Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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Vertretungsrechte.7

      Frauen blieben zwar von den direkten Kämpfen noch ausgeschlossen, dafür trugen sie als Hilfskräfte immer mehr zu den Kriegsanstrengungen bei. Einerseits spielten sie unverändert die traditionellen, unterstützenden Rollen: symbolisch als patriotische Inspiration, praktisch als Trösterinnen, etwa durch das Versenden von Briefen und Paketen. Verheiratete wurden ermuntert, sich von ihren Gatten, wenn diese auf Heimaturlaub zurückkamen, schwängern zu lassen, um die Verluste auf dem Schlachtfeld durch Neugeborene auszugleichen. Andererseits übernahmen Frauen in wachsendem Ausmaß militärische Hilfsfunktionen, etwa als Krankenschwestern, Sekretärinnen oder Fahrerinnen in Uniform. Die Männer, die zuvor einige dieser Posten bekleidet hatten, konnten nun an die Front. Wichtiger noch war jedoch die Rekrutierung von weiblichem Personal für die industrielle Produktion, in der Frauen eingezogene Arbeiter ersetzten und Artilleriegranaten, Maschinengewehrmunition und sogar ganze Waffen fertigten – eine strapaziöse Arbeit in lauten, schlecht gelüfteten Fabrikhallen, die die körperliche Ausdauer und Konzentration auf eine harte Probe stellte. Obwohl das Kampfgeschehen selbst die alten Unterschiede verstärkte – die Männer töten, die Frauen liefern Hilfsdienste aus dem Hintergrund –, beschleunigte der Krieg insgesamt die Erosion der traditionellen Geschlechterrollen am Arbeitsplatz.8

      Als die Kämpfe ins dritte Jahr gingen und keinerlei Ende in Sicht war, polarisierte sich die öffentliche Meinung zunehmend: Die einen befürworteten einen Sieg um jeden Preis, und die anderen forderten sofortigen Frieden. Die stetig wachsende Zahl der Toten, Verwundeten und Vermissten sowie der wiederholte Mangel an Nahrungsmitteln und Treibstoff gaben Anlass zu der Frage, ob die gesteckten Ziele diese ganzen Opfer wohl wert seien. Die Nationalisten aller kriegführenden Länder betonten, man müsse »durchhalten« bis zum siegreichen Ende, denn sonst seien alle bisherigen Leiden umsonst gewesen. Lehrer versuchten ihre Schüler im Sinne des Krieges zu motivieren, indem sie ihnen die Frontverläufe anhand von auf Landkarten festgesteckten Nadeln zeigten; Plakate ermunterten zur Zeichnung von Kriegsanleihen; patriotische Versammlungen feierten lokale Siege. Bei den Mittelmächten wurden unfähige oder glücklose Kommandeure wie General FalkenhaynFalkenhayn, Erich von abgelöst durch Militärs, denen man Erfolge zutraute, etwa HindenburgHindenburg, Paul von und LudendorffLudendorff, Erich. Bei der Entente wiederum traten, nachdem es innerhalb der Armeen zu Meutereien und Streiks gekommen war, politische Hardliner wie Georges ClemenceauClemenceau, Georges, genannt le tigre, und der hyperaktive, freilich wechselhafte Lloyd GeorgeLloyd George, David in den Vordergrund. Sie übernahmen mehr Verantwortung, weil sie es verstanden, die Massen durch patriotische Appelle mitzureißen. Neu gegründete chauvinistische Bewegungen wie die Deutsche Vaterlandspartei versuchten ebenfalls den Siegeswillen zu stärken.9

      Trotz solcher Bemühungen begann die patriotische Begeisterung bald nachzulassen. Kriegsmüdigkeit verbreitete sich unter Soldaten und Zivilisten, die sich dem Tod oder der Verarmung gegenübersahen. In allen Ländern hielt die Mehrheit der Elite unverändert an ihrer Eroberungspolitik fest, und die Mittelschicht zeigte sich für nationale Appelle weiterhin empfänglich. In den Schützengräben jedoch verweigerten die ersten Soldaten den Gehorsam, wenn ihre Vorgesetzten Attacke befahlen, und in den Fabriken verlangten viele der Beschäftigten mehr zu essen, kürzere Arbeitszeiten und bessere Bezahlung. Unabhängige Sozialisten, angeführt von Wladimir I. LeninLenin, Wladimir I., Rosa LuxemburgLuxemburg, Rosa und Karl LiebknechtLiebknecht, Karl, brandmarkten den Waffengang als imperialistischen Krieg. Bei den Linken war diese Kritik immer lauter zu hören, deren Abgeordnete schließlich in einem symbolischen Akt den Kriegskrediten ihre Zustimmung versagten. Da er ein sofortiges Ende der Metzeleien versprach, fand der Slogan »Keine Annexionen, keine Entschädigungen« immer breiteren Widerhall unter den Industriearbeitern, die nun mit der Stilllegung der Politik an der Heimatfront brachen und Streiks organisierten. An der Westfront wiederum wagten rund 40 000 französische Soldaten eine Meuterei; freilich wurden ihre Proteste mit Gewalt und ein paar Zugeständnissen bald beendet. Da das Elend in den Schützengräben und der Hunger daheim die Attraktivität patriotischer Rhetorik verblassen ließen, geriet die Kriegsführung während des Winters 1916/17 in eine Krise.10

      Äußerste Eskalation

      Nachdem sich abzeichnete, dass weder der Eintritt Bulgariens noch der Rumäniens eine neue Entscheidung brachte, zog die totalisierende Logik des modernen Krieges schließlich auch die Vereinigten StaatenVereinigte Staaten in den Konflikt hinein, die einzig verbliebene Nation, die das Gleichgewicht noch kippen konnte. Doch Amerika zeigte sich gespalten; weite Kreise gerade der Progressive Reform Coalition hielten George WashingtonsWashington, George Warnung hoch, die USAVereinigte Staaten dürften sich nie in europäische Händel verstricken lassen. Insbesondere im Mittleren Westen und Westen waren viele Bürger, namentlich solche irischer und deutscher Herkunft, gegen die Teilnahme an einem Kampf, der ihnen so blutig wie sinnlos erschien. Die Eliten an der Ostküste indes empfanden eine kulturelle Affinität zu Großbritannien und Frankreich. Geschäftsleute machten dort viel Geld durch Lieferungen an die Entente, und Bankiers legten Anleihen auf, um einschlägige Bestellungen zu finanzieren. Englands Herrschaft über die Meere und das Telegrafenwesen tat das Ihre dazu, dass Sympathien und materielle Interessen einflussreiche Teile der politischen Klasse und der Presse bewogen, sich auf die Seite der Entente zu schlagen. Präsident Woodrow WilsonWilson, Woodrow und seine Administration waren sich gleichwohl der Stärke des Widerstands seitens der Isolationisten bewusst und suchten zu vermitteln – bis die Aktivität deutscher U-Boote schließlich einen casus belli schuf und die Vereinigten StaatenVereinigte Staaten in den Krieg zwang.1

      Anders als die britische Meerblockade war das U-Boot eine neue Art Waffe, deren uneingeschränkter Gebrauch die Regeln des Seekrieges verletzte. Während des Wettbewerbs um die beste Streitkraft zu Wasser hatte Admiral TirpitzTirpitz, Alfred von der Entwicklung der Unterseewaffe noch keinen Dringlichkeitsrang eingeräumt, denn dem Kaiser lag eine konkurrenzfähige Hochseeflotte am Herzen. Das allgemein akzeptierte traditionelle Reglement sah für die Kampfaktion eines U-Bootes Folgendes vor: Wollte es ein feindliches Schiff abschießen, musste es zunächst auftauchen, ihm einen Schuss vor den Bug setzen und es so zum Halten bringen, dann ein Prisenkommando hinübersenden und die gegnerische Crew in die Rettungsboote steigen lassen. Erst dann durfte es das Schiff versenken. Andererseits hatte das potenzielle Opfer auch diverse Abwehrmöglichkeiten: Es konnte, da schneller als das U-Boot, ihm davonfahren, es rammen oder seine verletzliche Hülle mit Feuer aus Maschinengewehren oder leichtkalibrigen Geschützen durchlöchern. Alternativ konnten Schiffe kriegführender Nationen ihren Namen ändern, falsche Schornsteine aufstecken oder neutrale Flaggen hissen, um ihre Herkunft zu verschleiern. Zunächst hatten die U-Boote mit den konventionellen Methoden durchaus einigen Erfolg. Dennoch entschieden sie sich mehr und mehr für die Taktik, das gegnerische Fahrzeug gleich zu torpedieren, sobald es ins Blickfeld kam, von unterhalb der Wasseroberfläche und ohne vorherige Warnung. Auf diese Art blieben das eigene Schiff und die eigene Mannschaft in Sicherheit, während der Feind keine Chance hatte zu entkommen. Auch Handelsschiffe wurden attackiert, weil man die Lieferung von Lebensmitteln und Rohstoffen zu unterbinden suchte, speziell nach England, das beides dringend brauchte.2

      In den neutralen Ländern entzündete der uneingeschränkte U-Boot-Krieg mehr moralische Empörung als eine konventionelle Blockade, da Schiff und Crew verloren waren, statt festgesetzt und interniert zu werden. Die Briten dehnten die Regeln für den Seekrieg ziemlich weit aus, indem sie von den neutralen Schiffen verlangten, in ihren Häfen zu bleiben: Ausfahren dürften sie nur, wenn feststehe, dass sie keine Waren für den Transfer in die Länder der Mittelmächte dabeihätten. Die US-Regierung protestierte etwas halbherzig gegen diese Art der Handelsbeschränkung. Wurde jedoch ein Passagierdampfer versenkt, provozierte das schon einen lauteren öffentlichen Aufschrei. Im Falle der »Lusitania« gab es gewaltige Entrüstung, weil mit dem Schiff 128 Bürger der USAVereinigte Staaten in den Fluten verschwanden. Freilich war zuvor ein Hinweis an die Amerikaner ergangen, in der Kriegszone nicht auf einem britischen Schiff zu reisen, das möglicherweise Munition transportierte. Das Torpedieren von Passagierschiffen konnte seitens der USAVereinigte Staaten nicht ohne Antwort bleiben. Präsident WilsonWilson, Woodrow warnte den KaiserWilhelm II. energisch: Sollte die Strategie des uneingeschränkten Versenkens fortgesetzt werden, müsse Amerika in den Krieg eintreten. BerlinBerlin fügte sich – sehr zum Ärger der eigenen Marineführung. Während die britische Blockade langsam tötete, nämlich durch Aushungern,


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