Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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gegen den kontinentalen Feind zu errichten. So hoffte England, die weitere Zufuhr von Grundnahrungsmitteln und Rohstoffen dorthin zu unterbinden. Dank jener Kontrolle über die maritimen Versorgungslinien konnten die englisch-französischen Kolonialarmeen die kleineren deutschen Kontingente in den Kolonien rasch bezwingen – mit alleiniger Ausnahme der »Schutztruppe für Deutsch-OstafrikaDeutsch-Ostafrika«, die General Paul von Lettow-VorbeckLettow-Vorbeck, Paul von im Südosten des Schwarzen Kontinents befehligte. Denn diese bediente sich einer Guerillataktik, die es den alliierten Verbänden schwermachte, ihren Gegner zu fassen. Zur See vermochten die Deutschen weniger zu punkten. Ihre aktive Heimatflotte wollten sie nicht unnötig aufs Spiel setzen, also blieben ihnen, wenn Gegenschläge geführt werden sollten, nur U-Boot-Attacken auf alliierte Schlacht- und Handelsschiffe. Aber als der britische Verkehrsdampfer Lusitania – den man beschoss, weil man vermutete, er transportiere auch Munition – vor Irland versank und mit ihm über 1200 Passagiere, musste die deutsche Marine auf amerikanischen Protest hin ihre willkürlichen, da militärische und zivile Seefahrzeuge nicht unterscheidenden Torpedierungen einstellen.5

      1916, im dritten Kriegsjahr, verstärkten beide Koalitionen den Zermürbungskrieg, um endlich einen klaren Sieg zu erreichen. Der deutsche Stabschef Erich von FalkenhaynFalkenhayn, Erich von setzte auf den industriellen Faktor der modernen Kriegsführung und trachtete, den Kampfeswillen des Feindes zu brechen, indem er ihn durch Materialschlachten »ausbluten« ließ. Er wollte die Franzosen zwingen, ihre Soldaten an einem bestimmten Ort zu sammeln. Dazu hatte er die Festung von Verdun ausersehen, den strategischen Angelpunkt an der Westfront, der nach drei Seiten hin für Angriffe offen lag. Deutsche Artillerie schlug auf die Forts rings um die Stadt ein, während die Infanterie das Fort DouaumontDouaumont stürmte und den Verteidigern empfindliche Verluste beibrachte. Doch da tönte von der Gegenseite die Parole »Sie sollen nicht durchkommen« des französischen Frontkommandeurs, General Philippe PétainPétain, Philippe, der alles tat, um sie zu realisieren. Er organisierte eine entschiedene Abwehr, stellte Versorgung sowie Nachschub sicher und zog Soldaten aus den Kolonien heran. Als FalkenhaynFalkenhayn, Erich von sich vergegenwärtigte, dass die Deutschen die Verluste, die sie dem Feind zufügten, mit etwa der gleich hohen Zahl an Opfern auf der eigenen Seite bezahlten und so der Widerstand der Franzosen bestimmt nicht zu brechen war, sah er von weiteren Attacken ab. Zur selben Zeit begannen bestens ausgerüstete britische Truppen, deren Mannstärke beständig wuchs und die ihre Schlagkraft durch eine neue Waffengattung – Panzer – gestärkt wussten, eine gewaltige Offensive an der Somme. Doch gleich am ersten Tag kostete die Aktion sie rund 19 000 Tote, einen Blutzoll, so hoch wie keiner zuvor, und das für einen minimalen Geländegewinn.6 Auf beiden Seiten scheiterten die großangelegten Angriffe, sodass im Westen wieder Stillstand eintrat.

      Im Osten setzten die Russen unter Alexej BrussilowBrussilow, Alexej Sommer 1916 eine letzte große Offensive in Bewegung, die fast den Ausgang des Krieges verändert hätte. Immerhin konnten sie einen schier unerschöpflichen Vorrat an Personal nutzen, und eine rapide expandierende Industrie belieferte sie hinreichend mit Waffen. Und so attackierten russische Einheiten die deutschen Linien bei WilnaWilna (Vilnius), wurden allerdings nach einer Weile doch zurückgeschlagen. Im Juni aber verblüfften die Zarenarmeen die Österreicher mit einem Überraschungsangriff in GalizienGalizien, durch den sie allerhand zuvor verlorenen Boden wiedereroberten. Dieser scheinbare Umschwung veranlasste die rumänische Regierung, die auf Erweiterung ihres Staatsgebiets um Teile Siebenbürgens hoffte, dazu, im August den Mittelmächten den Krieg zu erklären. Eine gemeinsame Militäraktion der Deutschen, Österreicher, Bulgaren und Türken warf diesen neuen Feind jedoch rasch nieder, und bis Ende des Jahres war das Land praktisch komplett besetzt. Die Ausbeutung der reichen Getreide- und Erdölvorräte Rumäniens trug dazu bei, dass die Mittelmächte den Krieg noch zwei Jahre weiterführen konnten. Und nachdem die Entente-Truppen schon einmal da waren, meinte auch AthenAthen sich am Konflikt beteiligen zu müssen, denn es hätte gern Territorien wiedererlangt, die mittlerweile zu Bulgarien gehörten. Ironischerweise hat der Eintritt von immer mehr Ländern in den Krieg den Konflikt nur ausgeweitet, an seinem Ausgang aber nichts Wesentliches geändert.7

      Auch auf hoher See ging der Kampf weiter, doch ließ der Verlauf das militärische Gleichgewicht ebenfalls unberührt. Die Royal Navy setzte ihre Blockade der Nordseeausgänge fort, und in Gewässern mit solch ungünstigen Bedingungen wagte die Kaiserliche Marine keine Gefechte zu provozieren. Zur einzigen größeren Seeschlacht, der im Skagerrak vor JütlandJütland, kam es gewissermaßen durch ein Versehen: Die beiden Flotten rannten ineinander, weil dichter Nebel herrschte. Deutsche Schiffe versenkten zwar mehr britische Tonnage als umgekehrt, aber die Royal Navy behielt ihre Vorherrschaft zur See, blieb also strategischer Sieger. Der U-Boot-Krieg erwies sich allerdings sehr wohl als Bedrohung für die britischen Versorgungslinien – jedenfalls sofern die submarinen Angreifer ihre Torpedos, sobald die Sichtverhältnisse es zuließen, aus getauchter Position auf die feindlichen Schiffe feuerten. Zeigten sie sich, wie das traditionelle Reglement verlangte, an der Wasseroberfläche, setzten die verwundbaren U-Boote sich dem Feuer oder Rammen der Gegenseite aus. Doch die Amerikaner bestanden auf ihren Handels- und Reiserouten, auch auf solchen, die durch umkämpfte Gewässer führten. Man warnte BerlinBerlin davor, Linien- und Personenverkehrsschiffe zu versenken, die keinerlei Kriegszwecken dienten, wie es etwa der Arabic oder der Sussex geschehen war. Um die Vereinigten Staaten aus dem Krieg herauszuhalten, versuchte die deutsche Flotte, ihre Aktionen fortzusetzen, ohne dass Passagierschiffe Schaden nahmen. Das verschlechterte freilich ihre Abwehr, weil ihr auch echte Kampfschiffe entgingen.8 Wegen der tödlichen Effizienz der modernen Waffentechnik setzte gerade die beschriebene Pattsituation grauenhafte Gewalt frei, die Millionen Leben kostete.

      Für die Soldaten auf beiden Seiten war die Fronterfahrung eine Hölle besonderer Art, die sich tief in die Erinnerung der Überlebenden brannte. Dabei gehörten zum Alltag in den Schützengräben immer wieder auch ausgedehnte Phasen der Langeweile während der Kampfpausen, in denen die Männer ihre Schutzstände ausbauten, Karten spielten, Zigaretten rauchten oder ihre entzündeten Füße versorgten. Wenn es dann losging, herrschte eine rauschhafte Erregung der Sinne, ein höherer, schärferer Bewusstseinszustand, der etwas Beglückendes haben konnte. Der Lärm war überwältigend; es mischten sich darin das Befehlsgebrüll der Kommandeure, das Tack-Tack-Tack der Maschinengewehre, das Pfeifen der Minenwerfer, die dumpfen Aufschläge explodierender Geschosse und die Schreie verwundeter Menschen und Pferde. Der Anblick des Ganzen war entsetzlich: Verschwommene Fotos zeigen Soldaten, die in gebückter Haltung vorwärtsstürmen, Leiber, die von Granaten zerrissen werden, schmutzige Gestalten, die in Krater kriechen, um Deckung zu suchen. Nachts erhellten Leuchtkugeln den Himmel und illuminierten eine gespenstische Szenerie aus Tod und Zerstörung. Der Gestank der verwesenden Leichen war kaum auszuhalten. Viele Soldaten erlebten ein Wechselbad der Gefühle, empfanden bald Angst, bald Gleichgültigkeit. Diesen Emotionswirrwarr konnten sie nur durch eiserne Disziplin, großzügige Alkoholzufuhr und Bordellbesuche ertragen. Die Gefechte in den Gräben schmiedeten die enge Kameradschaft eines Männerbundes, der nun als Überlebensgemeinschaft fungierte.9

      Kriegsziele und Friedensbemühungen

      Der Erste Weltkrieg zog sich weiter hin, weil beide Seiten Ziele verfolgten, die nur durch einen klaren Sieg erreicht werden konnten. Wer da irgendwelche Friedensfühler ausstreckte, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Um öffentliche Unterstützung zu mobilisieren, behaupteten Regierungen, sie wollten ihre Länder gegen fremde Aggressoren verteidigen. Entsprechend appellierten sie an den Patriotismus selbst der Arbeiterschichten, die ihnen doch bisher wegen ihres Internationalismus verdächtig waren. Gleichzeitig verlangten Militärstrategen, ökonomische Interessengruppen und chauvinistische Propagandisten handfeste, vorzeigbare Gewinne, denn die brauche man dringend, um all die erlittenen Verluste an materiellen Gütern und Menschenleben wettzumachen. Dabei erhoben sie Ansprüche von gewaltiger Größenordnung, die sich nur erfüllen ließen, wenn die Feinde vollständig geschlagen würden. Hinzu kam, dass diverse Geheimabkommen wie der Vertrag von LondonLondon zwischen der Entente und Italien Gebietsgewinne und andere Belohnungen in Aussicht stellten; manche dieser Zusicherungen widersprachen einander freilich. Welche Ziele man sich steckte und in welchem Umfang, schwankte mit dem jeweiligen Schlachtenglück. Die Erfordernisse der Massenpolitik trieben die Kabinette mehr und mehr in einen Zwiespalt zwischen der Verfolgung begrenzter, aber vielleicht realisierbarer Ziele und der Notwendigkeit, den Enthusiasmus des


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