Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


Скачать книгу
eine Flottenbasis im Atlantik errichten. LondonLondon war die französische Invasion in MarokkoMarokko zwar auch nicht recht, doch die deutschen Aktivitäten irritierten England stärker. Und so warnte der britische Premier David Lloyd GeorgeLloyd George, David BerlinBerlin unverblümt, ein Frieden um den Preis einer Beschädigung der Interessen und der Ehre der Nation »wäre eine Demütigung, die ein großes Land wie das unsere nicht ertragen könnte«. Die Diplomaten Alfred von Kiderlen-WaechterKiderlen-Waechter, Alfred von und Jules CambonCambon, Jules verhandelten, und schließlich vereinbarte man, dass Frankreich MarokkoMarokko unter sein Protektorat nehmen dürfe und Deutschland dafür ein Stück ÄquatorialafrikaÄquatorialafrika erhalte, das seiner Kolonie KamerunKamerun zugeschlagen werde.7 Während die deutsche Öffentlichkeit die Einigung als diplomatische Niederlage empfand, dehnte die britische Marine ihren Schutzbereich auf die französische Seite des Ärmelkanals aus.

      Die Balkankriege 1912/13 stellten das internationale Ordnungsgefüge auf eine harte Probe, doch blieben sie auf Südosteuropa beschränkt, weil die Großmächte beschlossen hatten, nicht direkt zu intervenieren. Im ersten Konflikt besiegte der Balkanbund, bestehend aus Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro, das Osmanische Reich. Mit dem Londoner Vertrag endete nun die jahrhundertelange Herrschaft der Türken über die BalkanhalbinselBalkan. In der zweiten Auseinandersetzung attackierte Bulgarien seine bisherigen Verbündeten, zog aber den Kürzeren, zumal Rumänen und Osmanen den Angegriffenen zu Hilfe kamen. Im Friedensvertrag von Bukarest verlor Bulgarien alle Landgewinne, die ihm der Erste Balkankrieg eingebracht hatte. Die Feuersbrunst verbreitete sich nicht bis in die größeren europäischen Länder, denn die waren noch nicht kriegsbereit, und den LondonerLondon Botschafterkonferenzen gelang es beide Male, Kompromisse auszuhandeln.8 Der Wunsch der Russen nach freier Fahrt durch den Bosporus erfüllte sich nicht, es blieb ihnen nur die Unterstützung des expansionistischen Serbiens. Die Österreicher blockierten Belgrads Zugang zur AdriaküsteAdria, indem sie die Gründung eines unabhängigen Albaniens förderten, während die Bulgaren und Osmanen sich nunmehr Deutschland zuwandten. Ein größerer Krieg war nun zwar abgewendet, doch zeichneten sich schon künftige Frontverläufe ab.

      Während die Feindseligkeit wuchs, entwarfen die Generalstäbe aller Großmächte offensive Kriegspläne gegen ihre mutmaßlichen Feinde – Pläne, die ihnen ihr Handeln im Juli 1914 praktisch diktierten. Die Österreicher etwa erwarteten eine Provokation vonseiten der Serben und bereiteten sich auf einen Krieg mit deren russischen Protektoren vor. Da Deutschland mit einem Zweifrontenkrieg rechnete, plante Graf Alfred von SchlieffenSchlieffen, Alfred von, zunächst Frankreich zu besiegen. Dafür sollten deutsche Heeresgruppen erst das neutrale Belgien passieren und dann weitschweifende Bögen durch Frankreich ziehen, um die französischen Festungen zu umgehen und der gegnerischen Armee in den Rücken zu fallen. War dies erledigt, sollten die deutschen Streitkräfte sich dem wohl etwas langsameren Vormarsch der Russen entgegenwerfen. Frankreich selbst ging es primär darum, seine verlorenen Provinzen wiederzuerlangen. Sein strategisches Konzept, genannt »Plan XVII«, sah eine Generaloffensive nach SüddeutschlandSüddeutschland vor. Ein Angriff ohne Rücksichten sollte das werden, der, so die Erwartung der Führung, den Kampfgeist der Truppe heben würde. Um seinen Verbündeten sofort zu Hilfe kommen zu können, konzipierte Russland eine schnellere Mobilisierung als ursprünglich vorgesehen, einem Feldzug zuliebe, den es nicht nur gegen WienWien, sondern auch gegen BerlinBerlin führen wollte. MoskauMoskau plante, in OstpreußenOstpreußen und GalizienGalizien einzumarschieren. Auch Großbritannien fand sich schließlich in den Krieg hineingezogen: Gespräche zwischen den Generalstäben beider Länder bewirkten, dass England sich immer tiefer verpflichtet fühlte, sich an der Verteidigung Frankreichs zu beteiligen, obwohl es offiziell verkündete, neutral bleiben zu wollen.9 Bisher hatte sich noch für jede Krise eine friedliche Lösung gefunden – und doch zeigte sich Europa aus den genannten Gründen im Sommer 1914 in zwei große Allianzen geteilt, die bereit waren, gegeneinander Krieg zu führen.

      Als letzte in einer Reihe von immer feindseligeren Auseinandersetzungen ähnelte die Julikrise den vorherigen Konfrontationen, aber in ihrem wichtigsten Aspekt unterschied sie sich – im Ergebnis. Alles begann mit der Ermordung Franz FerdinandsFranz Ferdinand und hätte eine lokale Streitigkeit zwischen der Habsburgermonarchie und der serbischen Nationalistenbewegung bleiben können, wären da nicht die Bündnissysteme gewesen: Rasch – und vorhersehbar – fand sich Russland als BelgradsBelgrad Schutzpatron in die Händel verwickelt, was wiederum Deutschland als Österreichs Alliierten und Frankreich als Russlands Freund hinzuzog. Anders als bei den bisherigen Balkankriegen brachte sich in dieser Krise eine der Großmächte gegen den Klientelstaat einer zweiten Großmacht in Stellung. Eine überhitzte öffentliche Meinung, von einer verantwortungslosen Presse befeuert, machte Kompromisse äußerst schwierig, und diplomatische Entscheidungen sahen sich eingeengt durch die technischen Notwendigkeiten, die Kriegsvorbereitungen und Mobilisierungszeitpläne mit sich bringen. Als Großbritannien seine splendid isolation aufgab, um Frankreich zu Hilfe zu kommen, war keine europäische Großmacht mehr übrig, die in der Lage gewesen wäre zu vermitteln. Da Deutschland an keiner weiteren Konferenz teilnehmen mochte, um nicht abermals gedemütigt zu werden, fehlte dem Beziehungssystem der modernen Staaten ein Mechanismus, der die Katastrophe noch hätte aufhalten können.10

      Der Prozess der Eskalation

      Obwohl die bisherigen Auseinandersetzungen den Schluss nahelegen mochten, dass ein Waffengang bevorstehe, bedurfte es doch einer Reihe von Entscheidungen einzelner Regierungen, um den Ersten Weltkrieg loszutreten. Ungeachtet all der Gewitterwolken aus Feindseligkeit, die sich da zusammenballten, hielten viele Europäer den Kollaps der Kooperation für unwahrscheinlich. Der Fortschritt der Zivilisation hatte, so schien es, die Oberhand gewonnen über den atavistischen Brauch, gegeneinander Krieg zu führen. Denn dank der hochentwickelten Waffentechnologie sei ein zuvor nie dagewesenes Zerstörungspotenzial erreicht, das, meinten die Optimisten, die Länder schon vom Krieg abschrecken werde. Aber die Julikrise zeigte, dass bestimmte negative Faktoren der Modernisierung – etwa Nationalismus, Sozialdarwinismus und Militarismus – eine »gemeinsame politische Kultur« in den europäischen Hauptstädten geschaffen hatten, die den Krieg als Mittel zur Durchsetzung nationaler Interessen legitimierte. Optionen der Versöhnung, die den Ausbruch noch verhindern konnten, hätte es gegeben; doch die konfrontativen Entscheidungen ließen am Ende wirklich keine Handlungsmöglichkeit mehr offen als eben den militärischen Konflikt.1 Indem sie beständig dem Kompromiss das Risiko vorzogen, setzten die beteiligten Staatsführer einen Prozess der Eskalation in Gang, der einen lokalen Zwist auf dem BalkanBalkan zu einem kontinentalen Konflikt steigerte, um dann aus einer europäischen Auseinandersetzung einen Weltkrieg zu machen.

      Den Funken, der das Feuer entzündete, lieferte Serbien, das damals wild entschlossen war, einen größeren Nationalstaat für die Südslawen zu schaffen. Überraschenderweise wird die zentrale Rolle BelgradsBelgrad von der Geschichtsschreibung häufig ignoriert; dabei sollten die Gräuel der erst wenige Jahre zurückliegenden Jugoslawienkriege doch Grund genug sein, darüber nachzudenken, ob man diese Sachverhalte wirklich vernachlässigen kann. Es besteht wenig Zweifel daran, dass der serbische Militärgeheimdienst und dessen Leiter, Oberst »Apis« DimitrijevićDimitrijević, Dragutin, hinter dem Attentat von Sarajevo steckten. Sie nämlich besorgten den jugendlichen bosnischen Terroristen die benötigten Waffen, bildeten sie daran aus und leisteten logistische Hilfe. Die jungen Männer mag man als fehlgeleitete Idealisten betrachten, die einem fanatischen südslawischen Nationalismus anhingen. Ihre erwachsenen Hintermänner dagegen – unter ihnen Angehörige der serbischen Machtelite, etwa Premierminister Nikola PašićPašić, Nikola – wussten, dass die von ihnen befohlene Ermordung einer hochgestellten österreichischen Persönlichkeit Krieg bedeuten konnte. Zuerst hatte man Provinzgouverneur Oskar PotiorekPotiorek, Oskar als Opfer ausersehen, später entschied man sich dann für den Thronerben. Trotz der lückenhaften Quellenlage lässt sich doch so viel sagen: Es ist unwahrscheinlich, dass die serbische Führung all dies tat, ohne sich der Unterstützung durch Russland sicher zu sein. Obschon einigen Zivilisten in letzter Minute Bedenken kamen, war es letztlich der staatlich geförderte Terrorismus der Serben, der die Kanone, die sie mit geladen hatten, von alleine losgehen ließ.2

      Die grobe Antwort Österreichs auf das Attentat hatte einen lokalen Krieg auf dem BalkanBalkan zur Folge, der als Strafexpedition gegen die Serben auch den russischen Einfluss in der Region schwächen


Скачать книгу