Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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Erst als sich die ehemaligen Alliierten nicht über die Reparationen einigen konnten, die Deutschland zu zahlen habe, unterzeichneten die beiden Parias BerlinBerlin und MoskauMoskau 1922 in RapalloRapallo einen Normalisierungsvertrag, in dem jede Seite auf finanzielle Forderungen an die andere verzichtete. Gleichzeitig begann eine verdeckte militärische Kooperation.7

      Letztendlich waren die Gründe für das Überleben der bolschewistischen Minderheitsdiktatur doch komplexer, als es geläufige Erklärungen suggerieren. Allein die Legitimierung durch das Volk gab den Ausschlag, meinen die einen, allein rücksichtsloser Zwang, meinen die anderen, und beide greifen zu kurz. Falsch ist auch die Unterstellung, es sei eine kapitalistische Verschwörung am Werke gewesen. Vielmehr waren es die Unfähigkeit ihrer Feinde und ihr Mangel an Koordination, die den umkämpften Sowjetführern Luft verschafften. Kein Zweifel, die frühen Dekrete über sofortigen Frieden, Neuverteilung des Agrarbesitzes und Arbeiterkontrolle über die Betriebe erfüllten die Wünsche einer kriegsmüden, bodenhungrigen und ausgebeuteten Unterschicht in Russlands metropolitanen Zentren und seinen ländlichen Weiten. Eine nicht minder wichtige Rolle spielten die systematische Ausschaltung tatsächlicher oder vermeintlicher Konterrevolutionäre durch die Tscheka und das siegreiche Vorgehen der Roten Armee gegen diverse Verbände der »Weißen« und der »Grünen« (mit Letzterem sind lokal operierende antisowjetische Bauern-Partisanen gemeint). Ebenso aber waren bestimmte personale und gruppenspezifische Eigenschaften bedeutsam: LeninsLenin, Wladimir I. beharrlicher Wille und der Pragmatismus, mit dem er seine Politik den jeweiligen Bedingungen anpasste, aber auch die eiserne Disziplin, mit der sich die wachsende bolschewistische Partei den postrevolutionären Herausforderungen stellte.8 Trotz vieler unleugbarer Enttäuschungen blieb die Vision einer sozialistischen Moderne – Frieden, genug zu essen und menschlichere Arbeitsbedingungen – verheißungsvoll, versprach sie doch, das ehemalige Zarenreich mit Macht einer besseren Zukunft entgegenzusteuern.

      Revolutionärer Utopismus

      Im frühen 20. Jahrhundert musste Russland zwischen mehreren Wegen zur Moderne wählen, die jeweils eine spezifische Kombination aus Vorteilen und Belastungen mit sich brachten. Nachdem die Russen den Krim- und den Japankrieg verloren hatten, sahen bestimmte Vertreter der zaristischen Autokratie wie Graf WitteWitte, Sergej ein, dass das Land sich ökonomisch entwickeln musste. Nur dadurch konnte es militärisch stärker werden und mit anderen Mächten konkurrieren. Während die Befreiung der Leibeigenen die traditionelle, durch den Dualismus von adeligen Landgütern und bäuerlichen Kommunen gekennzeichnete agrarische Ordnung auflöste, schuf die rasche Industrialisierung ab den 1890er Jahren ein neues städtisches Proletariat. Die Herausforderung bestand nun darin, die notwendige Modernisierung zu gestalten, wenn auch nur defensiv und partiell. Die Wirtschaft sollte auf ein höheres Niveau kommen, aber ohne dass die sozialen Hierarchien erschüttert oder die administrativen Kontrollmechanismen des zaristischen Apparats geschwächt würden. Das paradoxe Projekt, mit dem westlichen Fortschritt gleichzuziehen, sich aber eine slawische Identität zu bewahren, scheiterte während des Ersten Weltkriegs, denn das widersprüchliche System erwies sich als nicht in der Lage, einen Zermürbungskrieg zu bestehen. Die autokratische »Modernisierung von oben« brachte wachsende Widersprüche hervor, bis die Modernisierer stürzten – und das zaristische System gleich mit zu Boden rissen.1

      Die Bildung einer parlamentarischen Regierung nach der Februarrevolution 1917 eröffnete neue Möglichkeiten für eine graduelle Entwicklung hin zur Demokratie unter der Ägide der Mittelschicht. Die Provisorische Regierung bestand aus erfahrenen Duma-Abgeordneten, die eine Verfassung westlichen Stils erarbeiten wollten, um Rechtsstaatlichkeit und Selbstverwaltung sicherzustellen. Führende Geschäftsleute sowie Freiberufliche leisteten Hilfsdienste, und die Provisorische Regierung konnte auf den organisatorischen Sachverstand der in den semstwa zivilgesellschaftlich Engagierten zählen. Ihr ökonomisches Programm setzte sich Freiheit für die individuelle Initiative zum Ziel und einen Wettbewerbsmarkt, der, so vermeinten sie, weiteres dynamisches Wachstum anschieben werde. Aus der Furcht vor Anarchie und Chaos geboren, erzeugte dieses Szenario ein fatales Ungleichgewicht: Man kümmerte sich hauptsächlich darum, eine Verfassung zu entwickeln und das Privateigentum zu schützen, wenig aber um die Forderungen des Volkes nach besserer Versorgung mit Lebensmitteln und der Verteilung von Land an die Bauern. Der fundamentale Fehler der Provisorischen Regierung aber war ihre Entscheidung, den Krieg fortzusetzen, die sie die Unterstützung der erschöpften Massen kostete. Indem sie einen nationalistischen Kurs verfolgte, vertat die eben erst führende Kraft gewordene Bourgeoisie die Chance einer liberalen Entwicklung hin zur Moderne.2

      Das Scheitern des liberal-evolutionären Weges ermöglichte die radikale Variante, den Versuch einer Modernisierung von unten durch Revolution. Die Bolschewiki gewannen den Wettbewerb unter den sozialistischen Parteien, weil sie versprachen, die unmittelbaren Wünsche der Massen zu erfüllen. Denn die populistischen Sozialrevolutionäre agitierten hauptsächlich für die Verteilung von Grund und Boden, während die Menschewiki die notwendige kapitalistische Entwicklung nur durch flankierende soziale Reformen mäßigen und mildern wollten. Da gedachten andere weiter zu gehen und kamen auch weiter: In seiner eine Revision des Marxismus vornehmenden Schrift Staat und Revolution befürwortete LeninLenin, Wladimir I. eine sozialistische Revolution, die sich die Errichtung einer Diktatur des Proletariats zum Ziel setzt. Mit diesem Buch lieferte der Chefideologe die theoretische Rechtfertigung für die bolschewistische Machtergreifung in Russland. Außerdem erwies sich sein pragmatischer Beschluss, nicht schon Anfang Juli eine Entscheidung zu erzwingen, sondern zu warten, bis sich die Situation Ende Oktober für die Gegenseite weiter verschlechtert hatte, letztlich als richtig.3 Obwohl die Bolschewiki das Jahr als Minderheit begonnen hatten – sogar innerhalb der Sowjets waren sie eine –, verfing ihre Parole »Brot, Land und Frieden« bei Arbeitern, Bauern und Soldaten, sodass sie ihre Anhängerschaft stetig vergrößern konnten. Der Erfolg ihres Coups verschaffte ihnen eine von der orthodoxen marxistischen Theorie für undenkbar gehaltene Gelegenheit, ihre sozialistischen Träume zu verwirklichen.

      Die Bolschewiki begriffen, dass sie sich nur an der Macht halten konnten, wenn sie die Wirtschaft modernisierten, um ihr soziales Programm auch den Massen schmackhaft zu machen. Lenin selbst glaubte: »Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes«. Ab Februar 1920 realisierte daher eine Kommission der Sowjets, unterstützt von Wissenschaftlern und Ingenieuren, den »GOELRO-Plan«, der die Elektrifizierung Russlands zum Ziel hatte. Dafür wurde ein Netz aus dreißig regionalen Kraftwerken errichtet, wobei sowohl Kohle- als auch Wasserenergie zum Einsatz kamen. Die gigantische Anstrengung sollte binnen einer Dekade die Leistungskapazität auf das Vierfache dessen steigern, was Russland im letzten Jahr vor dem Krieg an Strom zur Verfügung gestanden hatte. Mit dieser raschen Elektrifizierung wollte Lenin »die Organisation der Industrie auf der Basis moderner, fortschrittlicher Technik« voranbringen sowie Stadt und Land verbinden, »um auch in den entlegensten Winkeln des Landes Rückständigkeit, Ignoranz, Armut, Krankheit und Barbarei zu überwinden«.4 Dies war ein klassisches Bekenntnis zum kommunistischen Weg in die Moderne; es enthielt das Versprechen, das Leben der Massen durch die Einführung industrieller Technik zu verbessern.

      Die revolutionäre Modernisierung eröffnete Russland die Chance einer raschen Entwicklung – freilich um den Preis einer erschreckend hohen Zahl an Menschenleben. Laut MarxMarx, Karl stand nach dem Feudalismus ja eigentlich erst jene Gesellschaftsformation an, die er als Kapitalismus und bürgerliche Demokratie beschrieb. Die Sowjets übersprangen also eine ganze historische Phase, und dies erforderte viel Zwang, denn Prozesse wie die Alphabetisierung des gesamten Landes, die anderswo die Lebenszeit mehrerer Generationen gedauert hatten, mussten in wenigen Jahren durchgepeitscht werden. Für die Bolschewiki und die Intelligenzija, die sie unterstützte, waren Planung und Aufbau einer neuen Sowjetgesellschaft ein erregendes Projekt, dessen diktatorischer Charakter sich moralisch rechtfertigen ließ. Doch die Mehrheit des Volkes ersehnte diese utopische Transformation nicht unbedingt, sie wollte lieber ihr normales Leben in vorhersagbaren Umständen fortsetzen. Allzu bald wurde die Kehrseite der mit so viel Mühen herbeiforcierten Modernität sichtbar: Zwangsarbeit in der Industrie, viel Hunger auf dem Lande und ein System aus übers ganze Staatsgebiet verteilten Straflagern. Da sich kaum zwischen diesen grausamen Leiden und der tatsächlichen Verbesserung der Lebensbedingungen abwägen lässt, war die Beurteilung der Oktoberrevolution stets ein Streitobjekt und wird es auch noch für lange Zeit bleiben.5

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