Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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bestehend aus 15 000 Offizieren und Matrosen; ferner mussten die Deutschen sämtliche U-Boote abliefern. Österreich und Ungarn gestand man Zwergarmeen von je 30 000 Mann zu. Aufgrund dieser drastischen Reduktionen standen die Verliererländer praktisch ohne Verteidigung da, was Groll und Zorn in den Kreisen ehemaliger Militärs schürte, die sich plötzlich ohne Beschäftigung sahen. Da die neuen Staaten Polen und Tschechoslowakei auf eine Stärke von je einer halben Million Soldaten hochrüsteten, bewirkte die einseitige Entmilitarisierung ein gewaltiges Ungleichgewicht der Kräfte inmitten Europas. Auch fachte die Umsetzung dieser ganzen Auflagen ständig neue Konflikte an.6

      Der vielleicht umstrittenste Punkt im Gesamtpaket der Verträge betraf die Reparationen. Sowohl in England als auch in Frankreich, das zusätzlich eine Menge Wiederaufbauarbeit vor sich hatte, erklang die von Chauvinisten befeuerte Forderung: »Deutschland muss zahlen!« Der Berater der amerikanischen Friedensdelegation, John Foster DullesDulles, John Foster, formulierte einen Passus, der in den Vertragstext eingefügt werden sollte und der explizit die deutsche Verantwortung für den Ausbruch des Krieges feststellte. Dieser Abschnitt wurde der berüchtigte Artikel 231, die infame »Kriegsschuldklausel«. Nun hatten manche Alliierte auch noch Schulden bei anderen Alliierten, was die Beratungen nicht eben erleichterte. Im Wesentlichen kreisten die Pariser Debatten um drei Fragen. Erstens: Wie erfasst man die Höhe der Zivilschäden? Zweitens: Wie viel soll Deutschland zahlen? Drittens: Wie ist das zusammenkommende Geld zu verteilen? Einig waren sich die Friedensstifter lediglich darin, eine fixe Summe zu verlangen, nicht aber darüber, wie hoch diese sein solle und in wie vielen Jahren die Besiegten sie ratenweise zu erbringen hätten. Die endgültige Entscheidung fiel erst 1921. Der ursprünglich vorgeschlagene Betrag von 269 Milliarden Goldmark erschien den vergeltungssüchtigen Siegern enttäuschend niedrig, den Verlierern hingegen astronomisch hoch – da müsste man ja bis 1999 zahlen, hieß es. Der Vertreter des Britischen Schatzamts, John Maynard KeynesKeynes, John Maynard, hielt die Forderungen für ökonomisch absurd, drang aber nicht durch und verließ die Delegation. Nicht zuletzt infolge seines Austritts vergiftete die Debatte um die Gerechtigkeit der alliierten Reparationsforderungen die Nachkriegspolitik über Jahre hinweg.7

      Zu guter Letzt erörterte die Pariser Friedenskonferenz die Frage, wie mit den deutschen Kolonien und den abgetrennten türkischen Provinzen zu verfahren sei. Diesbezüglich verfolgte England imperialistische Interessen, und auch die britischen dominions wollten ihren Teil der Beute. Dass nun sie die Kontrolle in jenen Regionen übernahmen, rechtfertigten die alliierten Verhandler mit einer nicht gerade objektiven Bilanz deutscher Übeltaten. Man erklärte die ehemaligen Kolonien der Besiegten zu »Mandatsgebieten« des Völkerbundes. Es gab drei Klassen von Mandaten, was im Grunde hieß: drei Grade der Bevormundung. Diese Entwicklung enttäuschte die antikolonialistischen Intellektuellen zutiefst, die auf sofortige Selbstbestimmung gehofft hatten. Frankreich und England teilten sich, die bisherigen Territorien zerstückelnd, TogoTogo, KamerunKamerun und OstafrikaOstafrika; JapanJapan erhielt den chinesischen Hafen TsingtauTsingtau, SüdafrikaSüdafrika gewann SüdwestafrikaDeutsch-Südwestafrika hinzu, AustralienAustralien durfte sich NeuguineaNeuguinea nehmen, und NeuseelandNeuseeland bekam SamoaSamoa. Im Nahen OstenNaher Osten wurden aus den früheren osmanischen Provinzen neue Staaten geformt. Theoretisch befanden sie sich auf dem Weg in die Unabhängigkeit, de facto aber lebten sie unter europäischer Herrschaft: der französischen in SyrienSyrien und im LibanonLibanon, der britischen auf dem Rest der arabischen Halbinsel.8 Viel Sprengstoff barg die Balfour-Deklaration von 1917, versprach sie doch »eine nationale Heimat für das jüdische Volk« in Palästina, was mit arabischen Ansprüchen kollidierte.9

      Beurteilt man die Pariser Verträge nach ihren Konsequenzen für die späteren Entwicklungen, bleibt der Befund, dass sie eher ein fehlerhaftes Konstrukt waren, denn sie kombinierten innovative Impulse Wilsonscher Art mit Verfügungen, aus denen ein regressiver Nationalismus sprach. Getrieben von einer rachsüchtigen Öffentlichkeit und angespornt von militärischen Beratern, ignorierten ClemenceauClemenceau, Georges und Lloyd GeorgeLloyd George, David die Appelle zur Mäßigung und unterminierten universelle Bestrebungen zugunsten der eigenen nationalen Interessen. WilsonWilson, Woodrow wiederum sah zwar ein: »Wenn wir das deutsche Volk demütigen und es zum Äußersten treiben, bringen wir jede Regierung dort, gleich welcher Art, zum Scheitern, und der Bolschewismus tritt an ihre Stelle.« Ebenso wollte der amerikanische Präsident aber die preußische Tücke vergelten, mit der die Deutschen Russland den schmählichen Vertrag von Brest-LitowskBrest-Litowsk diktiert hatten.10 WilsonsWilson, Woodrow Programm, das Demokratie in allen Ländern, nationale Selbstbestimmung und internationale Kooperation durchsetzen wollte, hätte vielleicht dem Nachkriegseuropa eine konstruktive Ordnung bescheren können, aber die vielen Modifikationen, die man an den Konzepten vornahm, und die Einseitigkeit, mit der man sie anwandte, ruinierten ihre Glaubwürdigkeit. Zugegeben, viele der konkreten Schwierigkeiten beim Versuch, die Ideen der neuen Diplomatie auszuführen, waren damals unmöglich vorherzusehen. Doch ihre halbherzige und widersprüchliche Umsetzung machte sie einerseits zu hart, als dass die Unterlegenen sie hätten akzeptieren, andererseits zu konziliant, als dass die Sieger sie hätten erzwingen können. Letztlich führte, wie sich zeigen sollte, diese Doppelnatur dazu, dass die Versuche misslangen.

      Demokratie auf dem Vormarsch

      Trotz allem verschaffte der Sieg der Alliierten Europa die Gelegenheit, sich für die liberale Vision der Moderne zu entscheiden. Ein Weg hin zu Selbstverwaltung und Selbstbestimmung innerhalb einer kooperativen internationalen Ordnung wurde sichtbar. Während die westlichen Alliierten sich bestätigt fühlten, konnten die östlichen Demokraten den Zusammenbruch der multiethnischen Imperien im genannten Sinne nutzen, indem sie etwa in republikanischen Verfassungen die Eigenständigkeit ihrer Völkerschaften festschrieben. Allerdings profitierten von der Gunst der Stunde auch bestimmte lokale Nationalisten. Diese wollten über bloße Autonomie hinausgehen und eine Reihe neuer Nationalstaaten schaffen, die sie mit ihrem reichlich mythischen Geschichtsverständnis legitimierten. Der Vorgang stellte die sozialen Hierarchien auf den Kopf: Frühere Untertanen, so Polen und Tschechen, saßen jetzt an der Spitze, und wo sie regierten, fanden sich ihre einstigen Herren selbst als Minderheiten wieder, ohne einen Staat, der sie unterstützte. Um aber dieses ehrgeizige Ziel einer Souveränität zu verwirklichen, mussten die neuen Demokratien einige Probleme überwinden: die ererbte Unterentwicklung, die Verwüstungen des Krieges und die Widrigkeiten, die ein Übergang von der Nachkriegszeit in die Normalität bereithielt.1 Für ihr state-building waren neue gouvernementale Strukturen erforderlich, und dies betraf weite Bereiche – Polizei wie Militär, Postbeamte wie Steuereinnehmer, Parlament wie Diplomatie.

      Da die Alliierten propagiert hatten, sie kämpften für die Demokratie, und die Autokratien nun kollabiert waren, gewann im Westen die parlamentarische Regierungsform als überlegenes politisches System noch mehr Attraktivität. Aber die unsäglichen Opfer an Leben und Gesundheit, die im Krieg erbracht worden waren, motivierten auch Veteranen und Suffragetten, neue Rechte als verdienten Lohn für das staatsbürgerliche Engagement einzuklagen, das Männer wie Frauen während des Konfliktes bewiesen hatten. Die kleineren neutralen Demokratien wie die Schweiz und die skandinavischen Länder bekräftigten, an ihrer Art der Selbstbestimmung festzuhalten, und erweiterten sie um einige Partizipationsmöglichkeiten. In England brachte der »Representation of the People Act« 1918 hinsichtlich der ›Volksvertretung‹ einige Reformen: Der Zensus wurde abgeschafft, ein Mindesteinkommen war also nicht länger Vorbedingung für die Teilnahme am Urnengang. Alle Männer ab 21 durften jetzt wählen, desgleichen alle Frauen ab 30. Die Dritte Französische Republik gewährte schon seit längerem fast allen Männern das Wahlrecht, doch Frauen erhielten es erst viel später, nämlich 1944 (!). Desgleichen organisierten die Regierenden Hilfe für Veteranen, Verwundete sowie Kriegerwitwen und taten damit erste Schritte in Richtung eines modernen Wohlfahrtsstaats. Weiterreichende Forderungen, etwa die der Arbeiter nach sozialen Reformen und Kontrolle über die Betriebe, wurden höheren Ortes allerdings generell abgeblockt. Am kapitalistischen Klassensystem änderte all der Wandel verhältnismäßig wenig.2

      Ein Dutzend neue Demokratien waren vom Baltikum bis zum BalkanBalkan entstanden, die mit hochfliegenden Hoffnungen in die Nachkriegsepoche gingen, dass die Unabhängigkeit ihren Völkern ein besseres Leben verschaffen möge. Nie mehr würden sie sich von Bürokraten herablassend behandeln lassen müssen, die nicht einmal die Sprache derer verstanden, die sie herumkommandierten;


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