Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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Vermittler wieder Bewegung bringen. Unter der Verhandlungsführung des republikanischen Bankiers und späteren US-Vizepräsidenten Charles G. DawesDawes, Charles G. wurde ein Kompromiss gefunden mittels der Kürzung des Gesamtbetrages um die Hälfte sowie der Reduktion der jährlichen Zahlung auf vorläufig 1 Milliarde Mark. Spätestens nach fünf Jahren musste die jährliche Rate aber auf 2,5 Milliarden steigen. Finanziert werden sollte die Summe durch neue Steuern und amerikanische Anleihen. Unter dem Vorsitz Ramsay MacDonaldsMacDonald, Ramsay ratifizierte die Londoner Konferenz von 1924 diese Vereinbarung und hob auch die Pattsituation auf, die durch die Ruhrbesetzung verursacht worden war.5

      Diese Lösung verbesserte das internationale Klima hinreichend, um weitere Schritte in Richtung Kooperation zu tun. Dazu gehörten auch die Verträge, die der deutsche Außenminister Gustav StresemannStresemann, Gustav, sein britischer Amtskollege Austen ChamberlainChamberlain, Austen und Frankreichs Premierminister Aristide BriandBriand, Aristide 1925 in Locarno schlossen. Es handelte sich um Nichtangriffsvereinbarungen, mit denen die drei Länder die neuen Westgrenzen des Deutschen Reiches ratifizierten, wie sie in Versailles gezogen worden waren. Des Weiteren gab es in LocarnoLocarno Schiedsabkommen mit Polen und der Tschechoslowakei, die freilich nur festlegten, dass man künftig Streifragen gewaltfrei regeln wolle. So eröffnete sich für Deutschland die Chance auf eine friedliche Revision jenes Teils des Versailler Vertrages, der die Ostgrenzen betraf. Dieser Kompromiss verschaffte den Westmächten die Gewissheit, dass ihre Besitztümer sich außer Gefahr befanden. Zugleich vergalt er den Deutschen ihre »Erfüllungspolitik« mit der Hoffnung, dass die Verluste im Osten vielleicht nicht unbedingt dauerhaft seien – eine Hoffnung, die allerdings in Polen für Unruhe sorgte. Der versöhnliche »Geist von LocarnoLocarno« zeitigte eine Phase der Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich, die nicht nur möglich machte, dass BerlinBerlin 1926 dem Völkerbund beitrat, sondern auch, dass die französischen und belgischen Truppen schon 1930, also fünf Jahre früher als ursprünglich vorgesehen, das RheinlandRheinland räumten.6 Obwohl sich der dabei demonstrierte good will als flüchtig erwies, zeigte LocarnoLocarno doch, was die zwischen den Kriegen versuchte Versöhnungspolitik hätte erreichen können, wäre sie nur mit mehr Ernsthaftigkeit betrieben worden.

      Mit dem Nachlassen der Spannungen in Europa wurde es denkbar, dem dornigen Problem der Reparationen dadurch zu Leibe zu rücken, dass man die Ansprüche der Sieger noch weiter hinunterschraubte. Zwischen den meisten unparteiischen Beobachtern bestand mittlerweile Einigkeit, dass die Bürde für die deutsche Regierung zu schwer war. Erzwänge man die volle Begleichung, hätten die Rechten leichtes Spiel damit, die Weimarer Republik des Ausverkaufs zu zeihen. 1929 präsentierte deshalb eine internationale Kommission unter Leitung des US-Industriellen Owen D. YoungYoung, Owen D. folgenden Plan: Der Gesamtbetrag solle auf 115 Milliarden Mark reduziert werden, zahlbar in 59 Jahren, nur ein Drittel der Zwei-Millionen-Rate würde jährlich fällig, den Rest könne Deutschland später nachreichen.7 Freilich wurde mit dem Zusammenbruch der Wall-Street-Börse auch diese Summe illusorisch. Präsident Herbert HooverHoover, Herbert sah sich veranlasst, 1930 ein einjähriges Moratorium zu verkünden – in der Hoffnung, später würden die Zahlungen wieder aufgenommen. Doch die Große Depression wirkte so verheerend, dass man 1932 auf einer Konferenz in LausanneLausanne den Betrag um weitere 90 Prozent senkte, und als selbst diese Summe ein Ding der Unmöglichkeit schien, durfte Deutschland sich für zahlungsunfähig erklären. Nur ein Achtel des Totums wurde je gezahlt; die Bundesrepublik überwies den letzten Abschlag 2010!

      Obwohl die Emotionen der Bevölkerung die Versöhnung schwierig machten, bewies die in der zweiten Hälfte der 1920er schrittweise erfolgende Annäherung doch, dass Kooperation möglich war, wenn man sich nur ernsthaft genug darum bemühte. Aber das Erinnern an die Millionen toter und verstümmelter Soldaten, die Kriegerdenkmäler, die dafür errichtet wurden, und das Veranstalten von Veteranenparaden hielten den Hass gegen die ehemaligen Feinde lebendig. Viele Probleme, wie die neuen Grenzen und ethnische Minderheiten, waren unausräumbar, da konnten die Rahmenbedingungen noch so gut sein. Dennoch bot der Völkerbund ein vielversprechendes Forum für internationale Debatten und Konfliktlösungen – sofern die streitenden Parteien Bereitschaft zeigten, sich seinen Entscheidungen auch zu fügen. Die Sieger bemerkten zunehmend, dass ein Entgegenkommen bei bestimmten Punkten die Verlierer dazu bringen konnte, die übrigen zu beherzigen, während es den Niedergeworfenen langsam dämmerte, dass sie vielleicht ein paar der Bestimmungen würden modifizieren können, wenn sie den Rest des Vertrages akzeptierten. Damit sich der Abgrund des Misstrauens ein Stück weit schloss, bedurfte es eines langwierigen diplomatischen Prozesses, unterstützt durch eine freundliche Berichterstattung in den Medien. Nach LocarnoLocarno schien solch ein Fortschritt gar nicht mehr fern, doch als neue Unruhen den guten Willen auf die Probe stellten, erwies sich seine mangelnde Belastbarkeit.8

      Liberale Neugestaltung

      WilsonsWilson, Woodrow Programm war ein innovativer Versuch, eine liberale Ordnung für die Politik nach dem Kriege zu schaffen, der aber infolge unzureichender Umsetzung und immanenter Widersprüche scheiterte. Das Prinzip der Selbstverwaltung entsprach dem in vielen Völkern spürbaren Streben nach mehr Partizipation, um dessentwillen demokratische Verfassungen erstellt werden sollten. Das Versprechen der Selbstbestimmung ging ein auf die da und dort hochflammende nationalistische Agitation; den ethnischen Gruppen wurde nahegelegt, Nationalstaaten zu bilden. Der Vorschlag, internationale Kooperation zu organisieren, war motiviert durch den Wunsch, das Kriegerische aus der Politik des Mächtegleichgewichts herauszunehmen, indem man eine Institution kreierte, die Kriege überflüssig machte. WilsonsWilson, Woodrow fortschrittlichen Initiativen mangelte es nicht an Attraktivität, doch führten sie zu vielen neuen Problemen. Das kulturelle Erbe des Autoritarismus besaß noch subversives Potenzial genug, um demokratische Selbstverwaltung zu blockieren. Ethnisch gemischte Besiedlungen lösten Konflikte um Minderheiten und Grenzstreitigkeiten aus. Unwillig, sich ihre neue Souveränität schon wieder schmälern zu lassen, kooperierten unabhängige Staaten oft nur, wenn es in ihre Interessen passte. WilsonsWilson, Woodrow Vision betraf Kernprobleme der Moderne, nur verkannte er das destruktive Potenzial, das in ihr steckte.1

      Die Verbreitung der Demokratie in Mittel- und Osteuropa bot den ehemaligen Untertanen der Landimperien die nie dagewesene Chance, ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen. Der Sturz der zaristischen, der Habsburger und der Osmanischen Monarchie brachte die nationalen Bewegungen ihrem Ziel endlich näher. Inspiriert von den Idealen der Französischen Revolution, hatten jene Kämpfer sich gegen ihre tyrannischen Oberherren gestellt, waren jedoch durch das Scheitern der 1848er-Revolutionen empfindlich zurückgeworfen worden. Die Hartnäckigkeit, mit der die alte Ordnung ihr Regiment verteidigte, um sich ihre Privilegien zu erhalten, hatte nur stückweise Fortschritte in Richtung Selbstverwaltung zugelassen.2 Die autoritären Regime mussten erst niedergeworfen werden, bevor sich eine Gelegenheit eröffnete, politische Teilhabe zu umfassender Repräsentation auszuweiten. In den grimmigen ideologischen Zwisten nach dem Krieg gewann die demokratische Alternative anfangs überall die Oberhand – außer im autoritären Ungarn und in der radikalen Sowjetunion. Viele befreite Bürger waren aber noch nicht imstande, die frisch gewonnenen Rechte auch wahrzunehmen, denn sie hatten keinerlei Erfahrung mit Selbstverwaltung und Selbstbestimmung. Die Härten des Bürgerkrieges, ökonomische Einbußen und populistischer Nationalismus sorgten dafür, dass sich die neuen Demokratien gar zu bald in kleine Diktaturen verwandelten.3

      Durch die PariserParis Friedensverträge entstanden ein Dutzend neuer Nationalstaaten, die das Prinzip der Selbstbestimmung in Europa beträchtlich voranbrachten: verschiedene Ethnien konnten sich nun jeweils selbst regieren. Von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer durften ehemalige Untertanen russischer, deutscher und ungarischer Herrscher ihre eigenen Nationalstaaten bilden, in denen sie dann die Möglichkeit hatten, ihre Unabhängigkeitsträume zu realisieren. Die Befreiung von den früheren Herren bedeutete für die nunmehr Souveränen, dass sie in öffentlichen Angelegenheiten ihre eigene Sprache benutzen, ihre Kinder in den Schulen das gemeinsame kulturelle Erbe lehren und internationalen Respekt beanspruchen konnten wie ältere, bereits etablierte Nationen. Aber der Minderheitenschutz, den der Völkerbund verfügte, erwies sich als unzureichend für bestimmte Gebiete in Ostmitteleuropa, die eine starke ethnische Durchmischung aufwiesen. Denn in vielen Städten lebten mehrere Völkerschaften nebeneinander, beispielsweise Deutsche, Juden und Slawen in PragPrag. Volkszählungen, die ja auch nationale Zugehörigkeiten


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