Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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Die Einführung der Selbstbestimmung von oben herab, mit der der Völkerbund die Mittelmächte zu schwächen und Sowjetrussland draußen zu halten hoffte, sorgte für heftige Konflikte, die sich später zu ethnischen Säuberungen auswachsen sollten.4

      Eine internationale Organisation einzurichten, die in Konfliktfällen vermittelte und einem zweiten Weltkrieg vorbeugte, schien ebenfalls eine exzellente Idee. Eigentlich trat der Völkerbund das Erbe der Kongresssysteme um ein Jahrhundert versetzt an. Auf dem neu geschaffenen internationalen Forum sollten die Öffentlichkeiten verschiedener Länder ihre Meinungen austauschen, die Probleme der Welt diskutieren, rechtliche Leitlinien für den Umgang der Nationen miteinander festlegen, sich um lebenswichtige Einzelmaßnahmen wie den Arbeitsschutz kümmern – alles ehrenwerte Ziele, und was die Gremien erreichten, tat sicherlich einiges, um Spannungen zwischen Ländern zu mindern. Doch die Verteidiger nationaler Souveränität schafften es immer wieder, die Initiative zu sabotieren. Sie beharrten darauf, dass den Großmächten ein Vetorecht zustehe und dass die besiegten Feindnationen ausgeschlossen, die Sowjetunion gar nicht erst hereingelassen und die Vereinigten StaatenVereinigte Staaten am Beitritt gehindert werden müssten. Auch nötigten sie den Völkerbund, die Bestimmungen der umstrittenen Friedensverträge mit Härte durchzusetzen. Zwar gelang es der Genfer Liga, mehrere Grenzdispute durch Plebiszite beizulegen und ganz allgemein die internationalen Debatten zu zivilisieren; hingegen versagte sie katastrophal, als es darum ging, jene Streitigkeiten zwischen den Großmächten zu regeln, die später einen neuen Weltkrieg entzündeten.5

      Die Bemühungen um demokratische Modernisierung, die am Ende des Ersten Weltkrieges begannen, wirken in der Rückschau gleichzeitig bestechend und enttäuschend. Die Niederlage der Mittelmächte schuf eine historische Chance, einen Frieden zu errichten auf den Prinzipien der Demokratie, der Selbstbestimmung und der Einbindung in eine internationale Organisation. Dank jener attraktiven Ideen fanden die meisten Bürger Mittel- und Osteuropas WilsonsWilson, Woodrow liberales Reformprogramm sympathischer als LeninsLenin, Wladimir I. kommunistische Revolutionsverheißungen. Aber nationales Eiferertum und konservative Widerspenstigkeit seitens der siegreichen Alliierten machten die Implementierung dieser Ideale durch die Pariser Friedensverträge zu einer recht einseitigen Angelegenheit. Dass die Triumphanten in fast allen umstrittenen Fällen als die Begünstigten erschienen, fachte unter den Geschlagenen verbliebene Ressentiments neu an. Hinzu kamen inhaltliche Ungereimtheiten – etwa, dass man Selbstbestimmung in Ländern installierte, die dafür noch nicht reif waren; dass man Nationalstaaten in ethnisch durchmischten Regionen errichtete; dass man eine internationale Organisation gründete, ohne sicherzustellen, dass die Mitglieder Teile ihrer Souveränität abgaben. Infolge solcher Fehler blieb die liberale Moderne auf den Westen beschränkt. WilsonsWilson, Woodrow Vision hat auch noch später Demokraten inspiriert, doch bedurfte es einiger Überarbeitung und Weiterentwicklung, um zu gewährleisten, dass sie sich am Ende durchsetzte.6

      Die faschistische Alternative

      Der faschistische Marsch auf Rom, 1922. V. l. n. r.: Italo BalboBalbo, Italo, Benito MussoliniMussolini, Benito, Cesare Maria de VecchiVecchi, Cesare Maria de und Emilio de BonoBono, Emilio de

      Am 22. März 1919 versammelten sich in MailandMailand mehrere hundert Ex-Sozialisten, Syndikalisten, Futuristen und Veteranen, um eine neue politische Bewegung zu gründen, genannt Fasci di Combattimento (›Kampfverbände‹). Ihr künftiger Führer, der Journalist Benito MussoliniMussolini, Benito, der den Eintritt Italiens in den Krieg befürwortet hatte, verkündete das ehrgeizige Ziel, man wolle »das Fundament einer neuen Zivilisation legen«. Um »die begrenzten Horizonte all der verbrauchten und erschöpften Demokratien« zu überwinden sowie dem »gewalttätig utopischen Geist des Bolschewismus« entgegenzutreten, bedürfe es, so MussoliniMussolini, Benito, einer »italienischen Revolution«. Sein bunt zusammengeflicktes Programm umfasste Punkte wie diese: eine Nationalversammlung zur Reform des Staates, den Achtstundenarbeitstag, die Mitbestimmung der Belegschaft in Unternehmen, die Bildung eines technischen Sachverständigenrats und Maßnahmen gegen die Kirche. Später kamen noch Kranken- und Altersversicherung, die Beschlagnahme unbewirtschafteten Landes, eine hohe Steuer auf Kriegsgewinne, die Einziehung von Kirchenbesitz und die Militarisierung der Nation hinzu. Das Wort fasci im Namen dieser »Antipartei« bedeutet wörtlich ›Bündel‹ (Plural), was eine Reminiszenz an das alte RomRom beinhaltete: Damals wurden hohen Magistraten als Symbol ihrer Amtsgewalt sogenannte fasces vorangetragen Rutenbündel, in denen ein Beil steckte.1 Der eher bescheidene Beginn 1919 in MailandMailand markierte die Geburt einer neuen Ideologie, die sich zu einer dritten Version der Moderne entwickelte und nun mit den beiden anderen um die Zukunft Europas konkurrierte.

      Die faschistische Vision war eine merkwürdige Kombination aus Nationalismus und Sozialismus, womit sie sich die beiden großen ideologischen Kräfte des 20. Jahrhunderts zunutze zu machen suchte. Einen wesentlichen Grundpfeiler bildete ein übersteigerter »integraler Nationalismus«, wie ihn in Frankreich Charles MaurrasMaurras, Charles vertrat, der das eigene Vaterland als höchsten Wert über alle anderen setzte. Der Publizist Enrico CorradiniCorradini, Enrico knüpfte an diese nationalistische Botschaft an und übertrug sie auf die einheimischen Verhältnisse: »Italien ist«, kritisierte er, »materiell und moralisch eine proletarische Nation«, es habe jedoch die Pflicht, mit Ländern gleichzuziehen, die es in Sachen Wohlstand und Imperialismus weitergebracht hätten. Der Dichter Filippo Tommaso MarinettiMarinetti, Filippo Tommaso, Vertreter der Kunstströmung des Futurismus, verfocht ähnliche Ideen. In einem der Manifeste jener Bewegung verkündete er: »Wir wollen Krieg verherrlichen – die einzig wahre Hygiene der Welt –, den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Freiheitsbringer, schöne Ideen, für die zu sterben lohnt, und die Verachtung des Weibes.«2 Solch eine Rhetorik verfing bei Italienern, die Frustration empfanden angesichts der Diskrepanz zwischen der glorreichen Vergangenheit des Landes und seiner enttäuschenden Gegenwart. Zusätzlich inspiriert vom Sozialdarwinismus, träumten diese Ultranationalisten von einer nationalen Wiedergeburt, die im Inneren ein großes Gemeinschaftsgefühl stiften und nach außen die imperialen Besitztümer sichern und erweitern würde.

      Die andere Hauptstütze bestand aus einer Art Sozialismus, einem zurechtgebogenen allerdings, der vom klassischen Marxismus dadurch abwich, dass er sich zum Syndikalismus bekannte. Letzteren hatte der französische Theoretiker Georges SorelSorel, Georges inspiriert, der die direkte Aktion, die mythische Mobilisierungskraft des Generalstreiks und die Kontrolle der Arbeiter über die Betriebe pries. Auch trat er für Gewalt ein, als Mittel und als Zweck gleichermaßen. Solche Ideen gefielen Arturo LabriolaLabriola, Arturo und anderen italienischen Sozialisten, die nicht jene Geduld aufbringen mochten, die MarxMarx, Karl beharrlich einforderte, wenn er postulierte, die Revolution könne erst kommen, wenn der bürgerliche Kapitalismus sich fertig entwickelt habe. Die Syndikalisten teilten mit den Sozialisten manche Positionen: Wie diese hassten sie Ausbeutung und Ungleichheit, wie diese hofften sie auf eine revolutionäre Transformation, die dem Proletariat zur Macht verhelfen sollte. Anders jedoch als die einheimischen Sozialisten der Partito Socialista Italiano (PSI) waren die Syndikalisten produktivistisch orientiert, feierten also die Wachstumskräfte der Industrialisierung und stellten die Nation über die sozialen Klassen, die sie sich in einer großen nationalen Gemeinschaft vereint wünschten. Angesichts dieser nationalistischen Attitüde wundert es nicht, dass sie auch den italienischen Imperialismus und die Beteiligung ihres Landes am Weltkrieg unterstützten.3 Da sie den sozialistischen Internationalismus entschieden ablehnten, waren sie ferner bereit, gemeinsame Sache mit den radikalen Nationalisten zu machen.

      Gleichermaßen in Gegnerschaft zur bürgerlichen Demokratie wie zum Kommunismus, entwarfen die Faschisten eine alternative Variante der Moderne, innerhalb derer die Wiedergeburt der italienischen Nation besonderen Rang erhielt. Der Faschismus entstand in einer Modernisierungskrise des italienischen Staates, die durch die Belastungen des Ersten Weltkriegs und die Schwierigkeiten beim Übergang zum Frieden verschärft wurde. Zwar evozierten seine Rhetorik und sein Symbolgebrauch das Erbe des Römischen Imperiums; jedoch ist vielen Charakteristika der Bewegung Modernität nicht abzusprechen. Dazu gehören Massenmobilisierung, Führerkult, Männerbündelei, die Bewunderung der Jugend und die Ästhetisierung der Politik. Aus diesen Elementen, denen sich noch Hypernationalismus,


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