Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


Скачать книгу
blieben die sterilen Argumente der gegenseitigen Schuldzuweisung in einem legalistischen Moralismus gefangen.

      Die »krasse Modernität«, die sich in der Julikrise offenbart, legt eher nahe, die Frage umzukehren, d. h. schwerpunktmäßig nicht mehr zu untersuchen, warum der Krieg ausbrach, sondern, weshalb der Frieden zusammenbrach. Zwar hatte friedliche Kooperation gewisse Bindungen geschaffen, doch als diese im Sommer 1914 durch eine schwere Konfrontation auf die Probe gestellt wurden, erwiesen sie sich als zu schwach, um Europa einen Krieg zu ersparen. Die bellizistischen Tendenzen gewannen schließlich die Oberhand, weil die wachsende Feindseligkeit zwischen den Nationen die kooperativen Perspektiven verdrängte. Stattdessen legitimierte man lieber den Kampf um bestimmter Ziele willen, die nur mit militärischer Gewalt erreicht werden konnten. Eine Reihe immer heftigerer internationaler Krisen hatte zwischen dem Dreibund und der Entente das Bewusstsein eines so krassen Antagonismus geschaffen, dass den Beteiligten Kompromissbereitschaft als ein Zeichen von Schwäche erscheinen musste. Und so trafen die Führer der Großmächte eine Reihe desaströser Entscheidungen, die eine lokale Querele auf dem BalkanBalkan in mehreren Stufen eskalieren ließen: erst ein serbisch gesteuertes Attentat, dann eine österreichische Strafaktion und am Ende ein kontinentaler Krieg zwischen Deutschland, Russland und Frankreich, der schließlich auch noch England, die Türkei und JapanJapan in den Konflikt mit hineinzog.5 Statt einen Fortschritt in Frieden zu garantieren, entwickelte die Moderne eine negative Dynamik und trug dazu bei, einen Weltkrieg zu entfesseln.

      Bande des Friedens

      Inspiriert von Immanuel Kant,Kant, Immanuel konnten um das Jahr 1900 Optimisten, die an den Fortschritt der Zivilisation glaubten, auf den wachsenden Internationalismus verweisen, der die europäischen Länder immer enger zusammenführte. Dass man beispielsweise Eisenbahnlinien errichtet und Telegrafenleitungen gespannt hatte, erleichterte das Reisen und das Kommunizieren von Nation zu Nation. Die größeren Städte des Kontinents hatten intensiveren Kontakt als je zuvor. Gleichzeitig wurden Maße und Gewichte standardisiert. Fast weltweit übernahm man das Meter, das Kilogramm und die Celsius-Skala. Auch die Zeitmessung erfuhr eine Neuordnung, denn nun galt die Mittlere Greenwich-Zeit als Richtschnur – all diese Maßnahmen schufen einen gemeinsamen Nenner der Zivilisation. Ferner entstanden internationale Organisationen mit nationalen Unterabteilungen wie das Rote Kreuz, die es erlaubten, spezifische Probleme über Ländergrenzen hinweg anzugehen. Diese Bemühungen betrafen die gesamte zivilisierte Welt, ihre Basis lag aber hauptsächlich in Europa, teilweise auch in den Vereinigten StaatenVereinigte Staaten. Ausgeschlossen blieben freilich die Kolonien.1 Hoffnungsvollen Beobachtern mochte es daher scheinen, dass die Modernisierung den Kontinent in hoher Geschwindigkeit zusammenwachsen lasse.

      Traditionelle Verflechtungen gab es auch während der letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts dadurch, dass die europäischen Monarchen eng miteinander verwandt waren. Für die kontinentale Aristokratie hatte es nichts Ungewöhnliches, Souveränen verschiedener Nationalitäten zu dienen, das taten sie seit jeher. Gekrönte Häupter wiederum neigten dazu, untereinander zu heiraten. Als Enkel Königin VictoriasVictoria I sehnte sich der deutsche Kaiser Wilhelm II. Wilhelm II.geradezu nach sozialer Anerkennung seitens seiner britischen Verwandten. War eine neue Monarchie zu etablieren, etwa in Griechenland, fand sich stets ein unbedeutender deutscher Prinz, der gern die Krone übernahm. Als sich die Politik aber immer nationalistischer ausrichtete, was sich in der neu aufgekommenen Massenpresse niederschlug, mussten die königlichen Familien sich quasi nationalisieren, z. B. indem sie die Landessprache lernten oder gar ihren ursprünglichen Namen änderten. So wurde aus Sachsen-Coburg-Gotha etwa Windsor. Familientreffen und Staatsbesuche boten den Monarchen reichlich Gelegenheit, nicht nur Höflichkeiten auszutauschen, sondern auch substanzielle politische Probleme zu besprechen, sehr zum Kummer ihrer Berater. Während die östlichen Höfe das gemeinsame Anliegen verband, die autokratische Herrschaft zu verteidigen, begannen die divergierenden geopolitischen Interessen ihre praktische Kooperation zu erschweren.2

      Das explosive Wachstum des internationalen Handels baute eine weitere Brücke zwischen den europäischen Ländern. Während des ganzen 19. Jahrhunderts vergrößerte sich das Volumen des Welthandels um das 43fache; allein in den zwei Jahrzehnten vor dem Krieg verdoppelte es sich! Diese atemberaubende Expansion lag an der Industrialisierung, die vom Vereinigten Königreich auf den Kontinent übergriff und die Warenproduktion zwischen 1800 und 1900 um das 33fache steigen ließ. Anders als die imperialistische Propaganda verhieß, fand der Handel mit Massenprodukten aber zu über 75 Prozent zwischen den entwickelten Ländern statt, nicht zwischen den Metropolregionen und deren Kolonien.3 Um Transaktionen zu erleichtern, schufen Kaufleute Verbindungen über Grenzen hinweg, indem sie etwa ihre Söhne ins Ausland schickten, wo sie neue Geschäftsmethoden lernen sollten, oder dort Filialen ihrer Firma gründeten. Besonders erfolgreich mit einer solchen Verflechtungsstrategie war das Haus Rothschild, das von einer jüdischen Bankiersfamilie aus FrankfurtFrankfurt am Main zu einem führenden Finanznetzwerk mit weiteren Sitzen in Paris und London aufstieg.4 Solche Kontakte schufen eine transnationale Geschäftswelt, die in europäischen oder gar in globalen Maßstäben dachte.

      Die erfolgreiche Entwicklung des Handels machte internationale Kooperation auch auf einem anderen Gebiet notwendig, nämlich bei der Einrichtung eines rechtlichen und organisatorischen Rahmens für transnationale Aktivitäten. So engagierten sich die Europäer besonders, als Weltpostverein und Internationaler Telegrafenverein gegründet wurden; dank ihnen konnten Briefe und Telegramme nun über die Grenzen gehen. Nach komplizierten Verhandlungen vereinbarten die kontinentalen Regierungen außerdem, die Unantastbarkeit kommerzieller Verträge zu respektieren, da diese lebenswichtig für den Handel waren. Ebenso bemühten sie sich um den Schutz des geistigen Eigentums und beschlossen Copyrightregelungen, aufgrund derer nun auch Bücher international verkauft werden konnten. Andere Vereinbarungen betrafen die Migration: Man wollte Leute mit Vermögen hereinlassen, unerwünschte Arme jedoch fernhalten. Also drängten die Regierungen auf ein internationales Passwesen und auf die Formulierung von Niederlassungsrechten und -pflichten für Ausländer. Auch das Benutzen von Seen, Flüssen und Kanälen fanden sie regelungsbedürftig und beriefen entsprechende Kommissionen ein.5 Für diese praktischen Angelegenheiten entwickelten die europäischen Staaten einen Korpus internationalen Rechts, der den friedlichen Austausch erleichterte.

      Daneben entstand, eher spontan, eine Bruderschaft der Künste, gebildet aus Malern und Komponisten, die in Europa eine kulturelle Avantgarde formierten. Da die Sprachen der Kunst und der Musik universell zugänglich waren, spielten nationale Schranken keine Rolle. Die Freiheit und die stimulierende Atmosphäre der metropolitanen Zentren zogen Künstler aus dem ganzen Kontinent an. Beispielsweise ging der spanische Maler Pablo PicassoPicasso, Pablo nach ParisParis und der böhmische Komponist Gustav MahlerMahler, Gustav nach WienWien. »Kunst kennt kein Vaterland«, glaubten die kreativen Innovatoren jener Jahre, und so nutzten sie die Gelegenheit, neue Stile, etwa abstrakte Malerei oder Zwölftonmusik, von einer Hauptstadt zur anderen weiterzureichen. Offizielle, aber auch unabhängig organisierte Ausstellungen, Darbietungen in etablierten Konzerthallen oder an unautorisierten Orten hielten sowohl die Fachwelt als auch das große Publikum auf dem Laufenden. Kritiken in Zeitungen schufen ebenfalls eine internationale Debatte, bei der die Herkunft der besprochenen Werke und Urheber keine Relevanz besaß. Ein internationaler Kunstmarkt und internationale Konzertagenturen organisierten diesen Austausch. Viele der Künstler und Musiker, die ihren Durchbruch noch nicht geschafft hatten, führten zudem ein Bohème-Leben, für das die Nationalität gleichgültig war.6

      Ein weiterer Bereich wachsender transnationaler Kooperation zwischen den Ländern Europas war die wissenschaftliche Forschung. Zwar wollten Institutionen wie das Deutsche Museum in MünchenMünchen auch nationale Leistungen präsentieren, doch um den Wert wissenschaftlicher Entdeckungen und technischer Innovationen zu beurteilen, war man auf internationale Begutachtung angewiesen. Dank disziplinärer Spezialisierung und akademischer Professionalisierung entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine internationale Gelehrtengemeinschaft, die eifrig bestrebt war, Informationen auszutauschen. Die Bildung nationaler Forschungsgesellschaften mit eigenen Zeitschriften und Tagungen zog nach sich, dass internationale Körperschaften, Organisationen und Kongresse ins Leben gerufen wurden. Dort konnten Wissenschaftler sich zusammenfinden und ihre Resultate einer größeren Öffentlichkeit präsentieren. Obwohl die finanzielle Förderung solcher Institutionen aus staatlichen oder philanthropischen


Скачать книгу