Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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Fabriken aber zunehmend Maschinen für die Herstellung von Textilien aus Schurwolle, Baumwolle oder Seide. Um das Land zusammenzuführen, trieb die Regierung den Bau von Eisenbahnlinien voran, der Ingenieurwesen und Technik Beträchtliches abverlangte, da zahllose geografische Hindernisse überwunden werden mussten.5 Behindert durch eingefleischten Konservatismus, beschleunigte Italien seine Industrialisierung erst ab 1896 und entwickelte seine eigene Stahl-, Schiffsbau- und Autoindustrie.

      Immer wieder kam es auf dem Land wie in den Städten zu sozialen Protesten gegen missliche Lebensbedingungen. Den Süden plagte eine Mischung aus rebellischem Banditentum, Mafia-Verbrechen und ländlicher Kriminalität. In den 1870ern stieß der exilierte russische Revolutionär Michail BakuninBakunin, Michail eine anarchistische Bewegung an, die lokale Erhebungen versuchte und schließlich politische Anschläge verübte. Mit dem Wachsen der industriellen Arbeiterklasse im Norden begann sich während der 1880er Jahre auch der marxistische Sozialismus zu entwickeln, der sich bald in zwei Richtungen spaltete: einen »legalistischen« Zweig (POI) und einen revolutionären Flügel (PSRI). Unter der Leitung des Mailänder Soziologen Filippo TuratiTurati, Filippo schlossen sich 1892 mehrere linke Gruppierungen zusammen und gründeten die Sozialistische Partei Italiens (PSI), dergestalt dem erfolgreichen Beispiel der deutschen Sozialdemokratischen Partei folgend. Dank der Rückendeckung durch die camere del lavoro (syndikalistische Arbeiterräte) und einer rasch expandierenden Riege von Gewerkschaften überlebte diese neue Partei mehrere Repressionswellen seitens der Regierung. Während der Jahre bis 1900 wurde die PSI so erfolgreich bei den Wahlen, dass das bürgerliche Kabinett auf Anregung des Ministerpräsidenten Giovanni GiolittiGiolitti, Giovanni Versuche unternahm, sozialistische Abgeordnete in die Regierungsverantwortung einzubinden, um jene Partei mit dem Staat zu versöhnen. Dennoch blieb in dieser Phase der Konflikt zwischen Reformern und Revolutionären ungelöst.6

      In der Hoffnung, auch eine Großmacht zu werden, erlag Italien den Verlockungen des Imperialismus. Freilich hatte es wenig Geschick bei der Wahl seiner Objekte, die es viel kosten sollten. 1890 erklärte die Regierung in RomRom EritreaEritrea am Horn von Afrika, wo Händler einen Stützpunkt etabliert hatten, zur italienischen Kolonie. Beflügelt vom Traum, Ruhm und Ehre des alten Rom wiederzubeleben, annektierte man 1905 noch SomaliaSomalia. Aber diese neuen Besitzungen verwickelten die unerfahrenen Imperialisten in einen Konflikt mit dem Kaiser von AbessinienAbessinien (Äthiopien) (heute Äthiopien), dessen Leute 1887 die italienischen Truppen besiegten. Diesen Rückschlag mochte man in RomRom nicht hinnehmen, und so drängte Premierminister Francesco CapriCapri, Francesco, Italien müsse seine Kontrolle auf das gesamte Äthiopische Reich ausdehnen. Aber das Kriegsglück war RomRom auch diesmal nicht hold: In der Schlacht von AduaAdua töteten die Abessinier rund 5000 italienische Soldaten und nahmen 2000 gefangen. Diese Niederlage war ein deutliches Warnsignal, doch CaprisCapri, Francesco Nachfolger GiolittiGiolitti, Giovanni ließ sich nicht beirren und attackierte 1911 das Osmanische Reich. Immerhin konnte man LibyenLibyen nach blutigen Auseinandersetzungen unterwerfen. Diese Prestigepolitik riss ein gewaltiges Defizit ins Staatsbudget, und die Überbevölkerung Italiens konnte sie auch nicht lindern, denn wenn emigriert wurde, dann nicht in die neu eroberten Gebiete, sondern anderswohin, etwa nach AmerikaVereinigte Staaten.7 Der imperialistische Kurs erwies sich als desaströs, denn er verschlang Ressourcen und nährte die chauvinistische Arroganz.

      Eine Welle nationalistischer Euphorie trug Italien zur Teilnahme am Ersten Weltkrieg, doch traten gerade dadurch die strukturellen Schwächen eines Landes zutage, das sich immer noch mit der Aufholjagd hin zur Moderne abmühte. Die anfängliche Entscheidung, neutral zu bleiben, war ein Kompromiss zwischen den Anhängern des Dreibunds und den Befürwortern der Befreiung des Italia irredenta, des ›unerlösten Italiens‹, gewesen. Mit dem Begriff bezeichneten die einheimischen Nationalisten ehemals italienische Territorien, die sich derzeit unter dem »habsburgischen Joch« befänden. Um solche Begehrlichkeiten genau wissend, versprach die Entente den Italienern, dass sie, wenn sie mitwirkten und man gemeinsam siegte, IstrienIstrien, TrientTrient und DalmatienDalmatien zurückbekommen und Kolonien hinzugewinnen würden. Daraufhin unterzeichnete Premierminister Sidney SonninoSonnino, Sydney getreu der Maxime des sacro egoismo den Vertrag von LondonLondon, und im Mai 1915 trat Italien in den Großen Krieg ein. Aber die Hoffnungen auf einen raschen Sieg über die multiethnischen österreichischen Streitkräfte zerstoben bald in den Schützengräben des FriaulFriaul, und in der Zwölften Isonzoschlacht – auch: ›Schlacht von KarfreitCaporetto (Karfreit)‹ – wurde Italiens Armee zerschlagen. Zwar expandierten Industriekonzerne wie FIAT während des Krieges rapide, aber die Moral in der Truppe war erbärmlich, weil die Soldaten kaum eine richtige Ausbildung erfahren hatten und außerdem nicht recht verstanden, für welche Sache sie eigentlich sterben sollten. Erschwerend hinzu kam die Unfähigkeit ihrer Führung. Erst im Oktober 1918 gelangen der italienischen Armee Siege über Österreich. Der Krieg kostete das Land 600 000 Tote und noch mehr Verwundete. Die sinnlosen Leiden vertieften den Graben zwischen der skeptischen Mehrheit und der interventionistischen Minderheit.8

      Die Nachkriegskrise

      Der Faschismus war ein Produkt der Krise, die der parlamentarischen Regierung nach dem Krieg zusetzte; Modernisierungsprobleme der geschilderten Art erleichterten ihm sein Wirken. Zwar erhielt Italien die meisten der Territorien, die ihm der Vertrag von LondonLondon zugesagt hatte, darunter TrientTrient, doch waren viele Veteranen enttäuscht, dass nicht auch die dalmatische Küste und die neuen Kolonien zur Kampfesbeute gehörten. Dass sich nicht all ihre Hoffnungen erfüllt hatten, machte die Nationalisten zornig, die von einer vittoria mutilata, einem ›verstümmelten Sieg‹ sprachen. Um den Verlauf der neuen Grenze zu Jugoslawien entbrannten heftige Kontroversen, denn in vielen Städten IstriensIstrien und DalmatiensDalmatien wohnten vorwiegend Italiener, während im Land ringsum meist mehrheitlich Slowenen und Kroaten lebten. Um RomRom unter Druck zu setzen, stellte der Dichter Gabriele d’Annunziod’Annunzio, Gabriele, ein Nationalist von kleiner Statur, eine Legion aus rund 2000 Ex-Soldaten, Deserteuren und Desperados zusammen und besetzte die Hafenstadt FiumeFiume (Rijeka), heute bekannt als Rijeka. Dort errichtete er ein Operettenregime mit reichlich Proklamationen und Paraden. Der Dichterd’Annunzio, Gabriele machte sich auch Gedanken über das äußere Erscheinungsbild und die Organisationsform der Bewegung, weshalb er einiges von dem erfand, womit die Faschisten später bekannt wurden, etwa einen spezifischen Gruß – damals die erhobene Faust – oder die »korporative Ordnung«. Schließlich musste die Marine d’Annunziod’Annunzio, Gabriele vertreiben, aber FiumeFiume (Rijeka) blieb eine italienische Stadt, was immerhin zeigte, wozu eine entschlossene rechte Miliz in der Lage war.1

      Die Kabinette NittiNitti, Francesco Saverio und GiolittiGiolitti, Giovanni erwiesen sich als unfähig, den ökonomischen Übergang zur Friedenszeit zu regeln, sodass sich ein Gefühl der Panik in der Mittelklasse ausbreitete. Da nach Gewehren, Kanonen, Munition und Schlachtschiffen keine Nachfrage mehr bestand, traf nicht wenige Firmen, die Kriegsmaterial hergestellt hatten, der Kollaps. Nach der Demobilisierung der Veteranen waren rund zwei Millionen arbeitslos, während die Inflation in die Höhe schnellte: Die Preise kletterten auf 600 Prozent des Standes von 1914. Angeregt durch das revolutionäre Beispiel der Bolschewiki, reagierten die Arbeiter auf die sich stetig verschärfende Rezession mit wachsender Militanz. Eine Reihe von Streiks legte die Produktion lahm, Hungerrevolten brachen aus, Fabriken wurden monatelang besetzt. In den agrarischen Gebieten bemächtigten sich die Bauern des Landes und plünderten die reichen Lagerbestände der Großgrundbesitzer. Als die Regierung versuchte, der Unzufriedenheit des Volkes zu begegnen, indem sie ihm ein paar Konzessionen machte – sie führte etwa den Achtstundentag und eine erweiterte Sozialversicherung ein –, fürchteten die Begüterten, man wolle ihnen ihren Besitz abnehmen oder wegbesteuern. Seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts waren Urnengänge kein gemütliches Spiel innerhalb der Eliten mehr, sondern ein Wettkampf unter Beteiligung der Volksmassen, mit ungewissem Ausgang.2 Die Politik zeigte sich der Aufgabe, einen Weg aus dem Nachkriegschaos zu finden und Stabilität wiederherzustellen, nicht gewachsen.

      Diese Wirrnis bot Chancen für populistische Newcomer wie den Journalisten Benito MussoliniMussolini, Benito. Er wurde 1883 in PredappioPredappio geboren, einer kleinen Stadt der RomagnaRomagna, und war bescheidener Herkunft. Sein Vater, Schmied von Beruf und antiklerikaler Republikaner sowie Sozialist von Gesinnung, nannte seinen Sohn nach dem mexikanischen Revolutionär Benito JuárezJuárez, Benito. Der Knabe


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