Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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wie der österreichische Generalstabschef Conrad von HötzendorfHötzendorf, Conrad von bellizistischer dachten, überlegten selbst manche Generäle wie sein deutscher Kollege Helmuth von MoltkeMoltke, Helmuth von es sich zweimal, bevor sie sich zum Krieg entschlossen. Die entscheidende Rolle spielten eher die Zivilisten an der Spitze, so Nikola PašićPašić, Nikola in Serbien, Graf Leopold von BerchtoldBerchtold, Leopold von in Österreich, Sergej SasonowSasonow, Sergej in Russland, Theobald von Bethmann HollwegBethmann-Hollweg, Theobald von in Deutschland, Raymond PoincaréPoincaré, Raymond in Frankreich und Sir Edward GreyGrey, Edward in England. Sie waren weder »Schlafwandler« noch »Fatalisten«, sondern erfahrene Politiker und Diplomaten, die die Interessen ihrer eigenen Nation auf Kosten des gesamten übrigen Kontinents verfolgten.10 Sie verstanden nicht vollständig, welch blutige Konsequenzen die Entscheidungen hatten, die sie gerade trafen, und empfanden nicht genügend Verantwortung für das Ganze, um sich zu Kompromissen bereitzufinden.

      Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs war also weder Unfall noch Zufall, sondern das Ergebnis eines Eskalationsprozesses, der einen begrenzten regionalen Zusammenstoß zu einem generellen globalen Konflikt ausweitete. Mindestens drei verschiedene Ebenen sind auseinanderzuhalten: Am Anfang stand die serbisch-österreichische Konfrontation, zu der es kam, weil die bosnischen Serben sich von der Herrschaft der Habsburger befreien wollten. Aus dieser Querele ergab sich ein kontinentaler Streit um die Hegemonie über die europäische Halbinsel, der sich entspann zwischen dem Zweibund – Deutschland und Österreich – auf der einen und der französisch-russischen Allianz auf der anderen Seite. Schließlich weitete sich dieser Kontinentalkrieg aus zu einem maritimen und kolonialen Weltkrieg zwischen den Mittelmächten samt osmanischen Verbündeten hier und den Briten und Japanern dort. Die Allianzen schienen festgefügt. Nur Italien löste sich aus dem Dreibund, um im Frühjahr 1915 zur Entente überzutreten.11 Nicht ein bestimmtes Land trug die Hauptverantwortung, sondern der Konflikt verbreitete und verschlimmerte sich schrittweise durch eine Abfolge einzelner Entscheidungen, die durch spezifische nationale Interessen motiviert waren. Da es weder übergreifende Institutionen noch Empfinden einer gemeinsamen Verantwortung gab, trieben diese Entschlüsse Europa unaufhaltsam in den Krieg.

      Ironischerweise hat, auf lange Sicht betrachtet, keine der Kriegsparteien ihre Ziele erreicht. Zwar verwirklichte sich der serbische Traum von einem größeren südslawischen Staat in der Gründung Jugoslawiens, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zerfiel dieses aber wieder. Das verzweifelte Hasardspiel, das die Doppelmonarchie retten sollte, ergab das genaue Gegenteil des Gewollten: Namentlich im Osten lösten sich Völkerschaften aus dem Kaiserreich Österreich-Ungarn und wurden autonom, so dass es schon nach dem Ersten Weltkrieg aufhörte zu existieren. Die russische Hoffnung, den BalkanBalkan zu dominieren und Zugang zum Mittelmeer zu erlangen, war mit der eigenen Revolution vereitelt. Letztere führte in die sowjetische Sackgasse, was das Land für Dekaden von freiheitlichen Entwicklungen abschnitt. Die Absicht der Deutschen, die Mitte des Kontinents zu beherrschen, hatte besonders desaströse Konsequenzen: Sie brachte einen zweiten, noch blutigeren Krieg, begleitet von einem völkermörderischen Holocaust, und anschließend die jahrzehntelange Teilung des Landes. Die Franzosen waren immerhin insofern erfolgreich, als sie Elsass-LothringenElsass-Lothringen zurückbekamen, doch dafür bezahlte die Nation mit einer Niederlage im Zweiten Weltkrieg und verlor ihren Großmachtstatus. Sogar die Briten, obwohl in beiden Weltkriegen Sieger, vermochten ihr Empire nicht zu halten und mussten erleben, wie die Vereinigten Staaten an ihnen vorbeizogen.12 Wären die führenden Politiker Europas in der Lage gewesen, diese Ergebnisse vorherzusehen, hätten sie sich ihre verhängnisvollen Entscheidungen wohl gründlicher überlegt.

      Kriegsgründe

      Da die Einwirkung der Modernität auf die Transformation der internationalen Beziehungen theoretisch noch nicht genügend reflektiert wurde, stoßen die meisten Erklärungen für den Kriegsausbruch 1914 nicht zu den tieferen Ursachen vor. Adam SmithsSmith, Adam Postulat des äußeren Friedens, das wertvolle Hinweise liefern könnte, scheint die Modernisierungstheorie unserer Zeit vergessen zu haben. Sie stützt sich hauptsächlich auf innenpolitische Faktoren, etwa wirtschaftliche Entwicklung, soziale Mobilisierung, Experimente in Kultur und Lebensstil und Demokratisierung, wohingegen von Zustand und Fortgang der internationalen Ordnung seltener die Rede ist. Aber wird diese Dimension erforscht, stehen sich zwei Denkschulen gegenüber: Historisch orientierte Juristen betonen häufig die Rolle des internationalen Rechts als »sanfter Zivilisator«. Als Mittel, um die Kooperation zwischen den Nationen auszubauen, regele es deren Interaktion mit bindenden Vereinbarungen und schlichte Konflikte durch Schiedssprüche.1 Neorealistische Theoretiker der internationalen Beziehungen zeigen sich jedoch skeptisch, was die Chancen des Friedens angeht, da souveräne Staaten beim Verfolgen ihrer Interessen innerhalb eines Wettbewerbssystems den Einsatz von Gewalt nicht scheuen würden – jedenfalls, solange eine zentrale, übergreifende Autorität fehle. Beide Ansätze können, jeder auf seine Weise, Licht in die Frage bringen, warum der Erste Weltkrieg ausbrach.2

      Vor 1914 hatte die Entwicklung des internationalen Rechts durchaus einige Fortschritte gemacht, aber dieses Mehr an Kooperation erwies sich als noch zu schwach, um die Großmächte vom Griff zu den Waffen abzuhalten. Doch immerhin: Wenn Staaten gemeinsame Interessen hatten, wie bei der Post- und Telegrammzustellung, erleichterten ihnen internationale Vereinbarungen die Kommunikation. Stellten sich transnationale Probleme ein, etwa die Versorgung von Verwundeten auf einem Schlachtfeld, leisteten Organisationen wie das Rote Kreuz ihre Dienste ohne Ansehen der Nationalität. Trotz aller Skepsis, die ihnen entgegenschlug, gelang es den an den Haager Konferenzen Beteiligten, Regeln für den Krieg zu Lande und zur See aufzustellen. Wurde der Gebrauch von Gewalt begrenzt, diente das schließlich allen Parteien eines bewaffneten Konflikts.3 Letzten Endes aber glaubten die Nationen, der Frieden könne nur gewahrt werden, indem man potenzielle Gegner von einem Angriff abschreckte und sich der Hilfe mächtiger Verbündeter versicherte. Allianzen stabilisierten zwar kurzfristig das System, langfristig bewirkten sie aber, dass schlicht noch mehr Länder in einen Konflikt hineingezogen wurden. Es erwies sich, dass die Instrumente der diplomatischen Verhandlungen, der Vermittlung und Konfliktlösung durch internationale Konferenzen noch nicht stark genug waren, um die Kooperation am Leben zu halten.

      So betrachtet agierten die europäischen Staatsmänner 1914 eher gemäß der neorealistischen Sichtweise, denn sie handelten eigennützig nur im Interesse des Landes, das sie regierten, und scherten sich wenig um das Wohl des Ganzen. Die Ideologie des Nationalismus stellte das Voranbringen der eigenen Sache über alles und teilte die Welt in gefährliche Feinde, die man bekämpfen, und potente Freunde, die man umwerben musste. Gleichzeitig betrachteten die militaristischen Denker den Krieg nicht nur als legitimes Mittel der Politik, sondern auch als zum Verfolgen der eigenen Ziele notwendiges Instrument. In allen Ländern frönten die Generäle einem »Kult der Offensive«, denn sie glaubten – und überzeugten auch die zivile Führung davon –, dass, wer den Sieg wolle, Angriffsstrategien brauche, und sei es nur, um sich wirksam verteidigen zu können. Schließlich erklärte das weitverbreitete Konzept des Sozialdarwinismus internationale Beziehungen zu einem Kampf, in dem die starken Nationen überleben und die schwachen zertreten werden würden.4 Mit solchen »stillschweigenden Voraussetzungen« im Hinterkopf waren damalige Staatsmänner zur Kooperation nur bereit, wenn sie ihre Interessen beförderte, und sie empfanden wenig Verantwortung für den Kontinent im Ganzen.

      Im Gegensatz zu früheren Konfrontationen konnte die Julikrise nicht mehr gewaltlos beigelegt werden, weil alle involvierten Regierungen den Krieg bewusst riskierten. Jahrzehntelang hatte Frieden geherrscht, und die Gefahr, dass man einander angreifen werde, mutete so gering an, dass es keiner Seite notwendig erschienen war, zugunsten der Kooperation Opfer zu bringen. Jede Nation hegte Ziele – betrafen sie nun Landesverteidigung, politische Vergeltung oder territoriale Gewinne –, die sie nur erreichen konnte, wenn sie ihre Feinde einschüchterte und ihnen mit Angriff drohte. Alle Staaten hatten Angst nachzugeben, denn das wäre von ihren vermutlichen Feinden als Zeichen der Schwäche gedeutet worden – und von ihren eigenen Untertanen ebenfalls.5 Da England und Deutschland nun auf zwei verschiedenen Seiten standen, waren zudem keine Akteure mehr übrig, die erstens neutral, zweitens vermittlungsbereit und drittens stark genug gewesen wären, um den Streithähnen ihre Verhandlungslösung zu oktroyieren. Als es zur finalen Entscheidung kam, hielten die europäischen Staatsmänner und Generäle die Vorteile, die ihnen der Krieg bieten könnte,


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