Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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nach den eigenen Interessen traf. Allerdings war Österreichs Herrschaftsriege gerade in der aktuellen Frage nicht einig: Da gab es die Kriegspartei um Generalstabschef Conrad von HötzendorfHötzendorf, Conrad von, die Friedensfraktion um den ungarischen Ministerpräsidenten István TiszaTisza, István und den zwischen beiden Positionen schwankenden Außenminister Leopold Graf BerchtoldBerchtold, Leopold von, der eine »militante Diplomatie« verfocht. Um sich Rückendeckung für die Strafaktion zu holen, auf die man sich schließlich einigte, sandte Österreich Kabinettschef Alexander von HoyosHoyos, Alexander von nach BerlinBerlin. Dort erhielt er den berüchtigten »Blankoscheck«, weil Deutschland fürchtete, sonst seinen letzten großen Verbündeten zu verlieren. Während der entscheidenden Ministerratssitzung am 14. Juli überzeugte BerchtoldBerchtold, Leopold von TiszaTisza, István, ein demütigendes Ultimatum an Serbien mitzutragen. Die sicherlich folgenden ablehnenden Reaktionen würden Österreich einen Vorwand liefern, um anzugreifen.3 Durch den Versuch, dem südslawischen Irredentismus mit Gewalt zu begegnen, löste Wien einen Krieg aus, von dem es sich erhoffte, er werde die Monarchie retten. Stattdessen sollte er sie am Ende zerstören.

      Die Russen zeigten sich entschlossen, ihren Schutzbefohlenen Serbien zu unterstützen – schon, weil sie ihren Einfluss auf dem BalkanBalkan behalten wollten. Damit konnte der Konflikt zu einem kontinentalen Krieg eskalieren. Die Führungsriege in Sankt PetersburgSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) gab dem Opfer die Schuld an seiner Ermordung und suchte nach einer Strategie, wie man den österreichisch-deutschen Versuch durchkreuzen könnte, den Konflikt in der BalkanregionBalkan zu halten. Bei einem derart eingegrenzten Krieg, so die russische Erwartung, werde es WienWien sicherlich gelingen, BelgradBelgrad zu besiegen. Einerseits versammelte Russland mit falschen Beschuldigungen seine Alliierten hinter sich und versicherte Serbien seines Beistandes für den Fall, dass Österreich es angreife. Andererseits bereitete es die Mobilisierung seiner eigenen Truppen an der österreichischen Grenze vor, um das Habsburgerreich von eventuellen Kriegsabsichten abzubringen. Zwar zeigte sich Zar Nikolaus II. Nikolaus II.nach einem entsprechenden Appell Wilhelms II. Wilhelm II.bereit, die Mobilmachung auf den österreichischen Teil der Front zu beschränken, doch Außenminister Sergej SasonowSasonow, Sergej und Kriegsminister Wladimir SuchomlinowSuchomlinow, Wladimir drängten weiter auf eine umfassende präventive Mobilmachung, weil sie die Armee für einen Konflikt mit Deutschland kampfbereit wissen wollten.4 Diese unerwartet breite Aufstellung von Truppen zwang den Kontinentalkrieg herbei und verhinderte eine Begrenzung des Konflikts, denn der massive Einsatz nötigte Berlin, nun auch gegen Russland und Frankreich mobilzumachen.

      Die Entscheidungen, die Deutschland damals traf, waren und bleiben unter Historikern besonders umstritten, denn es charakterisiert sie eine seltsame defensive Aggressivität: BerlinBerlin wollte seine Position gleichzeitig sichern und ausweiten. Zudem war nicht immer klar, wer jeweils wirklich das Sagen hatte: der launenhafte KaiserWilhelm II., der nervöse Generalstabschef Helmuth von MoltkeMoltke, Helmuth von oder der pessimistische Reichskanzler Theobald von Bethmann HollwegBethmann-Hollweg, Theobald von. In einem jedoch bestand Einigkeit: Deutschland werde Österreich unterstützen, komme, was da wolle. Die zivilen Mitglieder der Führungsriege verfolgten eine »Risikopolitik«, um zu testen, was Russland vorhatte. Man nahm einen lokalen Krieg auf dem BalkanBalkan in Kauf und riskierte auch einen größeren kontinentalen, denn selbst der erschien den Strategen noch gewinnbar. Aber sie wollten keinen Krieg mit Großbritannien, der die eigenen Kräfte dann doch überfordern würde. Besorgt beobachtete BerlinBerlin, wie rasch Russland militärisch wuchs und wie Frankreich sich bemühte, seine Truppen zu modernisieren. In dieser Situation erschien die Ermordung des Erzherzogs als letzte Chance, um Deutschlands diplomatische »Einkreisung« zu durchbrechen. Dass der Schlieffen-Plan den Angriff nach Westen an die erste Stelle setzte, zwang die Regierung, nicht nur Russland, sondern auch dessen Alliiertem Frankreich ein Ultimatum zu stellen.5 Erst als den Deutschen klar wurde, dass auch England sich ins Getümmel zu stürzen beabsichtigte, wollten sie wohl gern einen Rückzieher machen, aber da war es schon zu spät.

      Erstaunlicherweise entgehen auch die Aktivitäten der Franzosen während der Julikrise häufig der Aufmerksamkeit, obwohl sie ebenfalls einen beträchtlichen Beitrag zum Zusammenbruch des Friedens leisteten. Nach seiner Niederlage im Französisch-Preußischen Krieg 1870/71 war eine der wenigen Konstanten innerhalb der europäischen Diplomatiewelt das Gebaren Frankreichs: ParisParis suchte Revanche mit dem festen Willen, die verlorenen Provinzen ElsassElsass und LothringenLothringen zurückzuerobern. Da es nach wie vor an der nationalen grandeur hing, die ihm Herrscher wie Ludwig XIV. Ludwig XIV.und NapoleonNapoleon Bonaparte verschafft hatten, bemühte sich Frankreich zudem, eine Dominanz des volkreicheren und industriell dynamischen Nachbarn Deutschland zu verhindern. Als der Sozialistenchef Jean JaurèsJaurès, Jean am 31. Juli von einem französischen Nationalisten ermordet wurde, war eine führende Stimme für Frieden und Versöhnung zum Schweigen gebracht. Während seiner Gespräche in Sankt PetersburgSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) auf dem Höhepunkt der Krise riet Präsident Raymond PoincaréPoincaré, Raymond nicht etwa zur Mäßigung, sondern versicherte der russischen Führung, dass Frankreich dem Zarenreich zur Seite stehen werde, denn er wollte sich eine Gelegenheit zum Kämpfen nicht entgehen lassen.6 Die Verantwortung der serbischen Irredenta ignorierte Paris. Der Wunsch nach Revanche trieb so auch Frankreich in den Konflikt, das durch seinen Eintritt den kontinentalen Krieg vervollständigte.

      Um die Rolle Englands gab und gibt es ebenfalls heftige Debatten, da seine Entscheidung für den Krieg den Übergang zu einem generellen europäischen Konflikt mit weltweiten Implikationen bedeutete. Die Mehrheit des liberalen Kabinetts unter Herbert AsquithAsquith, Herbert neigte eher zum traditionellen Abstandhalten zu kontinentalen Angelegenheiten; man wollte lieber vom Spielfeldrand zuschauen. Aber das Außenministerium unter Sir Edward GreyGrey, Edward war frankophil und hob daher die Gefahr hervor, die ein immer stärker werdendes Deutschland für die britische Hegemonie bedeuten könnte. Außerdem steckten hochrangige Militärs tief in inoffiziellen Stabgesprächen mit den Franzosen, um die gemeinsame Verteidigung der Ärmelkanalküste zu planen. Und die britische Boulevardpresse liebte es, Wilhelm II. Wilhelm II.lächerlich zu machen, dessen Begabung für Ausrutscher sie mit reichlich Material versorgte. Als Deutschland die Neutralität Belgiens verletzte, wie der Schlieffen-Plan es vorsah, kippte die Stimmung in der bisher uneinigen Regierung zugunsten der Eingreifwilligen. Nun hatte man eine geeignete Rechtfertigung, mit der sich die Öffentlichkeit mobilisieren ließ. Was LondonLondon zur Intervention drängte, war freilich nicht die Entschlossenheit, internationales Recht zu verteidigen, sondern Solidarität mit der Entente. Hinzu kam die eigennützige Sorge, da wachse ein gewaltiger maritimer und kolonialer Rivale heran.7

      Die initiale Wucht der Eskalation brachte auch zwei entfernter gelegene Staaten in den Krieg hinein, denn gekämpft wurde nun auch jenseits des europäischen Kontinents. JapanJapan hatte sich seit der Meiji-Restauration tüchtig modernisiert und sich dabei an diversen europäischen Ländern orientiert, die den Prozess mustergültig hinter sich gebracht hatten. Nachdem man gegen Russland schon siegreich gewesen war, sah TokioTokio den europäischen Konflikt Ende August als Chance, sich diverser deutscher Besitzungen zu bemächtigen. Also verleibte man sich TsingtauTsingtau ein und desgleichen die Karolinen-Karolineninseln, die Marianen-Marianeninseln und die MarshallinselnMarshallinseln im PazifikPazifik; JapanJapan wollte die stärkste Macht in ganz Asien werden.8 Ähnlich hatte sich auch das Osmanische Reich, geführt von Enver PaschaEnver Pascha, in eine moderne Nation verwandelt, die ebenfalls europäischen Modellen folgte, was Säkularisierung, Erziehung und Wirtschaftswachstum betraf. Aufgrund geheimer Bündnisverträge duldeten die Osmanen, dass die beiden deutschen Schlachtkreuzer Goeben und Breslau unter Admiral Wilhelm SouchonSouchon, Wilhelm die türkischen Meerengen passierten und die russische Schwarzmeerflotte attackierten; im Oktober schloss sich IstanbulIstanbul den Mittelmächten an.9 Der türkische Kriegsbeitritt war von größerer strategischer Bedeutung, da er die Dardanellen für die Russen blockierte, die nun keine eisfreie Schifffahrtsroute hin zu ihren westlichen Alliierten mehr besaßen. Beträchtliche russische Truppenkontingente waren nun in den Bergen des Kaukasus gebunden.

      Entgegen der landläufigen Meinung brach der Erste Weltkrieg aus, weil das Führungspersonal insgesamt kollektiv versagte, nicht aber, weil einzelne Staatsoberhäupter, etwa der Kaiser, fehlgehandelt hätten. Wer da 1914 auf den Thronen saß – Monarchen wie Franz Joseph I. Franz Joseph I., Georg V.Georg V., Nikolaus II. Nikolaus II.und Wilhelm II. Wilhelm


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