Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


Скачать книгу
und ob die ihnen auf Dauer sicher war, erschien den Franzosen mit der Zeit immer zweifelhafter. ParisParis schaute sich nach Ersatzpartnern um und schuf ein Netz neuer Bündnisse, das Polen, die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien einschloss. So entstand etwas, was als »Kleine Entente« in die Geschichte einging. Dieser geopolitisch kluge Schritt erwies sich freilich in der Folge als für Frankreich ziemlich teuer, denn die vier Partner verlangten massive Subventionen von ParisParis – schließlich mussten sie ja ihre Länder wirtschaftlich auf Vordermann bringen und militärische Schlagkraft entwickeln. Frankreich agierte generell glücklos: Selbst als es versuchte, die fristgerechte Entrichtung der Reparationen zu forcieren und sich dafür beispielsweise zur Ruhrbesetzung im Januar 1923 entschloss, ging der Schuss nach hinten los. Angesichts des »passiven Widerstandes« der Deutschen musste ParisParis erkennen, dass man mit Bajonetten keine Kohlen graben kann, und das Wagnis schließlich abbrechen. So strapazierte die Aufrechterhaltung der Dominanz die französischen Ressourcen bis an die Grenze der Belastbarkeit.6

      Anstatt vielfachen Profits bereitete der Triumph im Ersten Weltkrieg den Siegerländern unerwartete neue Probleme. Immerhin verstärkte der Sieg im Westen die Empfindung, dass man mit der liberalen Modernisierung auf dem rechten Pfad sei, schließlich habe am Ende die Demokratie die Autokratie geschlagen. Man freute sich auch über mehr Territorien, neue Kolonien, höhere militärische Sicherheit und weniger ökonomische Wettbewerber. Doch daheim bestätigte der Sieg nicht nur die parlamentarische Regierung, sondern auch die kapitalistische Ausbeutung und die Klassenhierarchie; die Forderungen der Kriegsveteranen nach Ausweitung des Wahlrechts, mehr sozialen Reformen und mehr Gleichheit blieben unerfüllt. Zwar entwarfen die Friedensvereinbarungen eine neue internationale Ordnung, nämlich ein Miteinander demokratischer Nationalstaaten; aber sie perpetuierten auch bestimmte Feindseligkeiten aus Kriegszeiten, denn das Eintreiben der Vertragsleistungen sorgte wiederum für Konflikte und zog sich entsprechend in die Länge.7 Die Regelungen entfachten gewaltigen Unmut bei jenen, die sich von ihnen übervorteilt fühlten und daher kaum Neigung hatten, sie als einen konstruktiven Plan für die Zukunft Europas zu akzeptieren. Hochfliegende Hoffnungen verwandelten sich dergestalt in bittere Enttäuschung – sogar bei manchen Siegerstaaten, darunter besonders Italien.

      Internationale Kooperation

      Dauerhaften Frieden zu stiften, hieß nicht allein, für ein Ende der Kämpfe zu sorgen, sondern auch, abgebrochene Verbindungen wiederherzustellen. Nur eine moderne internationale Ordnung konnte eine Wiederkehr des Gemetzels verhindern. Die vielen einzelnen Schritte hin zur Versöhnung mussten zahlreiche Hindernisse überwinden. Die Amerikaner und Briten zogen ihre Besatzungstruppen rasch wieder ab, die der Franzosen und Belgier blieben dagegen bis 1930 im Rheinland. Auch galt es, die Propagandaapparate zu demontieren, die während des Krieges den jeweiligen Feind herabgewürdigt hatten. Zwar wurde der Kaiser nicht vor Gericht gestellt, aber die »Kriegsschuldfrage« erregte noch jahrelang mit gegenseitigen Anklagen die Gemüter. Die Kooperation in internationalen Vereinigungen und Verbänden musste erneuert werden, sodass zum Beispiel Delegierte aus Verliererländern wieder Zutritt zu wissenschaftlichen Organisationen erhielten, in denen die Sieger dominierten. Und schließlich musste die Blockade beendet und der freie Handel über die Grenzen hinweg wiederaufgenommen werden. Die ökonomische Wiederbelebung wurde aber immer wieder gehemmt: Man stritt um Patente, die der Feind für nichtig erklärt, um Betriebe, der er beschlagnahmt hatte – von dem ganzen Gezänk um die Reparationen gar nicht zu reden. Die Nachwirkungen des Krieges zu heilen und den freundschaftlichen Austausch wiederherzustellen, war also ein langfristiger Prozess, in den auch nichtpolitische Bedrohungen störend hineinwirkten, etwa die Grippeepidemie 1919.1

      Mit der Lösung jener Probleme, die sich aus den Friedensregelungen ergaben, und dem Wiederbeleben internationaler Kooperation betraute man eine neue Organisation namens »Völkerbund«. Er wurde 1919 als intergouvernementales Gefüge gegründet und nahm sein Hauptquartier in GenfGenf – einer französischsprachigen Stadt in der neutralen Schweiz. An der Spitze dieser Assoziation souveräner Staaten stand der Generalsekretär; die eigentliche politische Tätigkeit verrichtete der Exekutivrat, der ein paar wenige ständige Mitglieder und rund ein Dutzend nichtständige hatte, wobei die letzten nach einem festen Turnus wechselten. Oberstes Entscheidungsorgan war aber die Generalversammlung, in der jedes Mitgliedsland eine Stimme besaß. Dem Ständigen Generalsekretariat arbeiteten mehrere Untergremien zu, welche die Kooperation in bestimmten Bereichen arrangierten, so der Ständige Internationale Gerichtshof, die Internationale Arbeitsorganisation, die Gesundheitsorganisation und die Hohe Flüchtlingskommission. Laut Satzung strebte der Völkerbund die Verhinderung eines weiteren Weltkrieges an; zu diesem Zweck sollte »internationaler Frieden und Sicherheit« durch offene Diplomatie, Abrüstung, Verhandlungen und Schlichtungen erreicht werden. Diese neue Institution, eine persönliche Kopfgeburt Präsident WilsonsWilson, Woodrow, war ein kühner Versuch, die klassische Politik des Gleichgewichts der Mächte durch die Formalisierung internationaler Kooperation auf eine höhere Ebene zu heben.2

      Beim Friedensstiften hatte der Völkerbund nur begrenzten Erfolg, denn ein paar wichtige Staaten gehörten ihm nicht an, und seine Entscheidungen trugen doch sehr die Handschrift der Siegermächte. Dass die USAVereinigte Staaten nicht beitreten mochten, war für die Genfer Liga ein harter Schlag. Deutschland und Russland wiederum ließ man zunächst nicht hinein – damit fehlten aber ausgerechnet zwei der problematischsten Mächte in den Beratungen der Organisation. Gebunden an den Versailler Vertrag, garantierte sie die Unabhängigkeit DanzigsDanzig (Gdańsk), beaufsichtigte die französische Besetzung des SaargebietsSaarbecken und sicherte die Neuzuteilung der Kolonien über das Mandatssystem. Bei einigen Konflikten, etwa den deutsch-polnischen Rangeleien um OberschlesienOberschlesien, gelang es dem Völkerbund, Plebiszite zu organisieren, nach deren Ergebnissen er schließlich die Teilung der Provinz zwischen den beiden Staaten bestimmte. In geringfügigeren Angelegenheiten wie den Grenzstreitigkeiten zwischen Griechenland und Bulgarien 1925 konnte die Liga erfolgreich vermitteln. Ging es jedoch um die nationalen Interessen großer Länder, erwies sich der Völkerbund als weitgehend hilflos. Denn widerspenstige Mitglieder konnten sich erlauben, seine Beschlüsse zu ignorieren, vertrauten sie doch darauf, dass er nicht in der Lage war, diese militärisch durchzusetzen.3

      Um sich aus der Isolation ihrer Verbannung zu befreien, schlossen die outcasts Deutschland und Russland April 1922 im italienischen Badeort RapalloRapallo einen Freundschaftsvertrag. Das Agreement, das die Außenminister der beiden Staaten Walther RathenauRathenau, Walther und Georgi TschitscherinTschitscherin, Georgi ausgehandelt hatten, verstörte die Siegermächte des Krieges, denn es zeigte, dass die Weimarer Republik und Sowjetrussland nicht allein von ihrem guten Willen abhängig waren. Der Text des Vertrages kam recht harmlos daher, denn er legte nur fest, was die Partner einander erlassen wollten: Beide Länder, hieß es, »verzichten auf den gegenseitigen Ersatz ihrer Kriegskosten sowie auf den Ersatz der Kriegsschäden«. Praktisch bedeutete dies, dass das Reich keine Reparationen mehr für während der Oktoberrevolution verstaatlichtes ehemals deutsches Eigentum verlangte. Auch die Sowjets forderten keine Wiedergutmachung dessen mehr, was die Berliner Okkupanten auf russischem Boden angerichtet hatten. Der Vertrag versprach ferner, dass man künftig wieder normale diplomatische Beziehungen unterhalten und die wirtschaftliche Kooperation wiederaufnehmen werde; und das hatten beide Länder bitter nötig, weil sie aufgrund von Krieg und Revolution darniederlagen. Zusätzlich gab es in dem Text noch eine geheime Klausel, hinter der sich Brisanteres verbarg, nämlich die beiderseitige Bereitschaft zur militärischen Zusammenarbeit. Dadurch konnte die Reichswehr die Versailler Entwaffnungsbestimmungen umgehen, und die Sowjets erhielten Zugang zu deutscher Flugzeug-, Panzer- und U-Boot-Technik.4

      Der strittigste unter den Punkten, die nun die internationale Kooperation behinderten, war die Frage der Reparationen. Als die Reparationskommission den zu entrichtenden Betrag auf 269 Milliarden Goldmark festsetzte, war die deutsche Öffentlichkeit schockiert; und selbst einige ausländische Ökonomen hielten die Summe für zu hoch. Vielleicht hätte BerlinBerlin tatsächlich zahlen können, wenn es die Steuern erhöht und den Lebensstandard des deutschen Volkes gesenkt hätte. Dies wagte die Regierung jedoch nicht, da sie sich bereits zu sehr in der Defensive befand. Also spielte sie auf Zeit und begann erst einmal schleppend, Sachlieferungen zu leisten. Die anschließende RuhrbesetzungRuhrgebiet entfachte nationalistische Leidenschaften, zumal sie die ohnehin galoppierende Inflation beschleunigte. Darunter litt vor


Скачать книгу