Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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nationalbewusst und bereit, sich in die neue Ordnung einzubringen. Doch die Realität erwies sich als eher ernüchternd. All den neuen Staaten – außer Ungarn – machten ethnische Minderheiten das Leben schwer, die lautstark Autonomie für sich beanspruchten, lieber zu einem Nachbarland gehören wollten oder einen eigenen Staat zu gründen begehrten. Die neuen Zölle, die die einheimische Industrie schützen sollten, unterbrachen alte Handelsrouten und strangulierten den Markt wie auch die ökonomische Entwicklung. Ferner kostete die Errichtung staatlicher Schulen, Krankenhäuser und Polizeistationen Unsummen Geldes, das man sich im Ausland leihen musste. Da ihre Völker Selbstbestimmung nicht gewohnt waren, wandelten sich, außer der Tschechoslowakei, all jene neu entstandenen Demokratien zu nationalistisch-autoritären Regimen, so etwa Polen unter General Józef PiłsudskiPiłsudski, Józef.3

      Auch beim Kriegsverlierer Deutschland triumphierte die Demokratie, denn die Novemberrevolution von 1918 stürzte Wilhelm II. Als die Matrosen in den Häfen Wilhelmshaven und Kiel hörten, dass sie zu einer finalen Schlacht gegen die British Royal Navy aufbrechen sollten, meuterten sie; solch eine heroische Aktion am Ende eines verlorenen Krieges erschien ihnen sinnlos. Da auch viele Arbeiter in den Fabriken streikten, musste der diskreditierte KaiserWilhelm II. abdanken und floh per Eisenbahn nach Holland – ein schmachvoller Rückzug. In BerlinBerlin hofften Spartakisten und einige Gewerkschaftsführer, sie könnten ein revolutionäres Regime aus Arbeitern und Soldaten errichten, mit Räten nach bolschewistischem Vorbild. Um einer solchen Radikalisierung vorzubeugen, rief der moderate Sozialdemokrat Philipp ScheidemannScheidemann, Philipp am 9. November 1918 von einem Balkon des Reichstagsgebäudes: »Das Alte und Morsche, die Monarchie, ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue; es lebe die deutsche Republik!« Scheidemanns Parteifreund Friedrich EbertEbert, Friedrich wurde Kanzler der neuen republikanischen Regierung. Er manövrierte den Rat der Volksbeauftragten aus und stellte die Ordnung in der Hauptstadt wieder her – mit der Hilfe der Armee und der Rückendeckung des Unternehmertums.4

      Die konfliktreiche Weimarer Republik zu stabilisieren, war schwierig, aber immerhin nicht unmöglich. Gegründet wurde sie abseits der Orte, an denen die Leidenschaften des Volkes tobten, nämlich an der Geburtsstätte der deutschen Klassik. Liberale Parlamentarier wie Hugo PreußPreuß, Hugo erarbeiteten dem neuen Staat eine fortschrittliche Verfassung, die proportionale Repräsentation vorsah und den Frauen das Wahlrecht gab. Schockiert zeigte sich das Kabinett jedoch über die herben Bedingungen des Versailler Vertrages. Man hatte gehofft, die Sieger würden mehr Großzügigkeit walten lassen – da Deutschland inzwischen doch eine Demokratie sei. Und die brauchte Unterstützung. Auf der Rechten wurde die frischgebackene Republik belagert von revanchistischen Nationalisten, die eine »Dolchstoßlegende« über den Kriegsausgang zurechtzimmerten: Die Niederlage der Armee sei allein durch Subversion an der Heimatfront verursacht worden, und in der Demokratie sahen diese Extremisten eine Komplizin der Alliierten. Auf der Linken befeuerten Kommunisten und Anarchisten die Rebellion in den Industriegebieten, um so die Macht an sich zu reißen und ein Regime nach sowjetischer Manier zu errichten. Außerdem streiften die paramilitärischen Freikorps durch die Straßen und ermordeten politische Gegner wie Karl LiebknechtLiebknecht, Karl und Rosa LuxemburgLuxemburg, Rosa; anders als mit Gewalt, behaupteten sie, könne man weder die Ordnung im Inneren aufrechterhalten noch Deutschlands Ostgrenzen verteidigen. Trotzdem überlebte die Republik ihre turbulenten Anfänge, nicht zuletzt, weil die Arbeiterklasse hinter ihr stand. Allmählich gewann sie bei ihren Bürgern ein gewisses Maß an widerwilligem Respekt.5

      Einer ungewissen Zukunft sah die Demokratie auch in den neuen Staaten Österreich und Ungarn entgegen, die vorher noch nie in dieser Form und diesem Zuschnitt existiert hatten. Das deutschsprachige Österreich besaß nun mit Wien eine überdimensionale Hauptstadt, deren politisches Leben zwischen den Parteien der Mittelschicht und jenen der Arbeiterklasse vermitteln musste; die wichtigsten Antipoden bildeten die Christlich-Sozialen und die Sozialdemokraten. Die Mehrheit der österreichischen Parteien befürwortete den Anschluss an die Weimarer Republik, doch der Vertrag von Saint-GermainSaint-Germain verbot exakt diese naheliegende Lösung, um Deutschland nicht zu stark werden zu lassen. Von seinen bisherigen Handelspartnern durch nationalistische Zölle abgeschnitten, blieb WienWien auf westliche Kredite angewiesen. Ungarn konnte sich immerhin freuen, endlich unabhängig zu sein; allerdings hatte es den Verlust eines Drittels der magyarischen Ethnie zu beklagen – so ungünstig für diese Bevölkerungsgruppe waren die Grenzverläufe durch den Vertrag von TrianonTrianon geändert worden. Der Aufstand unter Béla KunKun, Béla brachte 1919 kurzfristig die Kommunisten in BudapestBudapest an die Macht, aber nach einer Weile stellte die rumänische Armee die konterrevolutionäre Ordnung wieder her. Im Januar 1920 rissen rechte Kräfte die Herrschaft an sich, sodass Admiral Miklós HorthyHorthy, Miklós für die nächsten zwei Jahrzehnte Ungarn autoritär regieren konnte. So schuf die von außen auferlegte Selbstbestimmung zwei revisionistische Staaten, die mit dem Frieden unglücklich waren.6

      Der Siegeszug der Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg riss viele Länder mit; die große Ausnahme blieb die Sowjetunion. Sie präsentierte sich als egalitäre Alternative zur Wilsonschen Vision. LeninLenin, Wladimir I. brandmarkte unermüdlich die parlamentarische Regierung als Pseudoveranstaltung; nur vorgeschoben sei ihr Anspruch, die Bürgerrechte gegen zaristische Verfolgung zu schützen. Statt für eine Erweiterung der politischen Partizipationsmöglichkeiten innerhalb eines kapitalistischen Systems zu streiten, betonten die Bolschewiken die Notwendigkeit, der wirtschaftlichen Ausbeutung ein Ende zu bereiten; nur so lasse sich soziale Gerechtigkeit erreichen, die Vorbedingung echter Demokratie. Obwohl diese Gegnerschaft zu den westlichen Klassenhierarchien durchaus einigen Eindruck machte, installierten die Sowjets nach der Revolution eine »Diktatur des Proletariats«. Ihre Begründung lautete, sie müssten Gewalt gebrauchen, um ihre sozialen Veränderungen abzusichern, denn sie seien von Klassenfeinden umstellt. Auch die »Kommunistische Internationale«, kurz »Komintern«, der 1919 gegründete internationale Dachverband aller sozialistischen Parteien Moskauer Prägung, propagierte diese Legitimation eifrig. Manchen Gruppen im Westen erschien die Rechtfertigung plausibel, desillusionierte Intellektuelle und leidende Arbeiter etwa begrüßten den kritischen Impetus gegen kapitalistische Ausbeutung.7 Doch erlangte die kommunistische Radikalisierung des Sozialismus – obwohl sie hier und da ein paar Aufstände zu entzünden vermochte – nie so ganz die Attraktivität, derer sie bedurft hätte, um die gemäßigteren Demokratiekonzepte zu verdrängen.

      Die Demokratisierungswelle nach dem Ersten Weltkrieg zeitigte letztlich enttäuschende Ergebnisse, da die meisten neuen Regime an ungenügender Vorbereitung und widrigen Umständen scheiterten. Innerhalb Mittel- und Osteuropas bemächtigten sich gebildete Minderheiten, die sich früher, als die Imperien noch existierten, ausgeschlossen gefühlt hatten, im Namen der Selbstbestimmung der Beamtenapparate, während sich die bäuerliche Majorität lediglich nach einem besseren Leben sehnte. Dass sich so oft Demokratie mit Nationalismus verband, entzündete eine endlose Folge von Konflikten, denn die Minderheiten innerhalb der Nationen, die der Frieden geschaffen hatte, bekämpften die Bemühungen der neuen Regierungen um sprachliche und kulturelle Vereinheitlichung.8 Das Entstehen eines Dutzends neuer Nationalstaaten brachte neue Zollgrenzen mit sich, und die beschädigten bewährte Handelsbeziehungen. Die Kosten des Staatsaufbaus brachten die neuen Regime in den Bankrott. Zu guter Letzt war die Zivilgesellschaft noch zu schwach entwickelt, was der Intoleranz Vorschub leistete; demokratische Gebräuche hatte man noch nicht genügend eingeübt. Folglich wuchs das Verlangen nach einer starken Führung. Hervorgegangen aus einer Revolution oder einer Niederlage, stieß die Demokratie in Nachkriegseuropa auf enorme Hindernisse. Bestenfalls lässt sich befinden, dass die neuen Nationalstaaten dem Wunsch nach Selbstbestimmung entsprachen und durchscheinen ließen, was aus der Demokratie unter günstigeren Bedingungen in Zukunft werden konnte.9

      Mühen der Sieger

      Sogar in den Bevölkerungen der Siegermächte regte sich bald Enttäuschung über die Demokratie, denn sie fanden ihren Lohn für die erbrachten Opfer unangemessen gering und den Übergang von der Nachkriegszeit zur Normalität mühsam. Das bessere Leben, das die Propaganda ihnen versprochen hatte, ließ auf sich warten, und viele Trophäen, die gewisse Geheimverträge in Aussicht gestellt hatten, blieben unerreichbar. Ferner zeigte sich, dass die Umdisponierung von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft zeitaufwendiger, teurer und störanfälliger war als gedacht. Der Bedarf an Konsumgütern, den man während der Kämpfe


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