Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


Скачать книгу
Kombination aus Teilstücken der Moderne, freilich aus bedenklichen. Was so entstand, war eine radikal nationalistische, expansionistische und Gewalt und Krieg verherrlichende Ideologie. Diese etwas konfuse Weltanschauung war »eine Form des revolutionären Ultra-Nationalismus um der nationalen Wiedergeburt willen, der hauptsächlich auf einer vitalistischen Philosophie basierte und zu dessen strukturbildenden Spezifika ein extremer Elitarismus, Massenmobilisierung, das Führerprinzip und Lobpreisung der Gewalt als Mittel und als Zweck zählten, ebenso die Tendenz, dem Krieg und/oder militärischen Tugenden den Status der Normalität zu verleihen«4 Alles in allem war der Faschismus eher ein Stil und ein Gefühl als eine systematische Ideologie.

      Will man die bestürzende Attraktivität verstehen, die der Faschismus als Alternative zu Liberalismus und Sozialismus erlangte, sollte man unbedingt zwischen dem polemischen und dem analytischen Gebrauch des Begriffs unterscheiden. Ein Teil des Problems liegt in der Tendenz der antifaschistischen Linken, alles, was ihr auf der Rechten bekämpfenswert erscheint, ›faschistisch‹ zu nennen. Diese undifferenzierte polemische Verwendung verwischt den beträchtlichen Unterschied zwischen wahrhaft faschistischen Systemen, die auf Massenmobilisierung rekurrieren, und traditionellen autoritären Regimen, die sich primär auf Monarchie, Kirche, Armee und Beamtenapparat stützen. So schlimm sie gewesen sein mögen, FrancoFranco, Francisco und SalazarSalazar, António de Oliveira waren weder MussoliniMussolini, Benito noch HitlerHitler, Adolf. Außerdem trägt zur Verwirrung bei, dass man zu wenig unterscheidet zwischen ›Faschismus‹ als Bezeichnung für das spezielle italienische Phänomen und einem allgemeineren Gebrauch des Terminus als Gattungsnamen, der Bezug nimmt auf die Verbreitung rechtsextremer Bewegungen in anderen Ländern, die mit dem italienischen Faschismus zumindest viele Glaubensinhalte teilten. Obwohl die Nationalsozialisten von MussolinisMussolini, Benito Beispiel inspiriert waren, gingen sie doch bald darüber hinaus, indem sie eine rassistischere und tödlichere Version einer ähnlichen Ideologie propagierten.5 Doch lässt man solche Differenzierungen einmal beiseite, ist die Feststellung richtig, dass das plötzliche Auftreten rechtsextremer Politikformen Europa in neue Wirren stürzte.

      Die Rückständigkeit Italiens

      Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war Italien, einem sarkastischen Ausspruch Fürst MetternichsMetternich, Klemens Wenzel Lothar von zufolge, kein Staat, sondern ein geografischer Begriff. Von Europa durch die Alpen abgeschnitten und vom Mittelmeer umgeben, erfreute Italien sich eines milden Klimas, aber sein fruchtbarer Boden litt unter Übernutzung, und es besaß wenige natürliche Ressourcen wie Kohle oder Eisen. Die große römische Vergangenheit war nur noch eine ferne Erinnerung, am Leben gehalten durch die physische Präsenz von Ruinen; die einst gemeinsame Sprache hatte sich in mehrere rivalisierende Dialekte aufgelöst. Zwar blieb der Stadt RomRom der Sitz des Papsttums, aber die katholische Kirche mochte sich nicht damit begnügen, eine spirituelle Kraft zu sein, und mischte sich in die weltliche Politik ein. Nach den Barbareninvasionen während der Völkerwanderung zerfiel das Land in Fürstentümer, die bald unter spanische, bald unter französische, bald unter habsburgische Oberherrschaft kamen. Während Stadtstaaten wie VenedigVenedig, FlorenzFlorenz und MailandMailand wegen ihres Wohlstands und ihrer hohen Kultur großen Ruhm genossen, blieb die italienische Halbinsel politisch zerklüftet, mit auch ökonomisch negativen Folgen. Zwischen dem industriellen Norden und dem agrarischen Süden bestanden enorme soziale Unterschiede, und die Überbevölkerung zwang zahllose Generationen zur Emigration in alle Welt.1

      Italien wurde erst 1861 zum Nationalstaat, und dass es dazu kam, verdankte das Land einem zufälligen Zusammenwirken von Ideologie, Rebellion und Diplomatie. Die napoleonische Besatzung hatte ein paar liberalisierende Reformen angestoßen und ein geistiges Wiederaufleben (risorgimento) inspiriert, das dem italienischen Stolz neuen Auftrieb gab und die Vereinigung zu einem Traum der Intellektuellen machte. Der republikanische Schriftsteller Giuseppe MazziniMazzini, Giuseppe verfasste poetische Aufrufe zum politischen Handeln, denen namentlich Studenten folgten, aber die einzelnen lokalen Erhebungen, einschließlich jener während der Revolutionen von 1848, scheiterten am Ende, und Mazzini musste nach England ins Exil. Erfolgreicher war der romantische Revolutionär Giuseppe GaribaldiGaribaldi, Giuseppe, der die bourbonische Dynastie in Neapel mit einer zusammengewürfelten Armee aus Bauern, Unzufriedenen und Abenteuern stürzte und so zu einer nationalen Legende wurde. Vollendet hat die Einheit Italiens jedoch der Reformer und Diplomat Graf Camillo di CavourCavour, Camillo di, Ministerpräsident von Piemont-SardinienPiemont-Sardinien. Mit Hilfe französischer Truppen und unter BismarcksBismarck, Otto von stiller Duldung verjagte er 1861 die österreichischen Fürsten, eroberte 1866 VenedigVenedig und besetzte 1870 RomRom. Alle befreiten Provinzen integrierte er in ein erweitertes PiemontPiemont, nur TrientTrient und TriestTriest waren nicht dabei.2

      Der so entstandene neue italienische Staat war eine konstitutionelle Monarchie, die sich dann schrittweise zu einer parlamentarischen Regierung entwickelte. Zwar galt jetzt wieder die Verfassung von 1848, das sogenannte Statuto, dem zufolge der König die allerhöchste Autorität innehatte, aber Vittorio Emmanuele II. Vittorio Emmanuele II.war keine starke Herrscherpersönlichkeit, sodass die Macht nach und nach auf die Minister und die Deputierten überging. Allerdings besaßen damals nur Männer und selbst von diesen nur zwei Prozent das Wahlrecht, dessen Ausweitung nun zum dauerhaften Zankapfel wurde. Da über zwei Drittel der Bevölkerung immer noch in der Landwirtschaft tätig und Analphabeten waren, blieb Politik vorerst ein Spiel unter Männern mit Besitz und Bildung, da die nicht mehr sehr einflussreichen Adeligen sich weitgehend damit begnügten, zu verzehren, was ihr Grundeigentum an Renten abwarf. Das Parlament zeigte sich in zwei Lager geteilt: hier eine konservativ-liberale Fraktion, welche die Privilegien ihrer Klientel verteidigte und nur wenige Zugeständnisse machen mochte; dort eine demokratisch-radikale Gruppe, die heftig mehr Rechte für das Volk einklagte, der es aber oft an Unterstützung durch die Wähler mangelte. Die herrschende Elite nun bediente sich einer Taktik, die als transformismo in die Geschichte einging: sie suchte ihre Kritiker zu vereinnahmen, indem sie ihnen ein Stück Macht abgab – in der Erwartung, diese würden dann schweigen.3 Entsprechend spielte die Politik sich in weiter Entfernung vom Leben der meisten Italiener ab, die tagtäglich ums Überleben kämpften, nicht selten in erbärmlicher Armut.

      Die katholische Kirche lehnte den entstehenden Nationalstaat ab, weil er vom Liberalismus inspiriert war. Immerhin hatte er sie schon um politische Macht und weltlichen Besitz gebracht. Über beides erzürnt, erklärte Papst Pius IX. Pius IX.sich zum »Gefangenen im Vatikan« und verweigerte jede Einigung mit der neuen nationalen Regierung, die sich in Rom einrichtete. Es trug nicht eben zur Entspannung bei, dass CavourCavour, Camillo di und die anderen liberalen Staatsbegründer kirchliches Eigentum konfiszierten und die Oberhoheit des Staates über den Unterricht in den Primarschulen sowie über die Eheschließungen beanspruchten; Letztere mussten nun auch zivil erfolgen. PapstPius IX. und Kurie reagierten, indem sie ihren »antimodernistischen« Kurs verhärteten und extrem rigide Doktrinen verkündeten, etwa das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit oder der unbefleckten Empfängnis Mariens. Zusätzlich publizierte man eine Schrift namens Syllabus errorum (›Verzeichnis der Irrtümer‹), die progressive säkulare Denk- und Politikrichtungen attackierte. Obwohl religiöse Rituale nach wie vor den Rhythmus des Alltagslebens der Pfarrkinder bestimmten, verbot der Vatikan seinen Schäfchen, an nationalen Wahlen teilzunehmen! Zwar bewahrte sich die Geistlichkeit im lokalen Bereich einiges ihrer alten Stärke, doch verhinderte die Weigerung der Kurie, den Nationalstaat anzuerkennen, eine ganze Weile die Formierung einer klerikal-konservativen Partei. Dies änderte sich erst kurz nach dem Weltkrieg 1919, als die Partito Popolare Italiano gegründet wurde, um den Katholiken im Felde der Politik eine Stimme zu verschaffen.4

      Eine weitere Hürde für den neuen Staat war die Langsamkeit der ökonomischen Entwicklung. Obwohl die meisten Italiener nach wie vor Ackerbau trieben, blieben die Erträge an Korn, Wein oder Oliven bescheiden, außer in einigen ergiebigen Gegenden, etwa der ToskanaToskana. Anderswo reichten die Ernten bestenfalls für den Eigenbedarf oder für die Belieferung der lokalen Märkte. In Mittel-Mittelitalien und SüditalienSüditalien dominierten Latifundien, auf denen Pächter leichtverkäufliches Getreide anbauten; oft jedoch bewirtschaftete man erschöpften Boden mit uralten, nicht besonders produktiven Methoden. Zwar besaß Italien zahlreiche hervorragende Handwerker, die Industrialisierung jedoch kam spät, denn es gab nur wenige natürliche Ressourcen, darunter Wasserkraft und Schwefel.


Скачать книгу