Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

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      Präsident WilsonWilson, Woodrow prüft seine Truppen, 1918.

      Am 8. Januar 1918 hielt Woodrow WilsonWilson, Woodrow vor beiden Häusern des US-Kongresses eine programmatische Rede, die als demokratischer Gegenentwurf zu LeninsLenin, Wladimir I. revolutionärer Botschaft gedacht war. Höchst eloquent breitete der Präsident ein in aller Diskretion vorbereitetes Konzept aus, das »Vierzehn Punkte« enthielt, die seiner Ansicht nach erfüllt sein müssten, damit der Große Krieg ein Ende finden und »die Welt für das Leben der Menschen tauglich und sicher gemacht« werden könne. An den diversen Geheimabsprachen zwischen den Alliierten hatte WilsonWilson, Woodrow sich nie beteiligt, was ihm einen überparteilichen Gestus erlaubte. Und so richtete er sein Statement über die Vorbedingungen einer friedlicheren Welt, das auf dem Gedankengut der amerikanischen Progressiven aufbaute, an die kriegsmüden Völker beiderseits der Front. Seine ersten Postulate lauteten: nur noch offene Diplomatie, freie Seefahrt, unbeschränkter Handel und Abrüstung – noble Forderungen, deren Durchsetzung freilich auch den Interessen Amerikas entgegenkam. In den nächsten Punkten ging es um unverzichtbare territoriale Regelungen, die die Entente begünstigten, ohne Deutschland unnötig zu demütigen: Russland müsse von den feindlichen Truppen komplett geräumt, Belgien wiederhergestellt und Elsass-LothringenElsass-Lothringen an Frankreich zurückgegeben werden; österreichische und osmanische Untertanen wiederum sollten die Chance auf »autonome Entwicklung« erhalten. Der Lösungsplan für einen »gerechten und stabilen Frieden« gipfelte in der Anregung, ein »allgemeiner Verband der Nationen« möge sich künftig um die Entschärfung von Konflikten kümmern.1

      Als Verfechter der Demokratie machte der amerikanische Präsident eine imposante Figur; er wirkte gleichzeitig achtunggebietend und begeisternd. Woodrow WilsonWilson, Woodrow, schottisch-irischer Abstammung, war ein nüchterner Presbyterianer, der aber in öffentlichen Reden sein Publikum mitzureißen verstand. Er hatte Jura und Politik studiert sowie mit einer Dissertation über die Arbeitsweise des Kongresses und seinen Einfluss auf die Regierungspolitik der USAVereinigte Staaten promoviert. Dabei besuchte er renommierte Hochschulen wie die Johns Hopkins University und die Princeton University, deren Präsident er 1902 wurde. Als solcher baute er die Fakultät der Politischen Wissenschaften aus, modernisierte das Curriculum und ermunterte die Studenten, sich in den Dienst der Nation zu stellen. Schließlich ging er in die Politik und engagierte sich im fortschrittlichen Flügel der Demokraten. 1910 wurde er zum Gouverneur von New JerseyNew Jersey gewählt, nur zwei Jahre später gewann er die Präsidentschaftswahlen. Diesen Erfolg verdankte er seinem Ruf persönlicher Integrität und seiner Bereitschaft zu Reformen, die sein Programm »Neue Freiheiten« bezeugte. 1916 wurde er für eine zweite Amtszeit wiedergewählt – hauptsächlich, weil er das Land aus dem Krieg herausgehalten hatte. Als kundiger Demokratietheoretiker und erfahrener Politiker ging WilsonWilson, Woodrow mit dem Idealismus des Progressive Movement die Aufgabe an, ein vom Kriege zerrissenes Europa zu befrieden.2

      Um etwas anderes aufzubieten als traditionelle Machtpolitik, befasste sich die »Kriegszielerklärung« des Präsidenten mit drei Problembereichen, die seines Erachtens unbedingt zu beachten waren, wenn man eine stabile Nachkriegsordnung wollte. Im Einzelnen erwägt Wilsons Text das Folgende: Da die zurückkehrenden Soldaten bestimmt ihre Teilhaberechte als Staatsbürger einfordern würden, sollte erstens um des inneren Friedens willen die parlamentarische Autonomie ausgeweitet werden. Das Aufkommen der Massenpolitik machte in Westeuropa Reformen, in Mittel- und Osteuropa offenbar revolutionäre Veränderungen notwendig. Zweitens verlangten aufstrebende Völkerschaften, beflügelt von den vielen nationalen Bestrebungen, lautstark nach der Chance, eigene Nationalstaaten zu gründen. Daher sei die schlussendliche Auflösung der drei multiethnischen Imperien in Eurasien nötig – des zaristischen, des österreichischen und des osmanischen. Drittens und letztens werde, da Handel, Verkehrswege und Kommunikation über nationale Grenzen hinweg mehr und mehr an Bedeutung gewönnen, eine Institutionalisierung der internationalen Kooperation unerlässlich, um die neuen Länder zur Zusammenarbeit zu bringen. Ironischerweise ging Letzteres übrigens nicht ohne die Beschneidung der Souveränität jener Staaten, die selbige eben erst frisch errungen hatten. Die Prinzipien, die WilsonWilson, Woodrow hier aufstellte, sahen eine fundamentale Revision der nationalen und der internationalen Ordnung vor – aber sie waren immer noch moderater als das sowjetische Programm, denn es bedurfte zu ihrer Umsetzung keiner sozialen Revolution.3

      Obwohl einige Skeptiker sich entsetzt zeigten, verbreitete WilsonsWilson, Woodrow Programm bei den erschöpften Völkern der betroffenen Staaten weithin Hoffnung, versprach es doch einen Kompromiss zur Beendigung des Krieges. Verteidiger der traditionellen Ordnung wie der britische Diplomat Harold NicolsonNicolson, Harold verurteilten WilsonsWilson, Woodrow neue Diplomatie der »offenen Friedensvereinbarungen« freilich als naiv und schwerlich nachhaltig. Bolschewistische Radikale wie Leo TrotzkiTrotzki, Leo betrachteten dieses bourgeoise Programm als zu halbherzig, um an die Wurzeln des imperialistischen Problems zu rühren.4 Der demokratischen Linken beiderseits der Front hingegen erschienen Wilsons Positionen zu den territorialen Fragen konstruktiv, weil sie auf eine moderate Möglichkeit verwiesen, den Stillstand aufzubrechen, in den exzessive Kriegsziele hineingeführt hatten. Da ihnen die chauvinistische Rhetorik der Kriegspropaganda ein Gräuel war, zeigten sich die kritischen Intellektuellen ferner fasziniert von den innovativen Prinzipien, die aus Wilsons Text sprachen. Sie sahen darin eine Planskizze zum Aufbau einer dauerhaften europäischen Nachkriegsordnung. Positiv reagierte auch die deutsche Führungsriege: Als man einsah, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war, ergriff man bereitwillig WilsonsWilson, Woodrow ausgestreckte Hand. So ließen sich vielleicht schärfere Bedingungen vermeiden, wie man sie von den kontinentalen Antagonisten befürchtete.5

      WilsonsWilson, Woodrow Vision beschrieb einen liberalen Weg zur Moderne hin. Er wollte die Hoffnung auf den Fortschritt wiederbeleben und dafür Europa demokratisieren. Die Völker äußerten vielfach den Wunsch nach Demokratie, und WilsonWilson, Woodrow reagierte darauf, indem er Selbstverwaltung befürwortete. Er wollte eine neue Begeisterung für parlamentarische Systeme erzeugen, die den Massen die Teilhabe an Politik ermöglichen würden. Ethnisch gesehen bedeutete Selbstverwaltung nun Selbstbestimmung oder Autonomie; und so versuchte der Präsident auch unterjochte Völker aus autokratischer Herrschaft zu befreien, indem er sie ermutigte, Nationalstaaten zu gründen. Bestimmten Bestrebungen des bürgerlichen Internationalismus kam er mit der Idee entgegen, einen »Völkerbund« zu errichten: Dieser sollte einen weiteren Weltkrieg verhindern und die Bande des Friedens festigen, indem er etwaige Streitigkeiten schlichtete. Einerseits richtete sich dieser mitreißende Plan gegen die Autokratien, indem er vorsah, landgestützte Imperien durch demokratische Nationalstaaten zu ersetzen. Andererseits war WilsonsWilson, Woodrow Lösungsversuch eine Alternative zur sozialen Revolution bolschewistischer Manier, da er auf freiem Handel und Privateigentum beharrte.6 Dieses liberale Programm präsentierte den Bauplan der Moderaten für Frieden und Wohlstand.

      Deutschland kollabiert

      Damit die Demokratie sich verbreiten konnte, musste zunächst einmal die autoritäre Variante der Modernisierung, die die Mittelmächte repräsentierten, auf dem Schlachtfeld besiegt werden. Die Alliierten kämpften, zumindest vorgeblich, für die universellen Werte der westlichen Zivilisation, zu denen nach ihrem Verständnis individuelle Freiheit, parlamentarische Regierungsform und Marktwettbewerb gehörten. In ihrer Praxis allerdings trübten Imperialismus, Rassismus und Ausbeutung das positive Bild. Im Gegensatz dazu behauptete die deutschlandgeführte Koalition, eine ernsthaftere »Kultur« zu verkörpern; sie war charakterisiert durch einen Autorität ausstrahlenden Beamtenapparat, militärische Effizienz und soziale Wohlfahrt. Schon 1915 hatte der amerikanische Soziologe norwegischer Herkunft Thorstein VeblenVeblen, Thorstein auf eine spezifische Diskrepanz innerhalb des imperialen Deutschlands hingewiesen: Er sah einerseits eine beachtliche wissenschaftliche und technische Modernität, andererseits eine unterentwickelte, dem Fortschritt hinterherhinkende Selbstverwaltung, in der die höchste Entscheidungsmacht dem Kaiser vorbehalten bleibe und das Militär mehr Mitspracherecht habe als in den Demokratien. Anstatt aber den Westen zum Standardmaßstab zu nehmen und zu befinden, dass in Deutschland nur eine »partielle Modernisierung« vollzogen wurde, fand VeblenVeblen, Thorstein es erhellender, das deutsche Modell als alternativen, eigenen Weg innerhalb der vielfältigen westlichen Tradition zu verstehen.1 Da


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