Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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mit Begeisterung verfolgt, aber auch mit Betrübnis, denn sie hätten so gern an ihr teilgenommen. Inzwischen verfiel man in Berlin auf die Idee, einen der mächtigeren Feinde auszuschalten, indem man für Unruhe an dessen Heimatfront sorgte. Die deutsche Reichsregierung ging dabei so weit, dass sie LeninLenin, Wladimir I. und dreißig seiner Gefolgsleute in einem plombierten Zug aus der Schweiz nach Schweden schmuggelte. Von dort aus konnten sie leicht nach Russland gelangen, wo sie ihre defätistischen Positionen verbreiteten. Anderen, etwa dem Sozialrevolutionär Viktor TschernowTschernow, Viktor, dem Menschewiken MartowMartow, Julius und dem Bolschewiken Trotzki,Trotzki, Leo gelang die Heimkunft ohne fremde Hilfe; wieder andere, so Lew KamenewKamenew, Lew und Josef StalinStalin, Josef, kehrten nun aus der sibirischen Verbannung zurück. Vom russischen Patriotismus abgeschnitten, hatten sich die meisten Exilanten dem linken Flügel der Zweiten Internationale angeschlossen, der den Krieg ablehnte. Ihre Rückkehr nach Russland bescherte den kriegsmüden Massen eine intellektuelle und organisatorische Führung, die sich bemühte, die Räte vom Defensismus abzubringen.5 Während die Mittelschicht den Krieg weiterhin unterstützte, hatten Soldaten, Arbeiter und Bauern jetzt neue Argumente gegen ihn.

      Um dem Zerfall der Armee entgegenzuwirken und das Selbstvertrauen der Russen wiederzubeleben, autorisierte der ehrgeizige neue Verteidigungsminister KerenskiKerenski, Alexander eine weitere Offensive. Als moderater Sozialist und Mitglied des Petrograder Sowjets unterstützte er eine Charta der Soldatenrechte; gleichzeitig aber wollte er die Autorität des Offizierskorps wiederherstellen. Mehr noch, er unternahm eine Propagandareise an die Front, und die eloquenten Plädoyers, die er dort für die Fortsetzung des Kampfes hielt, wurden mit Applaus quittiert. KerenskiKerenski, Alexander feuerte auch den bisherigen Oberbefehlshaber und ersetzte ihn durch General Alexej BrussilowBrussilow, Alexej, der als Kommandeur erfolgreicher gewirkt hatte. Am 16. Juni 1917 begann die russische Armee ihren letzten Großangriff in Galizien gegen österreichische Truppen; sie gewann dreißig Kilometer – und das war es. Am 6. Juli starteten vereinte Kräfte der Mittelmächte eine Konterattacke und brachen durch, woraufhin in wilder Hast floh, was nur fliehen konnte. Die russischen Linien lösten sich auf; viele Soldaten, sogar ganze Einheiten desertierten und sahen zu, dass sie nach Hause kamen.6 Statt das Land durch eine revolutionäre levée en masse zu retten, beschleunigte KerenskiKerenski, Alexander eine militärische Niederlage, die die Provisorische Regierung mit zu Boden riss.

      Das Kabinett kam nämlich auch in den heimischen Belangen nicht recht voran, denn die Positionen der liberalen und der sozialistischen Deputierten waren prinzipiell unvereinbar. Während die Minister aus der Mittelschicht auf der Respektierung privaten Eigentums bestanden, wollten die Repräsentanten des revolutionären Sowjets die Unternehmerfreiheit beschränkende Schutzrechte für die Arbeiter und Land für die Bauern. In den Fabriken forderten Gewerkschaftssprecher den Achtstundentag, bessere Bezahlung und Mitbestimmung der Arbeiter. Auf dem Lande begannen Bauernräte, den Adeligen Boden, Vieh und Gerät wegzunehmen. An den Rändern des Imperiums erklärten ganze Völkerschaften wie die Finnen, Ukrainer und Balten ihre Unabhängigkeit, von deutschem Militär nach Kräften unterstützt. Da eine der größeren bürgerlichen Fraktionen, die Konstitutionell-Demokratische Partei – informell »die Kadetten« genannt –, die Linksdrift der Regierung missbilligte, traten ihre Mitglieder von ihren Ämtern zurück. Diese erneute Krise wurde erst beigelegt, als KerenskiKerenski, Alexander Premierminister wurde und ein Kabinett um sich scharte, in dem noch mehr Minister aus dem Petrograder Sowjet stammten. Bei den Wahlen zum Petrograder Stadtrat verlor die Kadettenpartei stark und holte nur noch 21 Prozent, die moderaten Sozialisten – Sozialrevolutionäre und Menschewiki – gewannen zusammen 44 Prozent der Stimmen. Ominöserweise legten aber auch die radikalen Bolschewiki zu, die auf 21 Prozent anwuchsen.7

      Gegen Mitte des Sommers mehrten sich die Anzeichen, dass die Provisorische Regierung im Begriffe war zu scheitern, und zwar sowohl aus strukturellen als auch aus politischen Gründen. Unkooperative Konservative bremsten sie von oben, unzufriedene Radikale attackierten sie von unten; angesichts dieser Bedrängnis war die russische Mittelklasse einfach nicht groß und mächtig genug, um eine liberale Modernisierung eines so chaotischen Landes allein durchzusetzen. Zwar weigerten sich die Räte zunächst, sich an der Macht zu beteiligen, wobei ideologische Motive ebenso eine Rolle spielten wie das Wissen um die eigene Unerfahrenheit. Und doch wetteiferten sie – keineswegs erfolglos – mit der Regierung um die Gunst des Volkes, indem sie Programme einbrachten, die drastischere Veränderungen vorsahen. Zu den der »Doppelherrschaft« inhärenten Problemen kamen grundlegende politische Fehler. Der gewichtigste war die Entscheidung, den Krieg mit einer weiteren Offensive fortzusetzen, ein verzweifeltes Wagnis, das den Verfall der militärischen Autorität nur beschleunigte, und dies zu einem Zeitpunkt, da die zivile Ordnung zu schwinden begann. Nicht minder bedeutsam jedoch war der Konflikt zwischen den wirtschaftlichen Interessen der Bourgeoisie und denen der Massen: Wollte diese unbedingt das Privateigentum gewahrt sehen, wünschten sich jene ökonomische Erleichterungen durch soziale Reformen.8 Indem sie nicht verstand, dass Brot und Frieden jetzt dringlicher gebraucht wurden als eine neue Verfassung, verspielte die Provisorische Regierung die Chance auf eine demokratische Entwicklung.

      Roter Oktober

      Da die bolschewistische Machtergreifung aus dem Nichts zu kommen schien, sind die Gründe für ihren überraschenden Erfolg bis heute heiß umstritten. Zweifellos hat die verfehlte Politik der Provisorischen Regierung die sich immer weiter steigernde Radikalisierung begünstigt; in dieser Hinsicht folgte die Entwicklung dem Muster der Französischen Revolution eineinviertel Jahrhunderte zuvor. Doch seltsamerweise half die Enttäuschung, die KerenskiKerenski, Alexander dem Volke bereitete, nicht den Sozialrevolutionären und Menschewiki, sondern stärkte vielmehr die Bolschewiki. Eine traditionelle These macht das unterschiedliche Abschneiden der linken Gruppierungen wesentlich an LeninLenin, Wladimir I. fest, der klarsichtiger und skrupelloser geführt habe als seine Konkurrenten. Sowjetische Apologeten meinten dagegen, die bolschewistische Programmatik – ›Brot, Land und Frieden‹ – habe eben mehr und mehr Anklang im Volke gefunden. Dadurch sei ihrer Machtübernahme eine Aura der Legitimität erwachsen, die den anderen fehlte.1 Im Gegensatz dazu betonen postsowjetische Kritiker des untergegangenen Systems, die kommunistische Machtergreifung sei eigentlich das Ergebnis eines Staatsstreichs gewesen. War die »Glorreiche Oktoberrevolution« also ein Triumph der Graswurzeldemokratie – oder der Putsch einer radikalen Minderheit, der zwangsläufig zur Diktatur führte?

      Es ist schwierig, den Beitrag von Lenins Führerschaft zum Gelingen der Revolution genau zu bemessen, denn der Kult um seine Person hat ihn zu einer überlebensgroßen Figur mit außergewöhnlichem Charisma stilisiert. Unter dem Namen Wladimir I. UljanowLenin, Wladimir I. in eine liberale Lehrerfamilie hineingeboren, schien er prädestiniert für eine vielversprechende juristische Laufbahn. Doch als sein älterer Bruder wegen Beteiligung an einem terroristischen Attentat hingerichtet wurde, gelobte WladimirLenin, Wladimir I., Revolutionär zu werden, und schloss sich dem radikalen Flügel der Arbeiterbewegung an. Um sich seinen zaristischen Verfolgern und einer möglichen Verbannung nach Sibirien zu entziehen, emigrierte er in die Schweiz, wo er sich eine theoretische Position erarbeitete. Konkret versuchte er, die marxistischen Strukturanalysen auf das rückständige Russland anzuwenden. Während jener Jahre legte er sich das Pseudonym »Lenin« zu, gewöhnte sich einen spartanischen Lebensstil an und wurde der Prototyp dessen, was er in seinen Schriften »Berufsrevolutionär« nannte. Er publizierte zahlreiche Pamphlete, darunter Was tun? (1902), die ihm einen Ruf als brillanter Theoretiker einbrachten; viele attestierten ihm eine imposante Fähigkeit, sozialistische Ideen auf konkrete politische Situationen zu übertragen. Den Ersten Weltkrieg brandmarkte er als einen imperialistischen Kampf. LeninLenin, Wladimir I. beeindruckte seine Genossen mit seinem eisernen Willen und seiner totalen Hingabe an die Sache, aber er hatte weiterhin Schwierigkeiten, sie von jenen seiner Erkenntnisse zu überzeugen, die das Taktische betrafen.2

      Genauso wichtig war freilich, dass die bolschewistische Partei dank ihrer kompromisslosen Gegnerschaft zum Krieg und ihrer Brot-und-Land-Versprechen immer mehr an Attraktivität gewann. Im Untergrund hatte die Partei eine ganze Schar talentierter Individuen angezogen, so Leo TrotzkiTrotzki, Leo, Josef StalinStalin, Josef, Lew KamenewKamenew, Lew und Nikolai BucharinBucharin, Nikolai. Als diese Organisatoren nun ungehindert agieren konnten, transformierten sie die Bolschewiki von einem revolutionären Kaderverband in eine Massenorganisation, stark


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