Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


Скачать книгу
uneinnehmbar. Daher sah sich der italienische Feldmarschall Luigi CadornaCadorna, Luigi gezwungen, seine Attacke über den Isonzo-Fluss zu führen. Den habsburgischen Verteidigern kam nun zugute, dass sie eine bessere Artillerie besaßen und genügend Soldaten aus Serbien abziehen konnten, um einer Serie italienischer Offensiven standzuhalten.7 Die Eröffnung einer neuen Front in Südeuropa bewirkte letztlich nur, dass noch mehr Blut floss.

      Der Bewegungskrieg, mit dem der Waffengang begann, brachte also keineswegs, wie vielfach geglaubt, eine militärische Entscheidung bis Ende 1914. Keine Seite siegte oder unterlag entschieden genug, um das Einstellen der Kampfhandlungen zwingend zu machen. Bei den Mittelmächten wurden die Vorteile der Deutschen – taktische Effizienz und soldatische Disziplin – konterkariert durch die Schwäche des multiethnischen österreichischen Verbündeten. Bei der Entente wiederum blieben hohe Kopfzahlen und materielle Überlegenheit wirkungslos, weil ihre Feldzüge schlecht koordiniert waren. All die sorgfältig entwickelten strategischen Pläne scheiterten, weil sie den Akzent auf die Offensive setzten. Von ihr versprach man sich einen raschen, eindeutigen Sieg, durch den sich ehrgeizige Kriegsziele am ehesten erreichen ließen. Von einer defensiven Haltung wollte man wenig wissen; dabei war gerade sie militärisch effektiver und politisch leichter durchzuhalten. Das Ergebnis: Alle Armeen verloren fast die Hälfte ihrer ursprünglichen Mannstärke; die nicht mehr Einsatzfähigen waren entweder tot, verwundet oder gefangen. Die Mittelmächte hatten zwar fast ganz Belgien und große Teile NordfrankreichsNordfrankreich besetzt, beim Vormarsch auf WarschauWarschau aber bremste sie der Feind, und in GalizienGalizien hielten sie sich nur mit Mühe, ebenso in Italien. Zur Überraschung aller stellte sich heraus, dass moderne Kriegsführung die Kämpfe nicht verkürzte, sondern ins Unendliche verlängerte.

      Der Erste Weltkrieg in Europa 1914–1918

      Stillstand durch Grabenkampf

      Das ungefähre Gleichgewicht der Kräfte hatte zur Folge, dass die Kriegssituation für eine ganze Weile stagnierte. Längs der Front rannten die kämpfenden Armeen nicht mehr primär in offener Schlacht gegeneinander an, sondern verschanzten sich, getrennt durch einen Streifen Niemandsland, in komplexen Feldbefestigungen, die es den Verteidigern ermöglichten, noch den mörderischsten Sturmversuchen standzuhalten. Jede dieser Konstruktionen war ein kompliziertes Labyrinth, zu dem Beobachtungsposten, Deckungsgräben für die Infanterie, Verbindungsstollen, Rückzugsbereiche, Artillerieplattformen und Bereitstellungsräume gehörten. Gewöhnlich lagen drei parallele Grabenlinien hintereinander. Einen solchen Schanzbau konnte der Gegner wohl eindellen, aber kaum je komplett erobern, und gelang ihm dies doch einmal, wurde das Ganze eben weiter hinten neu errichtet. Das System musste sich ständig bewähren gegen lokale Überfälle, taktische Attacken und Massenoffensiven. Letztlich war es das Ergebnis eines Lernprozesses, in dem erkundet wurde, wie eine Truppe durch elaborierte Maßnahmen todbringende Artillerieangriffe überleben konnte, ohne dass ihre militärische Schlagkraft nachließ. Nur dort, wo man die Stellungen in Stein gehauen hatte, etwa im ElsassElsass, blieb die Front weitgehend statisch. Anderenorts verschob sie sich schon einmal, wenn das Schlachtenglück sich einer Seite hold zeigte; dabei entstand ein wahres Gewirr von Schutzgräben, die man direkt in den Erdboden wühlte. Nur im Osten gab es dann wieder Bewegung, als die Mittelmächte Teile Polens okkupierten. Im Westen jedoch charakterisierte die Auseinandersetzungen, die die meisten Soldaten durchmachen mussten und von denen sie erzählten, wenn sie sich später an den »Großen Krieg« erinnerten, wesentlich ebenjener Grabenkrieg.1

      Dabei entsprang die Stagnation gar keiner strategischen Überlegung, sondern ergab sich aus der extrem erhöhten Defensivpotenz bestimmter moderner Waffen. Zwar pries die Militärdoktrin immer noch den Geist der Offensive, doch tatsächlich erforderte das Wagnis, ein effizient organisiertes Grabensystem anzugreifen, ungeheure Opfer: Viele Tote, Vermisste und Verwundete waren in Kauf zu nehmen. Sturmtrupps mussten sich erst einmal durch gerollten Stacheldraht schneiden und durch Minenfelder laufen, während ihnen aus der Feindstellung schon mörderischer Repetier- und Maschinengewehrbeschuss entgegenknallte. Die Angreifer versuchten zunächst, mit massivem Sperrfeuer den Widerstand zu brechen; dann schleuderten sie Handgranaten in die Gräben oder setzten Flammenwerfer ein, um die Verteidiger auszuräuchern. Oft war schon die Hälfte der Angreifer kampfunfähig, bevor ihre Einheit an einen feindlichen Graben auch nur herankam. Nun folgten Kämpfe Mann gegen Mann mit Handwaffen und Bajonetten. Das Töten fand also überwiegend auf Distanz statt – durch Artilleriebombardement, Maschinengewehrfeuer oder Scharfschützen. Ob der Gegner erfolgreich vernichtet wurde, hing daher mehr von einem hinreichenden Vorrat an Munition ab als von individueller Tapferkeit. In diesem unpersönlichen, industrialisierten Kriegsmodus hatte man bessere Chancen zu überleben, wenn man sich innerhalb eines effizient gebauten Schützengrabens verbergen konnte, als wenn man den Mut zum »Rausgehen« besaß.2

      Im Verlauf des Jahres 1915 entwickelte sich der Stillstand in den Gräben zu einem Abnutzungskrieg, gekennzeichnet durch sogenannte Materialschlachten: Jede Seite versuchte die jeweils andere durch massive Feuerkraft zu erschöpfen. Die Entente wollte NordfrankreichNordfrankreich und Belgien befreien, weshalb sie gezwungen war, Angriffe zu führen. Die Deutschen hingegen konnten sich in ihre Defensivstellungen niederducken und ihre Geländegewinne festhalten. England sandte immer mehr Truppen auf den Kontinent, die unter dem Kommando des wenig einfallsreichen Douglas HaigHaig, Douglas ihr Glück in FlandernFlandern versuchten. Die Franzosen wiederum hielten immer noch an der Kampfmethode der percée fest – einer äußerst aggressiven Durchstoßtaktik, konzipiert von ihrem General Robert NivelleNivelle, Robert – und lancierten einschlägige Operationen in der Champagne. Diese wiederholten Offensiven erbrachten indes dank der wohlkonstruierten Verteidigungsanlagen nur minimale Bodengewinne: Eigentlich trat man auf der Stelle, aber unter enormen Verlusten. Ähnlich erfolgreich wehrten die Österreicher an der Isonzo-Front die Attacken der Italiener ab, allerdings fielen auch dort zahlreiche Soldaten auf beiden Seiten. Freilich missrieten nicht alle Offensiven: Vereinten Streitkräften aus Deutschland und Österreich gelang bei Görlitz-TarnauGörlitz-Tarna der Durchbruch nach Osten. Die Verbündeten besetzten Warschau und warfen die immer noch stattlichen Armeen des Zaren hinter die Grenze zwischen Russland und seiner bisherigen Provinz Russisch-PolenRussisch-Polen zurück; schließlich blieb aber auch dieser Vormarsch buchstäblich im Schlamm stecken.3 Insgesamt jedoch konnten die Mittelmächte auf dem Kontinent während des ganzen ersten Kriegsjahres allen Sturmversuchen der Entente standhalten.

      Auch die Ergebnisse der Kämpfe an Europas Peripherie begünstigten zunächst die Mittelmächte. Der türkische Sultan Mehmed V. Mehmed V.hatte gar einen »heiligen Krieg« gegen die Entente proklamiert, zu dem sein Land anfangs freilich wenig beitragen konnte. Denn das Osmanische Reich sah sich gerade anderen Feinden ausgesetzt: den von den Briten unterstützten Arabern im Nahen Osten und russischen Streitkräften im KaukasusKaukasus. Größere strategische Bedeutung hatte da schon der Umstand, dass ein Versuch der Alliierten scheiterte, sich die Durchfahrt durch die DardanellenDardanellen zu erzwingen – wer über diese enge Passage gebot, kontrollierte den Seeweg zum Schwarzen Meer. Briten und Franzosen lieferten sich auf der Halbinsel GallipoliGallipoli mit den Osmanen heftige Gefechte, bei denen sich ein australisches und ein neuseeländisches Expeditionskorps besonders hervortaten. Dennoch gelang es der türkischen Armee, die Angreifer zurückzuschlagen und der Entente diese wichtige maritime Versorgungslinie abzuschneiden. Als sich im Herbst 1915 auch Bulgarien, das seine im Zweiten Balkankrieg erlittenen Gebietsverluste noch längst nicht verwunden hatte, ins Getümmel stürzte, konnte eine gemeinsame Offensive der Österreicher, Deutschen und Bulgaren die unverändert widerständigen Serben bezwingen. Eine Gegenlandung britischer und französischer Streitkräfte im griechischen SalonikiSaloniki (Thessaloniki) kam zu spät. Indem sie ihre Stärke zu Lande nutzten, gelang es den Mittelmächten, die Kontrolle über den BalkanBalkan zu erlangen und eine direkte Verbindung zu ihrem türkischen Verbündeten herzustellen.4

      Nur zur See und in den Kolonien behielten die westlichen Alliierten die Oberhand, weil die Royal Navy größer und erfahrener war als die deutsche Flotte. Zwar versenkten die Schlachtschiffe des Kaisers ein paar britische Kreuzer, in der Schlacht bei den Falkland-InselnFalkland-Inseln aber erlitten sie eine Niederlage, und die deutschen Handelsstörkräfte, die englische Kauffahrer auf Grund gesetzt hatten, wurden schließlich


Скачать книгу