Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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Petersburg (Leningrad, Petrograd) zu marschieren; aber die Unruhe hatte sich schon so weit verbreitet, dass ihm nur eines übrigblieb: den Zaren opfern, um die Armee zu bewahren. Führende Duma-Deputierte wie Pawel MiljukowMiljukow, Pawel und Alexander GutschkowGutschkow, Alexander regten an, die Monarchie zu retten, indem man sie in ein konstitutionelles System umwandelte, aber Nikolaus II. Nikolaus II.war bereits so diskreditiert, dass er zurücktreten musste. Das Volk fand mehr und mehr Gefallen daran, die Straßen zu beherrschen, und erzwang letztlich einen drastischeren Wandel. Nach dem 1905er Organisationsmuster hatten die Protestler revolutionäre Räte gebildet, gewählt in Fabriken, in Militäreinheiten und auf dem Lande. Innerhalb dieser Deputierten-»Sowjets« rivalisierten die agrarisch orientierten Populisten der Sozialrevolutionäre (SR) mit Sozialdemokraten (Menschewiki) und radikalen Kommunisten (Bolschewiki) um die Macht. Schließlich kam die moderate Duma ebenfalls, wenn auch schwerfällig, in Gang und konstituierte eine »Provisorische Regierung« unter dem semstwo-Führer Fürst Georgij LwowLwow, Georgi. In einer informellen Arbeitsteilung, genannt »Doppelherrschaft«, übernahm die Duma die Aufgabe, zu regieren und eine Verfassung zu erstellen, während der Petrograder Sowjet, zusammengesetzt aus revolutionären Abgeordneten, die Interessen des Proletariats zu verteidigen suchte.7

      In vielfacher Hinsicht war die Februarrevolution eine Volkserhebung wie der »Völkerfrühling« von 1848.8 Die autokratische Ordnung kollabierte unter der Belastung des aussichtslosen Krieges; dass der Zar inkompetent war, räumten sogar die Anhänger des Systems ein. In der Duma dominierten die Mittelschichten, denn ihre Abgeordneten waren in Wahlen bestimmt worden, an denen nicht alle Russen gleichberechtigt hatten teilnehmen dürfen. Diese Körperschaft wollte eigentlich nur mehr Mitspracherecht in den laufenden nationalen Angelegenheiten, zeigte sich aber schließlich bereit, die Gründung einer Republik zu wagen. Es waren aber wesentlich die rebellischen Massen, die bewirkten, dass die Autokratie stürzte: Frauen, Arbeiter und Soldaten, die »Brot und Frieden« forderten. Auch die Armee hatte als zuverlässige Stütze des Regimes ausgedient, als die militärische Disziplin zusammenbrach und die Angehörigen der niederen Ränge unter der Leitung von Feldwebeln die Macht in ihre Hände nahmen. Die bourgeoisen Liberalen verlangten lediglich eine Verfassung, die die Bürgerrechte garantierte, dazu eine Marktwirtschaft und Verbesserungen im Bildungsbereich – kurz: sie wollten eine Modernität westlicher Art für Russland. Die seit langem leidenden Massen jedoch, die besonders während des Krieges Ausbeutung, Hunger und viele Todesopfer hatten erdulden müssen und deswegen Groll und Hass hegten, forderten radikalere Veränderungen in der russischen Gesellschaft, ohne recht zu wissen, wie sie ihre Ziele verwirklichen sollten. Da die orthodoxen Marxisten die Meinung vertraten, erst müsse das Bürgertum das Land ökonomisch transformieren, gaben sich die Sowjets zunächst damit zufrieden, der Provisorischen Regierung scharf auf die Finger zu sehen.

      Die Provisorische Regierung

      Der Zusammenbruch der alten Ordnung bot eine Chance für die liberale Modernisierung Russlands. Aber die Mittelschichten mussten nun den viel weiterreichenden Forderungen der sowjetgelenkten Massen gerecht werden. Zwar war die soziale Basis der Provisorischen Regierung relativ begrenzt, aber offiziell zumindest hielt sie die Zügel der Macht in den Händen, denn den Deputierten der Arbeiter und Soldaten fehlte praktische Erfahrung, mochten sie auch eine höhere revolutionäre Legitimität besitzen. Schließlich einigten sich beide Gruppen Anfang März auf eine informelle Koalition, um jene Ziele zu realisieren, die sie teilten: So wollten beide die alten politischen Zwänge abschaffen, Rede- und Versammlungsfreiheit garantieren, politische Gefangene befreien, eine Verfassung erstellen, Diskriminierung beenden und die Allmacht der Polizei wie der Bürokratie begrenzen. Im ersten Interview, das er als Premierminister gab, verkündete Fürst LwowLwow, Georgi optimistisch: »Ich glaube an das große Herz des russischen Volkes, und ich bin überzeugt, dass es die Grundlage unserer Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit ist.«1 Die Provisorische Regierung hatte erfahrene Leute in ihren Reihen und verfügte obendrein über internationale Unterstützung – dass sie am Ende dennoch scheiterte, kam für die Beobachter in den Hauptstädten der Alliierten überraschend.

      Das neue Kabinett entfernte sich mit seinem Personal, dessen Selbstdarstellung und politischer Orientierung allmählich vom Zarismus, wagte aber keinen radikalen Bruch mit der verhassten Autokratie. Premierminister LwowLwow, Georgi, Außenminister MiljukowMiljukow, Pawel und Verteidigungsminister GutschkowGutschkow, Alexander hatten reichlich Parlamentserfahrung und waren es gewohnt, Reden zu halten, Gesetze zu entwerfen und Kompromisse auszuhandeln. Betrachten wir offizielle Fotografien des Kabinetts, sehen wir Herren (keine Dame dabei!) in dunklen Anzügen, respektable Repräsentanten, wohlhabend, gebildet und mit gravitätischer Haltung, als sollte man ihnen ansehen, wie sehr sie ihrer Verantwortung bewusst waren. Politisch kamen sie aus der Mitte und aus der gemäßigten Rechten; die Einschränkungen bei den Wahlen zur Duma hatten zur Folge, dass darin nur wenige Vertreter der unteren Klassen saßen. Der luxuriöse Lebensstil jener Minister isolierte sie von den Leiden der russischen Massen; sie lebten in Landvillen oder noblen Stadtwohnungen und hatten Bedienstete. Ihr politisches Projekt bestand darin, ihr Land zu verwestlichen, eine republikanische Verfassung zu schreiben, die ökonomische Entwicklung zu beschleunigen, die Alphabetisierung voranzutreiben und die Wissenschaften zu fördern – kurz: aus den Russen moderne Europäer zu machen.2 Solchen Führern mochte man einen graduellen Übergang zum Neuen hin zutrauen, aber keine dramatische Revolution.

      Im Gegensatz dazu waren die Deputierten des Revolutionsrates Repräsentanten der aktuellen Massenstimmung; ihnen fehlte schlicht die Erfahrung, die man haben sollte, wenn man ein riesiges Land regieren will, noch dazu während eines Krieges. Selbst die Leitriege des Zentralen Exekutivkomitees im Petrograder Sowjet kannte kaum einer; das gilt sogar für Politiker wie Nikolos TschcheidseTschcheidse, Nikolos (Menschewiki) und Alexander KerenskiKerenski, Alexander (SR), immerhin führende Vertreter ihrer Parteien, und bei den Bolschewiki sah es nicht besser aus. Schnappschüsse aus der Zeit zeigen diese Leute mit vor Aufregung aufgerissenen Augen, wie sie in Lastwagen herumfahren oder auf Volksmengen einreden, wobei sie Arbeiterblusen oder Uniformröcke tragen und Gewehre in den Händen halten als Zeichen für ihre neuerrungene Macht. Nicht wenige von ihnen hatten Bildung und einen gewissen Rang erworben – Gewerkschaftsführer etwa oder Unteroffizier –, und doch standen sie dem Volk näher, denn sie hatten wie dieses Kälte, Hunger und Unrecht erlitten. Ihr »Befehl Nummer eins« ordnete die Einrichtung von Soldatenräten an, forderte politische Kontrolle über die Armee und schaffte einige exzessive Härten der militärischen Disziplin ab. Ihre politischen Ideale neigten zu einer egalitären Demokratie mit verbesserten Arbeitsbedingungen, genügend Lebensmitteln für alle und einer Rückkehr zum Frieden – all dies implizierte nicht nur eine politische, sondern auch eine soziale Revolution.3

      Der zwischen der Provisorischen Regierung und den Sowjets umstrittenste Punkt war, ob der Krieg fortgesetzt werden solle. In ihm spiegelte sich das Gegeneinander von patriotischen Offizieren und defätistischen Rekruten. In den westlichen Hauptstädten wurde die Februarrevolution mit großem Enthusiasmus begrüßt, denn nun konnte man dort noch leichter und glaubwürdiger propagieren, es stehe eine Front demokratischer Länder gegen die autoritären Mittelmächte. Als bürgerlicher Liberaler wollte Außenminister MiljukowMiljukow, Pawel durchhalten, bis ein »Entscheidungssieg« errungen sei. Dabei werde man, versprach er, die Verpflichtungen gegenüber den Alliierten unbedingt einhalten, wobei ihn freilich auch die Hoffnung umtrieb, die alten expansionistischen Ziele doch noch zu realisieren. Der kriegsmüde Petrograder Sowjet war empört: Er sah keinen Grund, einen Konflikt, den Russland ohnehin verlieren würde, um den Preis weiterer Menschenleben zu verlängern. Die Moderateren in den Sowjets fürchteten nun, dass die Antikriegsdemonstrationen sich zu einem Bürgerkrieg auswachsen würden, und schlugen als Mittelweg den »revolutionären Defensismus« vor: Man solle das Vaterland weiter militärisch verteidigen, die deutschen Invasoren vom russischen Boden fernhalten, gleichzeitig aber auf einen Kompromissfrieden hinarbeiten. Die Krise fand schließlich eine Lösung, die man »Koalition der Vernunft« betitelte: Sechs Angehörige des Sowjets – sämtlich aus den Reihen der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, darunter KerenskiKerenski, Alexander – traten mit einem Programm der radikalen Demokratisierung ins Kabinett der Provisorischen Regierung ein.4

      Gerade als es den Anschein hatte, dass sich die Regierung durch diese Verbreiterung ihrer politischen Basis stabilisierte, begannen die emigrierten Radikalen


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