Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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die nach einem verzweifelten Ruhmesglanz dürsten,

      Die alte Lüge: Dulce et decorum est

       Pro patria mori.

      Schockierende Erfahrungen dieser Art zerstörten den Glauben an eine wohlwollende Vorsehung, desillusionierten den patriotischen Idealismus und untergruben die militärische Disziplin. Viele der größten Talente der jungen Autorengeneration bezahlten ihren Patriotismus mit ihrem Leben, etwa die beiden Lyriker Rupert BrookeBrooke, Rupert und Walter FlexFlex, Walter. Einige überlebende Soldaten stellten nicht nur die Sinnhaftigkeit des Krieges in Frage, sondern sogar die Werte selbst, die sie angeblich zu verteidigen hatten. Die meisten Schriftsteller, darunter Erich Maria RemarqueRemarque, Erich Maria und Robert GravesGraves, Robert, richteten scharfe Anklagen gegen den Krieg, um vor einer Wiederholung solcher Gräuel zu warnen. Nationalistische Schreiber wie Ernst JüngerJünger, Ernst und Louis-Ferdinand CélineCéline, Louis-Ferdinand jedoch glorifizierten die Gefahr und Kameradschaft im Krieg als Gelegenheiten zu männlicher Bewährung.1

      In solchen Zeugnissen erscheint der mechanisierte Krieg als alles verschlingende Macht, die früher unvorstellbare Ausmaße von Gewalt freisetzte. Dank dem technischen Fortschritt hatten Waffen wie schwere Artillerie, Maschinengewehre, Giftgase und Panzer eine viel zerstörerischere und tödlichere Wirkung als je zuvor. Nach dem Kampf ähnelte das Schlachtfeld daher immer öfter einer Mondlandschaft mit Schützengräben, Granatenkratern, Betonbunkern und Geschützstellungen. Darin gab es Häuser, von denen nur noch die Trümmer, Bäume, von denen nur noch die Stümpfe standen, und Tümpel voller Pferdekadaver. Rund siebzehn Millionen Menschen – so viele Opfer hatte noch nie ein Krieg gefordert – verloren ihr Leben, etwa gleich viele waren schwer verwundet, und andere erwiesen sich später als dermaßen traumatisiert, dass sie mitten in der Nacht schreiend aufwachten. Zwar geschah das Töten vielfach aus größerer Distanz, etwa bei Artilleriebombardements, durch Maschinengewehrsalven oder Gewehrschüsse, doch die Grabenkämpfe erforderten sehr wohl auch noch das Vorgehen Mann gegen Mann, wobei Handgranaten, Seitenwaffen und Bajonette zum Einsatz kamen. Nach Gefechten dieser Art verschwanden die meisten Illusionen um den individuellen Heroismus. Die Wirklichkeit des industriellen Krieges stellte sich als schmutzig, zerstörerisch und bedrückend heraus.2

      Rückblickend scheint es immer noch erstaunlich, dass die Soldaten in solch einem mörderischen Krieg einfach weitermachten, trotz der nicht geringen Wahrscheinlichkeit, bei der Sache zu sterben. Tagebücher und Briefe von der Front geben uns aber Aufschluss über ihre Motive. Ursprünglich war es in der Tat ein hohes Maß an patriotischer Begeisterung, das britische Oberschichtangehörige bewog, sich zum freiwilligen Einsatz zu melden, und die deutschen Studenten dazu trieb, bei Langemarck in den Tod zu rennen. Bei den eingezogenen Arbeitern hat wohl eher Zwang dafür gesorgt, dass sie die Uniform anbehielten, denn ›Drückeberger‹ wurden hart bestraft, Deserteure sogar erschossen. Eine Weile spornte dann der Hass auf den jeweiligen Feind die Kampfmoral an, was sich auch in Schimpfnamen niederschlug: Bei den Briten hießen die Deutschen jerries, bei den Franzosen boches; die Deutschen wiederum nannten die Briten Tommies und die Franzosen Franzmänner oder Froschfresser.

      Aber es gab auch Augenblicke der Waffenruhe, die man nutzte, um Verwundete aufzusammeln; manchmal, freilich seltener, kam es sogar zu Verbrüderungen, wenn man etwa gemeinsam Weihnachtslieder sang. In solchen Momenten ahnten die Beteiligten, dass man in einem Strudel gefangen war, aus dem es kein Entkommen gab. Eine noch stärkere Solidarität verband den Soldaten mit seinen eigenen Kameraden, denn die Einheiten wurden zu Überlebensgemeinschaften, in denen jeder Einzelne von allen anderen abhing. Des Weiteren spielte der fehlgeleitete Wunsch eine Rolle, seine Maskulinität zu beweisen; schließlich wollte man sich als junger Mann nicht vor anderen jungen Männern blamieren.3

      Die moderne Form der Kriegsführung stellte auch an die Zivilisten neue Anforderungen, denn die Eskalation hin zum totalen Krieg involvierte die Heimatfront in viel höherem Ausmaß als zuvor. Die traditionelle Aufgabenverteilung legte ja fest, dass die Frauen die heimatlichen Herdfeuer am Brennen hielten, während nichtwehrpflichtige männliche Arbeitskräfte her- und bereitstellten, was die Kämpfenden draußen dringend brauchten. Aber im Ersten Weltkrieg setzte die britische Blockade auch Alte, Mütter und Kinder gnadenlos dem Hungertod aus, und deutsche U-Boote versenkten mit den Schiffen, die sie trafen, auch deren Mannschaften und Passagiere. Da die Regierungen nun Massenpolitik zu betreiben hatten, mussten sie sich erheblich mehr anstrengen, um ihre Wähler von der Gerechtigkeit ihrer Sache zu überzeugen und sie glauben zu machen, es gehe doch nur darum, das Vaterland bzw. la mère patrie zu verteidigen, obwohl ihre Kriegsziele eindeutig expansionistisch waren. Um den Kampfeswillen des Gegners zu brechen, versuchten sie ihn zusätzlich politisch zu destabilisieren. Dabei kleideten sie ihre nationalen Interessen in eine möglichst allgemeine Sprache und beriefen sich auf universell akzeptierte Werte, weil sie hofften, so vielleicht bei bestimmten Minderheiten in der Feindbevölkerung Anklang zu finden. Innerhalb dieses politischen Wettbewerbs hatten die Demokratien bessere Karten als die Monarchien, denn Erstere waren Konflikte gewohnt, während Letztere sich auf den Respekt ihrer Untertanen verlassen mussten.4

      Dieser Waffengang markierte den Beginn der Selbstzerstörung Europas; in diesem Sinne war der Erste Weltkrieg »die große Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«.5 Sie schleppte sich über viereinhalb Jahre hin und legte Häuser überall in Schutt und Asche – in Belgien, NordostfrankreichNordostfrankreich, auf dem BalkanBalkan, in Polen, Russland und im Baltikum. Wenn heute Felder gepflügt werden, auf denen einst der Grabenkrieg tobte, wie beispielsweise an der Somme, finden sich immer noch Leichenteile und Bruchstücke metallenen Militärgeräts. In VerdunVerdun erinnern verkrüppelte Bäume an die mörderischen Ereignisse, während auf FlandernsFlandern Feldern der rote Klatschmohn die Sinnlosigkeit des Blutvergießens symbolisiert. Indem sie Soldaten aus ihren Kolonien mobilisierten, erschütterten die Imperien den Mythos von der Überlegenheit der weißen Rasse. Außerdem brachten sie ihren Untergebenen die militärischen Fähigkeiten bei, mit denen die Letzteren die Ersteren schließlich verdrängen würden. Dass nun auch transozeanische Mächte mitwirkten, so JapanJapan und die Vereinigten StaatenVereinigte Staaten, markierte obendrein das Ende der Hegemonie Europas im Weltgeschehen, denn der Konflikt konnte nicht gelöst werden ohne Rückgriff auf Ressourcen und Einsatzkräfte von außerhalb des Kontinents. Die Kämpfe schließlich waren mit einer nie gekannten Gewaltsamkeit ausgetragen worden, weshalb sie ein Erbe des Hasses hinterließen, das die europäische Politik für die Lebenszeit der nächsten Generation vergiftete. Auch wenn der Waffengang diverse Neuerungen hervorbrachte, etwa ein paar technische Innovationen und medizinische Fortschritte, kann daher die Auswirkung des ersten modernen Krieges auf Europa gar nicht negativ genug eingeschätzt werden.

      Die bolschewistische Revolution

      LeninLenin, Wladimir I. als Revolutionär, 1920

      Es war der 3. April 1917, Finnischer Bahnhof, PetrogradSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd). Kurz vor Mitternacht entstieg Wladimir I. LeninLenin, Wladimir I. dem Zug, der ihn in die russische Hauptstadt gebracht hatte. Gerade aus dem Schweizer Exil zurück, lancierte der noch nicht sehr prominente Revolutionär gleich einen bewegenden Appell zu einer »weltweiten sozialistischen Revolution«. Am nächsten Tag publizierte die bolschewistische Parteizeitung Prawda LeninsLenin, Wladimir I. zehn »Aprilthesen«, in denen er seine radikalen Ideen darlegte. Keine Unterstützung mehr für den Krieg, forderte er darin, und da die bürgerliche Provisorische Regierung ihn fortführen wolle, sei ein Bruch mit ihr unvermeidlich. Es sei nun Zeit, überzugehen »zur zweiten Etappe, die die Macht in die Hände des Proletariats und der armen Schichten der Bauernschaft legen muss«. Da LeninLenin, Wladimir I. sehr wohl wusste, dass seine Kaderpartei nur eine kleine Minderheit innerhalb der breiten revolutionären Bewegung bildete, wies er der Propaganda eine entscheidende Bedeutung zu. Diese solle »Aufklärung der Massen darüber« leisten, »dass die Arbeiterdeputiertenräte die einzig mögliche Form der Revolutionsregierung sind«.1 Mit dem Instinkt eines begabten Politikers versprach er die Abschaffung der verhassten Polizei, des Militärdienstes und des Beamtentums, dazu die Enteignung und Aufteilung des Großgrundbesitzes sowie die Kontrolle der Arbeiter über die industrielle Produktion.


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