Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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es populäre Gesetze erließ und Gewalt gebrauchte. Kaum in der Lage, die Straßen der beiden Hauptstädte zu kontrollieren, sah sich das neue Führungsgremium, der Sownarkom – manche nannten ihn auch schon »die Sowjetregierung« –, vor der harten Aufgabe, die Macht zu behalten und sein Programm in die Praxis umzusetzen.

      Vordringlich musste man die Unterstützung der kriegsmüden Soldaten gewinnen. Ein erster Schritt war das Friedensdekret vom 26. Oktober. Diese Proklamation forderte »alle kriegführenden Völker und ihre Regierungen dazu auf, sofort Verhandlungen über einen gerechten und demokratischen Frieden« zu beginnen. Die Bolschewiki übernahmen den menschewikischen Slogan »Frieden ohne Annexionen und Entschädigungen«; zusätzlich gewährten sie den verschiedenen Nationalitäten in Russland das Recht auf Selbstbestimmung. Ebenso erklärten sie die Geheimdiplomatie für abgeschafft und damit auch die Vereinbarungen, die das zaristische Russland inoffiziell mit anderen Staaten geschlossen hatte. Erfreut, einen bedeutsamen Feind loszuwerden, akzeptierte die deutsche Regierung einen Waffenstillstand und trat am 19. November in die Verhandlungen ein. Als jedoch deutlich wurde, dass die sowjetische Seite auf Zeit spielte, weil sie Revolutionen in weiteren kriegführenden Ländern erhoffte, schloss BerlinBerlin am 9. Februar 1918 einen Separatfrieden mit der Ukraine. Zornig verließ TrotzkiTrotzki, Leo den Verhandlungsraum und erklärte: »Weder Krieg noch Frieden«, aber die Deutschen durchschauten seinen Bluff und setzten ihren Vormarsch fort. Das zwang die Sowjets, am 3. März 1918 den Friedensvertrag von Brest-LitowskBrest-Litowsk zu unterzeichnen. Für die Atempause, die Russland dank seinem Ausstieg aus dem Krieg nun zur Konsolidierung der Revolution bekam, zahlte es den Preis, dass es mehrere seiner bisherigen Provinzen in die Unabhängigkeit entlassen musste: Finnland, die baltischen Staaten, Polen und die Ukraine.2

      Weiterhin belohnten die Bolschewiki ihre Getreuen mit dem »Dekret über Grund und Boden« sowie dem »Dekret über Arbeiterkontrolle«. Kurz nach dem Umsturz proklamiert, schaffte Ersteres jeglichen Privatbesitz im Agrarbereich ab. Die Ländereien der Adeligen, der Kirche und der Krone wurden konfisziert und dem lokalen Bauernrat, wolost’ genannt, überstellt. Tatsächlich legalisierte die Maßnahme lediglich einen Enteignungsprozess, der ohnehin im Gange war, doch nun hatten die Bauern ganz offiziell die Erlaubnis, sich selbst zu verwalten. Politisch gesehen war der Erlass ein brillanter Zug, entwand er doch den populistischen Sozialrevolutionären einen Hauptprogrammpunkt; ökonomisch jedoch war er von zweifelhaftem Wert, denn die Landverteilung parzellierte und fragmentierte den Grundbesitz. Entsprechend produzierten die Bauern vorwiegend für den Eigenbedarf, sodass sich keine hinreichende Versorgung der Städte mit Lebensmitteln sicherstellen ließ. Die zweite Verordnung etablierte die »Kontrolle der Arbeiter über die Industrie« durch »gewählte Komitees, die Produktion und Verteilung der Produkte beaufsichtigen«; so sollten große Betriebe schrittweise in den Besitz der Stadtgemeinden oder des Staates übergehen.3 Und weitere gewerkschaftliche Forderungen wurden erfüllt, etwa die Einführung des Achtstundentages und der obligatorischen Krankenversicherung. Solche Schritte erleichterten es den Arbeitern in den Fabriken und auf dem Lande, sich von der bolschewistisch kontrollierten Regierung leiten zu lassen; freilich beschnitt ihnen die Sowjetregierung das frisch Errungene bald wieder.

      Die Bolschewiki griffen im Namen des »revolutionären Klassenkampfes« auch zu diktatorischen Mitteln. Innerhalb der Sowjets stachen sie Konkurrenten aus oder säten Zwietracht, indem sie besonders zündende Programmpunkte von ihnen übernahmen und ihnen so die Schau stahlen. Um die öffentliche Meinung zu kontrollieren, behinderten sie außerdem das Erscheinen aller Presseorgane, die ihrer Politik kritisch gegenüberstanden. Mehr als einmal schafften sie genau die Rechte ab, die sie von der zaristischen Autokratie gefordert hatten. Anfang Dezember begannen sie ein Kesseltreiben gegen die Führer der Kadettenpartei sowie gegen unkooperative Sozialrevolutionäre und Menschewiki. Indem sie eine eigene Geheimpolizei gründeten, die Tscheka, etablierten sie einen Polizeistaat. Der Tscheka-Chef, ein Fanatiker namens Felix DserschinskiDserschinski, Felix, hielt nichts davon, dass Revolutionäre »gerecht« zu sein hätten, denn er glaubte: »Heute herrscht Krieg. Von Angesicht zu Angesicht – ein Kampf bis zum Ende. Leben oder Tod!« Da LeninLenin, Wladimir I. nicht zum Parlamentarismus zurückkehren wollte, beseitigte er die Konstituierende Versammlung, auf der die Hoffnung aller moderaten Reformer geruht hatte. Im Bewusstsein der Tatsache, dass die Mehrheitsverhältnisse dort sie nicht eben gut aussehen ließen – sie hatten nur 175 von 707 Sitzen gewonnen, die Sozialrevolutionäre hingegen 370 –, sperrten die Bolschewiki die Delegierten nach dem ersten Tage einfach aus und beendeten so das Experiment einer parlamentarischen Regierung in Russland.4

      Der nun folgende Bürgerkrieg, den Boris PasternakPasternak, Boris in seinem berühmten Roman Doktor Schiwago verewigt hat, beschleunigte die Einrichtung einer bolschewistischen Diktatur und entfesselte einen unsäglichen Terror, unter dem das zwischen den Fronten gefangene Volk leiden musste. Die Auflösung der Konstituierenden Versammlung zeigte deutlich genug, dass das sowjetische Regime nur mit Gewalt gestürzt werden konnte. Zwar schickten die westlichen Alliierten ein paar Truppen nach Nord- und Südrussland, um ihre militärischen Lieferungen zu sichern, aber sie konnten sich nicht so recht entscheiden, wen sie eigentlich unterstützen sollten. Während des Jahres 1918 gab es eine verwirrende Serie bewaffneter Aktionen gegen die Sowjetmacht, an der die deutschen Okkupanten, das ukrainische Parlament, genannt Rada, die Tschechische Legion und die Sozialrevolutionäre beteiligt waren, die in SamaraSamara eine Gegenregierung gebildet hatten. Im folgenden Jahr begannen die Generäle der gegen die Bolschewiki kämpfenden russischen Weißen Armee, Alexander KoltschakKoltschak, Alexander, Anton DenikinDenikin, Anton und Pjotr Wrangel,Wrangel, Pjotr konzentrische Offensiven auf Moskau, aber wegen mangelnder Koordination erlitten sie eine Niederlage nach der anderen. Der unermüdliche TrotzkiTrotzki, Leo befeuerte derweil den Kampfeswillen des neuen russischen Staatsmilitärs, das er zuvor aus ehemaligen zaristischen Offizieren und revolutionären Soldaten formiert hatte. Dieses Heer, die Rote Armee, triumphierte über alle Feinde und eroberte 1920 auch die UkraineUkraine zurück.5 Die Streitkraft wurde sogar so stark, dass sie mit dem wiedererstandenen polnischen Nationalstaat einen veritablen konventionellen Krieg führen konnte, der in einem Unentschieden endete.

      Der Kriegskommunismus radikalisierte das Sowjetregime noch mehr, denn es erkannte nun, dass es »Ordnung und Disziplin« brauchte, um zu überleben. Da die industrielle und die agrarische Produktion absackten, während die Inflation hochschnellte, entwickelte sich eine Art Tauschwirtschaft. Getreide musste das Regime zwangsrequirieren, und bestimmte Waren gab es nur noch auf dem Schwarzmarkt. Gleichzeitig wuchsen die Aktivitäten der Tscheka mächtig an; sie beschuldigte Tausende des Verrats und sperrte sie ein, ohne dass man den Festgesetzten Zugang zu Rechtsmitteln gewährte. Auch traten jetzt scharenweise Opportunisten in die Partei der Bolschewiki ein, da sie das Monopol der politischen Macht innehatte. Als die Soldaten der Marinebasis KronstadtKronstadt energisch eine Rückkehr zu den ursprünglichen revolutionären Zielen Freiheit und Gleichheit verlangten, schlug die Sowjetregierung die Revolte unbarmherzig nieder, womit sie sich selber diskreditierte.6 Sogar LeninLenin, Wladimir I. erkannte die Gefahr, dass solch drakonische Maßnahmen das Regime genau jenen Arbeitern und Bauern entfremdeten, die es zu repräsentieren vorgab. Folglich führte er widerwillig die »Neue Ökonomische Politik« ein, die in beschränktem Rahmen marktwirtschaftliche Anreize wieder zuließ. Gleichzeitig stellte er freilich seine Parteigenossen unter eine noch schärfere interne Kontrolle.

      Obwohl die Sowjetregierung sich daheim nur knapp über Wasser hielt, fand ihre Botschaft von Frieden und Gleichheit in Europa bei bestimmten Schichten durchaus Anklang. Sie motivierte Arbeiter und Bauern aller kriegführenden Länder, noch stärker auf ein Ende des Gemetzels zu drängen. Aus Furcht, ihre Untertanen könnten sich mit Pazifismus und Sozialismus anstecken, verdoppelten die Bolschewiki ihre Propagandabemühungen, um den Streiks und Demonstrationen etwas entgegenzusetzen. Doch ihre Hoffnungen auf Hilfe durch eine »Weltrevolution« wurden enttäuscht. Wohl beschleunigten die Antikriegsparolen den Zusammenbruch in den Staaten der Mittelmächte, aber Republiken nach sowjetischem Muster existierten nur kurz in MünchenMünchen und in BudapestBudapest. Um den Rest der Welt gegen den revolutionären Virus zu isolieren, schuf die PariserParis Friedenskonferenz einen entsprechend dem Vertrag von Brest-LitowskBrest-Litowsk angelegten Schutzstreifen oder cordon sanitaire unabhängiger Staaten zwischen Russland und Mitteleuropa. MoskauMoskau hielt aber fest an seiner Intention, die Revolution zu verbreiten; auch die Gründung der Komintern 1919 diente diesem Ziel.


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