Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

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War durch Appelle an die Leidenschaften des Volkes erst einmal Massenunterstützung erreicht, ließen sich keine Kompromisse mehr erzielen. Nun müsse es handfeste Gewinne geben, damit sich der hohe Blutzoll auch gelohnt habe, drängten die Chauvinisten und verlangten die unbedingte Unterstützung der Öffentlichkeit, die den Regierungen der kriegführenden Länder effektiv die Hände band. Die annexionistischen Kriegsziele untergruben jedoch zunehmend die Glaubwürdigkeit der Behauptung, man kämpfe um der nationalen Verteidigung willen – die im Sommer 1914 die Bevölkerungen der betroffenen Staaten noch mehrheitlich überzeugt hatte. Angesichts materieller Entbehrungen und des Verlustes von Familienmitgliedern wurden die meisten Europäer jedoch des Gemetzels allmählich müde, denn sie mochten nicht glauben, dass die unklaren, in sich widersprüchlichen Ziele ihrer Eliten weiteres Leiden wert seien. Daher fanden Linkssozialisten und Pazifisten mit ihrer Agitation gegen den Krieg immer mehr Anhänger, und die waren sogar bereit zu streiken, um die sinnlose Schlächterei zu beenden. Statt zur Vorkriegsordnung zurückzukehren, strebten die enttäuschten Regierungen jedoch weiterhin nach dem absoluten Sieg.7

      Mobilisierung der Heimatfront

      Im modernen Krieg wurde die Heimatfront ebenso wichtig wie das eigentliche Kampfgeschehen, denn sie lieferte die materielle und psychologische Unterstützung, die der Soldat brauchte, um weiterzumachen. Das allgemeine Einziehen männlicher Staatsbürger eines bestimmten Alters konnte nur funktionieren, wenn sich junge Männer dafür begeisterten oder wenigstens dazu bereitfanden, in einen Waffengang zu ziehen, der vielen unter ihnen das Leben kosten würde. Da die Produktion von Waffen und Munition für den militärischen Erfolg wesentlich war, musste der Wegfall eines Großteils der Arbeitskräfte kompensiert werden, indem man Nichtwehrpflichtige, Frauen, Kriegsgefangene und Leute aus den Kolonien heranzog. Gleichzeitig erforderte der Krieg enorme Summen Geldes, die durch höhere Steuern und öffentliche Anleihen aufgebracht werden mussten. Anders wären die horrenden Ausgaben für die Truppen und ihre Versorgung nicht zu finanzieren gewesen. Alle kriegführenden Länder starteten Propagandafeldzüge, um die neutralen Staaten von der Rechtmäßigkeit ihrer Sache zu überzeugen und um den Kampfgeist der eigenen Bevölkerung zu stärken. Wo patriotische Appelle zu wenig verfingen, sorgte die Militärzensur dafür, dass sich keine Kritik rührte und keine schädlichen Informationen verbreitet wurden.1 So intensiv wie der Erste Weltkrieg hatte noch kein Konflikt die Zivilisten daheim involviert.

      Nach Ausbruch der Kämpfe war jeder kriegführende Staat bestrebt, sich so darzustellen, als ob er eine einheitliche Front bildete. Indem zu Hause praktisch keine Politik mehr stattfand, wollte man maximale Einsatzbereitschaft erzielen. In Deutschland versuchte Kaiser Wilhelm II., Wilhelm II.Gräben zwischen Regionen, Religionen, Klassen und Ethnien zu überbrücken, indem er vor dem Reichstag proklamierte: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche«. Es war der Appell zum sogenannten »Burgfrieden«. Weil ihnen daran lag, dass auch die Arbeiterbewegung in die nationale Gemeinschaft integriert wurde, sahen die Sozialisten sich gezwungen, für die Kriegskredite zu stimmen. Nun musste die Regierung sie nicht mehr als subversive Agitatoren einsperren. Ähnlich ging es in Frankreich zu: Die Mitte-Links-Regierung, in der zwei sozialistische Minister saßen, verkündete eine »heilige Union«, die nach eigenem Bekunden alle politischen Gruppen ungeachtet ihrer unterschiedlichen Ausrichtungen zum nationalen Kampf vereinte und innerhalb derer alle auf parteipolitische Vorteilssuche verzichteten. In England sammelten sich konkurrierende Kräfte – darunter Liberale, Gewerkschafter, Labouristen und irische Nationalisten – ebenfalls hinter den Kriegsanstrengungen; allerdings wurde dort offener über die richtige Strategie debattiert. Sogar in den autoritär regierten Ländern Österreich, Russland und dem Osmanischen Reich gab es vergleichbare Schulterschlüsse, obschon die sich teilweise der Tatsache verdankten, dass die dortigen Oberen mehr Druck machen konnten.2 Dieser »Geist von 1914« begann erst zu schwächeln, als der Krieg sich in die Länge zog und das Leiden kein Ende zu nehmen schien.

      Die Propaganda, mit der man die Heimatfront mobilisierte und auch die internationale Meinung für die eigene Sache zu gewinnen hoffte, erzeugte eine regelrechte »Kriegskultur«, die Patriotismus mit Hass verschmolz. Auf diesem Gebiet hatten die Alliierten einen gewaltigen Vorteil, weil die Großagenturen Reuters und Havas die Telegrafenverbindungen kontrollierten, über die der Nachrichtenverkehr lief. Die Entente konnte den Streit erfolgreich als Kampf zwischen zwei antagonistischen Kräften darstellen: hier die universellen Werte der westlichen Zivilisation, gestützt durch demokratische Regierungen, dort der preußische Militarismus, dessen Barbarei sich in seinen Gräueltaten gegen belgische Zivilisten offenbare.3 In diesem PR-Krieg gerieten die Mittelmächte in die Defensive, denn es gelang ihnen nicht, eine allgemeingültige Formel für ihre Sache zu finden, die ihnen erlaubt hätte, die Überlegenheit der eigenen »Kultur« glaubhaft zu betonen. Weniger versiert im Umgang mit und im Einsatz von Medien, verließ sich die deutsche Regierung lieber auf die vom Kriegsrecht diktierte Zensur: Man förderte patriotische Rhetorik, die man als »apolitische« Meinungsäußerung verstand, und unterdrückte die Kritik der Linken. Während Schriftsteller wie Maurice BarrèsBarrès, Maurice oder T. E. LawrenceLawrence, T. E. sich hinter die Sache der Entente stellten, polemisierten Intellektuelle wie Werner SombartSombart, Werner und Thomas MannMann, Thomas zugunsten der Mittelmächte.4 Auch Zeichner und Grafiker verstärkten die Wucht der patriotischen Appelle, indem sie farbenprächtige Plakate schufen, die den Feind in grauenerregenden Bildern zeigten.

      Bei der industriellen Kriegsführung bedurfte es dringend einer hochpotenten Wirtschaft, um die für den Kampf benötigten Waffen in hinreichender Menge zu produzieren. Auch was die Mobilisierung der heimischen Wirtschaft betraf, waren die Entente-Mächte in einer besseren Position, denn sie verfügten über mehr Ressourcen und leichteren Zugang dazu. Auch konnten sie auf Reichtümer zurückgreifen, die sich in Jahrzehnten angesammelt hatten. Dass sie die Meere kontrollierten, ermöglichte ihnen, sich mit einschlägigem Nachschub zu versorgen, und zwar aus dem jeweiligen Imperium, aber auch aus den USA. Dort gaben Geschäftsleute fleißig Anleihen der Entente-Länder heraus und erzielten dabei gehörige Profite. Im Gegensatz zum wirtschaftlich unbeholfen und schwerfällig agierenden Russland erlangten England und Frankreich eine außerordentliche Dynamik, indem sie mit einer Mischung aus gouvernementalem Dirigismus und unternehmerischen Privatinitiativen ihre Leistung beträchtlich steigerten.5 Da die Mittelmächte weniger Ressourcen zur Verfügung hatten, mussten sie auf technische Innovationen wie Fritz HabersHaber, Fritz Ammoniaksynthese aus Stickstoff und Wasserstoff setzen. Sie ließen nach Wegen suchen, Rohstoffe durch Ersatzprodukte zu substituieren. Die Berliner Regierung bediente sich eher bürokratischer Methoden, um die Produktion zu koordinieren, und richtete die sogenannte Kriegsrohstoffabteilung ein, die Walther RathenauRathenau, Walter leitete. Außerdem wurden die Nahrungsmittel rationiert, damit die Preise nicht hochgingen. Als aber die Auswirkungen der Seeblockade sich immer mehr verschärften und die Kartoffelernte um 50 Prozent abnahm, verbreitete sich im Lande während des »Kohlrübenwinters« 1916/17 eine Hungersnot, die den Kampfeswillen untergrub.6

      Ein weiterer Vorteil der Entente lag in ihrer höheren Einwohnerzahl, die von entscheidender Bedeutung für kontinuierliche Kampffähigkeit und Waffenproduktion war. Die Franzosen verlegten knapp eine halbe Million nordafrikanischer Soldaten an die Front, während die Briten 1916 die Wehrpflicht einführten; zusätzlich kamen ihnen zahlreiche Freiwillige aus den dominions und aus der indischen Armee zur Hilfe. Russland hatte zwar ein breites Reservoir an Soldaten, aber es tat sich schwer darin, sie adäquat auszubilden. Als 1918 ihre Reserven zur Neige gingen, beriefen die Deutschen auch sehr junge Männer des Jahrgangs 1900 ein. Auf die österreichischen Truppen war aus Gründen ethnischer Konflikte kein durchgehender Verlass, und unter den Völkerschaften des Osmanischen Reiches konnte man nur die Türken zu den wahren Verbündeten zählen. Die Sanitätsoffiziere, die sich einer riesigen Schar Verwundeter gegenübersahen, vollbrachten heroische Leistungen bei der Behandlung der Entstellten oder von der posttraumatischen Zitterneurose Befallenen. Sie retteten viele Leben – und sorgten dafür, dass die Versehrten möglichst rasch wieder in den Kampf zurückkonnten. Daheim mussten sachkundige Industriearbeiter durch Ungelernte ersetzt werden; auch auf den Bauernhöfen wurde das Personal knapp. Um diesen Defiziten abzuhelfen, proklamierte die BerlinerBerlin Regierung im Herbst 1916 im sogenannten Hindenburg-Programm die Verdoppelung der Rüstungsproduktion. Nun verpflichtete man alle Männer von 17 bis 64 zu einer Art nationalem Dienst; sie wurden entweder in einer Fabrik oder auf dem


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