und Australien standen unter der Kontrolle irgendeiner Macht; sogar ChinaChina sah man in Einflusssphären gegliedert. Während britische, französische, deutsche, belgische und italienische Kinder Namen und Hauptstädte ferner Dependancen auswendig lernen mussten, schwelgten Portugiesen und Spanier in Erinnerungen an ihre früheren Imperien. In IstanbulIstanbul, Sankt PetersburgSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) und WienWien wurden die Schüler stattdessen angehalten, entlegene Provinzen aufzulisten, Landstriche, in denen verschiedene ethnische Gruppen lebten und seltsame religiöse Praktiken ausübten.1 Das sensationelle Gefühl, sich immer neue Territorien anzueignen, riss selbst Nachzügler, namentlich die Vereinigten StaatenVereinigte Staaten und JapanJapan, in den Wettlauf mit. So entstand rings um den Globus ein System konkurrierender Imperien, deren Zentrum in europäischen Staaten lag und die gleichzeitig nationalen wie imperialen Status hatten.

      Die Ausdehnung des europäischen Imperialismus bis 1914

      Die dynamische Kraft, die diesen neuen Imperialismus antrieb, indem sie die psychologischen, technischen und organisatorischen Voraussetzungen für die Expansion schuf, war die europäische Modernisierung. Wissenschaftliche Neugier stachelte die Forscher zu Entdeckungen an, und technologischer Erfindergeist entwickelte das Dampfschiff, den Telegrafen und das Maschinengewehr, was Verkehr, Kommunikation und Herrschaftsausübung über weite Strecken ermöglichte. Die Hoffnung auf Profite motivierte Investitionen im Ausland, und die Akkumulation von Kapital finanzierte waghalsige imperiale Unternehmungen. Streben nach Beförderung motivierte Einzelne, in den Kolonien zu dienen oder auf Dauer auszuwandern; Gesetze garantierten dort die weiße Überlegenheit. Dass eine effiziente Form gouvernementaler Organisation entstand, als die der Nationalstaat galt, war von entscheidender Bedeutung für die politische Umsetzung imperialer Träume. Schlagkräftiges Militär mit neuen technischen Waffensystemen wurde gebraucht, um Territorien zu erobern und zu halten, während eine effiziente Bürokratie die imperialen Gebiete verwaltete. Blieben auch die symbolischen Insignien und der äußere Dekor des Imperialismus neofeudal – die Quellen der Wirkmacht des Metropolitanen waren eindeutig modern.2

      Die sich nun anschließende Europäisierung der Welt war daher eine ungleiche Form von Modernisierung, da sie mit einer Mischung aus Zwang und Anreizen die Kolonien transformierte. Wissenschaftliche Vorstöße, ökonomische Ausbeutung, koloniale Besiedelung und politische Kontrolle – all dies erforderte eine Infrastruktur, zu der Häfen, Eisenbahnlinien, Plantagen, Bergwerke und Märkte ebenso gehörten wie Verwaltungszentren nach europäischem Vorbild. Ferner verlangte die Ausbeutung der lokalen Arbeitskräfte eine soziale und kulturelle Transformation der indigenen Bevölkerung. Man vermittelte den Einheimischen Grundkenntnisse in Lesen und Schreiben, aber ebenso Arbeitsdisziplin, verbreitete Hygienebewusstsein unter ihnen und predigte ihnen nicht zuletzt das Christentum. In diesem Zusammenhang attackierte die westliche Moderne gleich auf mehreren Ebenen, was zur Folge hatte, dass traditionelle Weltsichten wie Verhaltensformen verdrängt, bestehende soziale Gebräuche und Hierarchien aufgelöst sowie die kolonisierten Völker zutiefst irritiert wurden. Denn die Moderne kam gewaltsam und repressiv daher; sie ließ ihnen kaum eine andere Wahl, als sich zu fügen. Doch einige der importierten Veränderungen boten ihnen auch den Zugang zu Wissen und Kultur der Europäer; so lernten sie Ideologien und Techniken kennen, deren frustrierte koloniale Intellektuelle sich später bedienen sollten, um gegen die metropolitane Herrschaft vorzugehen.3

      Auch Europa selbst wurde durch den Imperialismus gründlich transformiert. Dort schien es sich freilich eher um eine segensreiche Form der


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