Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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wie nun immer deutlicher wurde. Ungut war, wenn man während einer Krise tüchtig polterte und schwadronierte, das Ergebnis das Publikum dann aber enttäuschte; in dem Fall blieb nämlich selbst noch nach dem Erreichen einer Lösung ein Quantum an Feindseligkeit zurück, das die Bereitschaft der Kontrahenten minderte, sich beim nächsten Mal wieder auf einen Kompromiss einzulassen. Außerdem bedurfte eine Vereinbarung eines mediatorischen Mechanismus, sei es eine internationale Konferenz oder die Vermittlung durch eine oder mehrere unbeteiligte Mächte. Derlei Verhandlungen brachen jedoch zusammen, wenn eine Partei sich weigerte, ins Gespräch zu treten, oder wenn die potenziellen Vermittler selbst in den Konflikt verwickelt waren. Die Häufung der Krisen, die sich in den letzten Jahren vor dem Kriege entwickelten, trug wesentlich dazu bei, dass zwei antagonistische internationale Allianzen entstanden und sich die Fronten zwischen ihnen verhärteten.1

      Das imperiale Deutschland rückte nun ab von Bismarcks kompliziertem diplomatischen System und vollführte überstürzt eine »diplomatische Revolution«, die es am Ende isolieren sollte. Bedacht, als Teilnehmer eines Zusammenspiels von fünf Großmächten immer Teil eines Trios zu sein, hatte der Eiserne KanzlerBismarck, Otto von den Zweibund mit Österreich-Ungarn durch ein Geheimabkommen mit Russland ergänzt. Mit diesem sogenannten Rückversicherungsvertrag hoffte er, das nach Vergeltung strebende Frankreich in Schach zu halten, während sich England seiner splendid isolation erfreute. Der junge Kaiser Wilhelm II. Wilhelm II.wollte sich der Vormundschaft dieses vorsichtigen, freilich nicht immer ehrlichen Staatsmanns entwinden und eine »Weltpolitik« auf See betreiben. Der neue Kanzler wiederum, Georg Leo Graf von CapriviCaprivi, Georg Leo von, strebte einen kontinentalen Handelsblock unter Ausschluss des Russischen Reiches an. Das französische Kabinett witterte eine Chance: In der Hoffnung, das verlorene Elsass-Lothringen wiederzubekommen, bot es der zaristischen Regierung ein Bündnis an. Dass Letzterer der Sinn danach stand, ließ sich vermuten, denn es hatte Russland tief getroffen, dass Deutschland den genannten Pakt nicht verlängern mochte. Das Zarenreich war zudem zornig darüber, dass es auf dem BalkanBalkan von Österreich blockiert wurde. 1892 gebar diese eigenartige Zweckehe dann die Französisch-Russische Allianz, was wiederum Zwietracht in den Kontinent brachte.2

      Dass 1904 England und Frankreich die dramatische Faschoda-Krise beilegten, indem sie die Entente cordiale gründeten, war ein weiterer Schritt hin zur Polarisierung. Blicken wir zurück: September 1898 gerieten der französische Major Jean-Baptiste MarchandMarchand, Jean-Baptiste und sein kleines Truppenkontingent nahe der Stadt FaschodaFaschoda, gelegen am Oberlauf des Nils im SudanSudan, mit einer kampfkräftigen Flottille britischer Kanonenboote aneinander, die Sir Herbert KitchenerKitchener, Herbert befehligte. Hintergrund des Zusammenstoßes war, dass sich in Afrika die Expansionspläne der beiden Nationen ins Gehege kamen. Frankreich wollte einen kohärenten West-Ost-Gürtel von SenegalSenegal bis SomaliaSomalia, doch das kollidierte mit dem britischen Vorhaben eines kolonialen Süd-Nord-Gürtels vom KapKap der guten Hoffnung bis KairoKairo, wie SüdafrikasSüdafrika Premierminister Cecil RhodesRhodes, Cecil ihn propagierte. Kaum wurde die Konfrontation bekannt, heulte in beiden Ländern die Presse laut auf, französische und britische Politiker beschimpften sich wüst; LondonLondon und ParisParis gerieten an den Rand eines Krieges. Aber um den britischen Beistand gegen Deutschland zu gewinnen, gab Außenminister Théophile DelcasséDelcassé, Théophile bestimmte französische Ansprüche auf und begann Verhandlungen über die kolonialen Streitigkeiten. Die schließlich erzielte Vereinbarung gab den Briten freie Hand in ÄgyptenÄgypten, und MarokkoMarokko ging an Frankreich über. Dadurch änderte sich die »geistige Haltung« der beiden Länder zueinander grundlegend.3

      Die Erste Marokkokrise 1905/06 zementierte die Frontenstellung Entente vs. Zweibund in Europa. Verstimmt darüber, dass Frankreich dieses Land einfach klammheimlich annektiert hatte, protestierte Berlin und forderte, für die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands müsse es dort weiterhin eine »offene Tür« geben. Um herauszufinden, ob die englisch-französische Kooperation wirklich schon eine starke Bindung sei, sandte Reichskanzler Bernhard von BülowBülow, Bernhard von Kaiser Wilhelm II. Wilhelm II.nach TangerTanger. Dort hielt der deutsche Monarch eine Rede, in der er für die Unabhängigkeit MarokkosMarokko eintrat. Diese demonstrative Provokation verärgerte die Öffentlichkeit in ParisParis und in BerlinBerlin so sehr, dass beide Kontrahenten zum Krieg mobilmachten. Die Situation entspannte sich schließlich, als die französische Führung den überforschen DelcasséDelcassé, Théophile zwang, sein Außerministeramt niederzulegen, und einer internationalen Konferenz in Algeciras zustimmte. Doch dank der wirksamen Diplomatie Frankreichs fand sich Deutschland unter den Teilnehmern isoliert; allein Österreich-Ungarn stellte sich auf seine Seite. BerlinBerlin musste daher einen gesichtswahrenden Kompromiss akzeptieren: Nicht ganz MarokkoMarokko, sondern nur die marokkanische Polizei solle unabhängig bleiben.4 Das deutsche Muskelspiel erwies sich als gescheitert, denn es festigte die englisch-französische Kooperation, ja mehr noch: Es motivierte Russland, seine kolonialen Unstimmigkeiten mit den Briten vertraglich aus der Welt zu schaffen und 1907 der Entente beizutreten.

      Die Annexion Bosnien-Herzegowinas durch Österreich am 6. Oktober 1908 spannte die internationale Situation weiter an. Der Berliner Vertrag von 1878 hatte WienWien zwar erlaubt, diese osmanische Provinz zu besetzen – als Gegenleistung dafür, dass es im Russisch-Türkischen Krieg neutral geblieben war. Doch brachte 1903 ein Staatsstreich in BelgradBelgrad eine nationalistische Dynastie an die Macht, die mit russischer Unterstützung für ein Groß-Serbien agitierte. Um die Spannungen beizulegen, schloss der russische Außenminister Alexander IswolskiIswolski, Alexander eine vorläufige Übereinkunft mit dem österreichischen Außenminister Graf Alois von AehrenthalAehrenthal, Alois von: WienWien dürfe das Territorium annektieren und Bulgarien seine Unabhängigkeit erklären. Im Gegenzug werde Österreich Russland bei dessen Bestreben unterstützen, ein exklusives Recht auf Durchfahrt durch die maritime Ausgangspforte des Schwarzen Meeres, den Bosporus, zu erhalten. Letzteres konnte aber nicht in die Tat umgesetzt werden, weshalb Russland seine Zustimmung zur Annexion zurückzog, Österreich indes beharrte auf der Einverleibung, was nun zu massiver öffentlicher Erregung in Russland und Serbien führte. Um die Spannungen zu beenden, richtete das Deutsche Reich eine kaum verblümte Drohung an Sankt Petersburg Sankt Petersburg (Leningrad, Petrograd): Akzeptiere Russland den fait accompli nicht, würden die Dinge ihren Lauf nehmen; Deutschland, so das bekannte Diktum des Kanzlers von BülowBülow, Bernhard von, stehe in »Nibelungentreue« zu Österreich.5 Sankt PetersburgSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) sah sich zum Nachgeben gezwungen, was die Beziehungen zwischen ihm und den Regierungen in BerlinBerlin bzw. WienWien dauerhaft verschlechterte.

      Der Kaiser wiederum unternahm einen Versuch, die englisch-deutschen Beziehungen zu verbessern, der ironischerweise gerade das Gegenteil bewirkte. Ende Oktober 1908 erschien im LondonerLondon Daily Telegraph ein Interview mit Wilhelm II. Wilhelm II., das der britische Journalist Stuart WortleyWortley, Stuart aus mehreren privaten Gesprächen mit dem Kaiser zusammengestellt hatte. WilhelmWilhelm II. ließ sich die Version vorab aushändigen und leitete sie an Kanzler von BülowBülow, Bernhard von zum Gegenlesen weiter. Wir wissen bis heute nicht, ob Letzterer, der gerade an der NordseeNordsee urlaubte, den Text vor der Freigabe wirklich gelesen hat. Die britische Öffentlichkeit reagierte jedenfalls anders als erhofft. Befremdet und empört nahm sie zur Kenntnis, wie der KaiserWilhelm II. seine Freundschaft gegenüber England betonte, wie er damit prahlte, im Burenkrieg erfolgreich vermittelt zu haben, und wie er behauptete, der forcierte deutsche Flottenbau richte sich keineswegs gegen die Royal Navy. Nun entluden sich all die Friktionen, die sich über die Jahre zwischen den beiden Nationen angesammelt hatten, auf englischer Seite in einem Sturm des Protestes. Auf deutscher wiederum war die Öffentlichkeit erzürnt, dass ihr MonarchWilhelm II. so wenig diplomatisches Taktgefühl besaß, und der ReichskanzlerBülow, Bernhard von drohte mit Rücktritt. Der geläuterte KaiserWilhelm II. mischte sich danach zwar seltener in die Außenpolitik ein, aber die englisch-deutschen Beziehungen waren nun einmal beschädigt.6

      Die Zweite Marokkokrise von 1911 isolierte Deutschland weiter. BerlinsBerlin Gepolter drängte LondonLondon in noch engere Kooperation mit ParisParis, und die Lösung der Krise enttäuschte den kriegsversessenen Teil der heimischen Öffentlichkeit. Den äußeren Anlass der Zuspitzung lieferte die französische Inbesitznahme von FezFez und RabatRabat, die vorgeblich dem Sultan Hilfestellung gegen lokale Rebellen leisten sollte. BerlinBerlin hatte eigene Interessen in und an MarokkoMarokko, und um diese wenigstens in anderen Teilen


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