Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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der Deutschen vom 9. Januar 1917, den uneingeschränkten U-Boot-Krieg doch wiederaufzunehmen, war daher ein verzweifeltes Wagnis, das den absoluten Sieg erzwingen wollte. Das Scheitern der Friedensofferte BerlinsBerlin, die realistische Verhandlungen hatte ermöglichen sollen, ließ der zivilen Führung um Kanzler Bethmann HollwegBethmann-Hollweg, Theobald von keine andere Alternative als mitzuziehen. Während die Oberste Heeresleitung, an deren Spitze nun HindenburgHindenburg, Paul von und LudendorffLudendorff, Erich standen, für die Westfront eine defensive Strategie vorsah, hoffte sie England mittels ihrer Unterseewaffe aus dem Krieg hinauszujagen: Eine stetig wachsende Zahl von U-Booten sollte die Versorgung der Britischen Inseln mit Kriegsgütern, Rohstoffen und Lebensmitteln verhindern. Erfreut, endlich eine entscheidende Rolle spielen zu können, unterstützte die Marineführung diese Strategie, indem sie fadenscheinige Statistiken fabrizierte, denen zufolge das Vereinigte Königreich binnen sechs Monaten zusammenbrechen werde. Die zivilen Experten, die man heranzog, äußerten sich vorsichtiger, denn sie wussten etwas besser Bescheid über das Potenzial der Vereinigten StaatenVereinigte Staaten. Aber während der entscheidenden Sitzung taxierte die militärische Führung fatalerweise Amerikas Kräfte falsch, indem sie die Kapazitäten seiner Kriegsproduktion ebenso unterschätzte wie seine Fähigkeit, hinreichend Soldaten auszubilden, um den Ausgang der Kämpfe an der Westfront zu beeinflussen.4

      Die Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Krieges bewirkte AmerikasVereinigte Staaten Eintritt in den Ersten Weltkrieg; so wandelte sich die wohlwollende Neutralität gegenüber der Entente in einen veritablen Kombattantenstatus. Die Boulevardpresse hatte die öffentliche Meinung bereits zuvor mit sensationalistischen Stories über deutsche Sabotage und deutsche Spione aufgestachelt, die ein paar törichte Aktionen zu einer allgegenwärtigen Gefahr aufbliesen. US-Nachrichtendienste fingen ein Geheimtelegramm ab, das der deutsche Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Arthur ZimmermannZimmermann, Arthur, an die mexikanische Regierung gesandt hatte. Der Inhalt sorgte für einen weiteren Aufschrei, offerierte BerlinBerlin dem mittelamerikanischen Staat darin doch ein Bündnis. Falls es einwillige, solle MexikoMexiko die Territorien zurückerhalten, die es ein Jahrhundert zuvor an die Vereinigten Staaten habe abtreten müssen. Diese diplomatische Intrige nach der Methode »sei nett zum Feinde deines Feindes« verletzte die Monroe-Doktrin und lieferte Präsident WilsonWilson, Woodrow endlich den gewünschten öffentlichen Vorwand, sich den Alliierten anzuschließen. Man vollziehe den Schritt in der Hoffnung, hieß es, so eine neue, friedliche Weltordnung zu schaffen. Der Affront, den das Reich durch das schlichte Ignorieren rechtzeitiger Warnungen AmerikaVereinigte Staaten zugefügt hatte, trug entscheidend dazu bei, dass beide Häuser des Kongresses mit überwältigender Mehrheit für den Eintritt in den Konflikt votierten. Unter Berufung darauf, dass »die deutsche Regierung wiederholt kriegerische Akte gegen die Regierung und das Volk der Vereinigten Staaten begangen« habe, erklärte WashingtonWashington am 6. April 1917 BerlinBerlin den Krieg.5

      Militärisch hatte der amerikanische Eintritt zunächst nur begrenzte Wirkung; immerhin aber bestärkte schon die formale Rückendeckung die Entschlossenheit der Entente, weiterzukämpfen. Da sie bisher lediglich in lokalen und imperialen Feldzügen, an Orten wie KubaKuba, den PhilippinenPhilippinen und MexikoMexiko eingesetzt worden war, galt die U. S. Army lediglich als Kolonialstreitkraft, während sich die Navy bereits in raschem Wachstum befand. Obwohl Präsident WilsonWilson, Woodrow auf einer Sonderrolle AmerikasVereinigte Staaten als »assoziierte Macht« beharrte, damit es von den Geheimverträgen innerhalb der Entente unberührt blieb, bedeutete seine Beteiligung, dass den Alliierten die gesamte industrielle und finanzielle Potenz der Vereinigten Staaten zur Verfügung stand. Nun konnte die Navy ganz offen gemeinsam mit anderen Marineverbänden ein Konvoisystem quer über den Atlantik organisieren; Handelsfahrzeuge waren durch Kriegsschiffe geschützt, die Sonar und Wasserbomben an Bord hatten, was die U-Boot-Waffe wirkungsloser werden ließ. Schließlich begann auch die Army ein ehrgeiziges Expansionsprogramm, das ihr erlauben sollte, Zehntausende frischer Rekruten auszubilden und die erschöpften Personalreserven der Entente durch junge Männer aufzustocken, die noch bereit waren, ihr Leben in einer Attacke zu riskieren.6 Auch wenn seine Schlagwirkung anfangs bescheiden blieb, verwandelte der Eintritt der USA den Krieg in einen echten globalen Konflikt.

      Da der Großteil der Gefechte in Europa stattfand, lancierte die US-Regierung eine Propagandakampagne, um die eigene gespaltene Bevölkerung hinter den Kriegsanstrengungen zu versammeln. Präsident WilsonWilson, Woodrow versuchte den Konflikt mit einem höheren Sinn aufzuladen, indem er verkündete, dieser Waffengang werde »ein Krieg [sein], der alle Kriege beendet«, und diene dem Zweck, »die Welt sicher genug für die Demokratie zu machen«. Außerdem schuf seine Regierung ein Committee on Public Information, an dessen Spitze George CreelCreel, George stand. Der engagierte Journalist prangerte den preußischen Militarismus an und nannte »Kaiser Bill« spöttisch »den Hunnen«. Damit nahm Creel Bezug auf eine unüberlegte Äußerung Kaiser Wilhelms II. Wilhelm II.: Der hatte 1900, als ein internationales Expeditionskorps nach ChinaChina aufbrach, um dort die antichristliche Revolte der Boxer niederzuwerfen, deutschen Soldaten aus diesem Einsatzkommando zugerufen, sie mögen so furchterregend dreinschlagen wie »vor tausend Jahren die Hunnen«. Diese diplomatische Fehlleistung ging als »Hunnenrede« in die Geschichte ein. CreelsCreel, George Bemühungen, unterstützt von einer blindwütigen Massenpresse, schürte eine regelrechte »Kriegshysterie«. Es war nunmehr verboten, in der Öffentlichkeit deutsch zu sprechen; nicht nur Straßennamen wurden patriotisch umbenannt, sondern auch harmlose Esswaren: Sauerkraut etwa hieß jetzt victory cabbage (›Siegeskohl‹). Die nationalistische Raserei forderte sogar einige Menschenleben, beispielsweise wurde in East St. Louis / Illinois East St. Louisein unglücklicher Deutsch-Amerikaner gelyncht.7 Die Propaganda überhöhte den Krieg zu einem Kampf zwischen der »westlichen Zivilisation« und dem deutschen Barbarentum.

      Obwohl sich nun der Kreis der Kombattanten um einen erweitert hatte, blieb der Ausgang des Krieges bis Frühling 1917 unentschieden. Die Briten setzten ihre Massenoffensiven in Frankreich und Belgien fort: Unermüdlich rannten sie gegen jene Kette aus schwer befestigten deutschen Positionen an der Westfront an, die den Namen »Siegfriedstellung« trug (die Alliierten nannten sie »Hindenburglinie«); immer wieder eroberten sie kleine Areale verwüsteten Territoriums, und jeden dieser Erfolge bezahlten sie mit einem enormen Blutzoll. Die Deutschen drangen langsam von Polen aus in russisches Gebiet vor. Auch sie erlitten schwere Verluste, doch gelangen ihnen größere Geländegewinne von den baltischen Provinzen im Norden bis zur rumänischen Grenze im Süden. Was den Seekampf betraf, schien noch nicht klar, ob die Konvois oder die U-Boote ihn gewinnen würden. In den Ländern des Westens gab es bald wieder ernstliche Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der militärischen Strategie: Sollte man den Waffengang beenden oder weiterkämpfen? Schließlich setzten sich aber die Befürworter der letzteren Option durch. Deutlich überforderter zeigte sich das zaristische Russland, in dem Hungerrevolten die imperiale Ordnung auf eine harte Probe stellten. Nicht besser erging es dem Habsburgerreich, in dem die Stimmen des separatistischen Nationalismus immer lauter wurden. Am Ende des Krieges standen also zwei Entwicklungen, die den Wettlauf zwischen den Parteien bestimmten: hier der allmähliche Kollaps Russlands, der zum Sieg der Deutschen im Osten führte, dort die Ankunft der amerikanischen Truppen, die der Entente half, den Krieg im Westen zu gewinnen.

      Mechanisierte Metzelei

      Die »Fronterfahrung« hinterließ tiefe Narben bei den europäischen Intellektuellen, denn sie nahm ihnen die optimistische Illusion eines kontinuierlichen Fortschritts. Eine »verlorene Generation« von Dichtern versuchte das »Leid des Krieges« zu verstehen. Wilfred OwenOwen, Wilfred etwa offenbarte die Hohlheit der Phrase vom ›Tod in Ehren‹, indem er die Auswirkungen eines Gasangriffs schilderte:

      Wenn auch du in erdrückenden Träumen liefest

      Hinter dem Wagen, in den wir ihn warfen,

      Und die verdrehten weißen Augen in seinem Gesicht sähest,

      In seinem hängenden Gesicht, wie das eines Teufels, der der Sünde müde ist,

      Wenn du hören könntest, wie bei jedem Stoß das Blut

      Gurgelnd aus seinen schaumgefüllten Lungen läuft,

      Ekelerregend wie der Krebs, bitter wie das Wiederkäuen

      Von Auswurf, unheilbare Wunden


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