Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


Скачать книгу
es sich, angeführt von Preußen, 1871 vereinigt hatte, begann auch das neu geschaffene Deutsche Reich imperiale Aspirationen zu entwickeln. Während der 1880er Jahre wurde in Berlin der Ruf immer lauter, man müsse sich unbedingt Kolonien verschaffen. Anders als die USAVereinigte Staaten, die, jedenfalls rhetorisch, eine »Politik der offenen Tür« vertraten, glaubten führende Köpfe Deutschlands, ihr Reich könne seine kommerziellen Interessen besser schützen, wenn es auswärtige Gebiete regelrecht besäße. Widerwillig gab Otto von BismarckBismarck, Otto von dem nach. Er moderierte nicht nur die Neuaufteilung Afrikas beim Berliner Kongress 1884/85, sondern erwarb dem Reich auch Kolonien in Afrika: das künftige Deutsch-OstafrikaDeutsch-Ostafrika und Deutsch-SüdwestafrikaDeutsch-Südwestafrika sowie die Länder TogoTogo und KamerunKamerun. Nicht, dass diese Besitzungen besonders profitabel gewesen wären (nur TogoTogo warf Erträge ab), doch ihre bloße Existenz störte englisch-französische Pläne, den ganzen Kontinent zu kontrollieren. Als kolonialistische Nachzügler erschienen die Deutschen an den unwahrscheinlichsten Orten, etwa auf SamoaSamoa, und verlangten recht rüde einen Teil des Territoriums, auch wenn dort schon andere saßen. Es war diese Kombination aus Dynamik und Penetranz, die im Ausland für Zorn sorgte.5

      Die wachsenden Spannungen zeitigten auch im literarischen und publizistischen Bereich Konsequenzen. Schriftsteller und Journalisten mühten sich, aus ehemaligen Widersachern Freunde und aus ehemaligen Freunden neue Feinde zu machen. So präsentierten britische Autoren plötzlich Frankreich – bisher LondonsLondon Hauptrivale zur See, in den Kolonien und auf dem Kontinent – in einem günstigeren Licht; ParisParis avancierte zu einem Zentrum der Mode und der Kunst. Nun geißelte man nicht mehr NapoleonsNapoleon Bonaparte hegemoniale Bestrebungen, stattdessen priesen Reiseschriftsteller die Schönheiten der ProvenceProvence und der französischen RivieraRiviera. Dagegen wurden die Deutschen, die bisher als Vettern ersten Grades der Angelsachsen galten und als Mitglieder der weißen protestantischen Rasse Wertschätzung genossen, auf einmal finsterer gezeichnet. In seinem 1903 erschienenen und sehr populären Roman The Riddle of the Sands (dt. Das Rätsel der Sandbank) schrieb etwa Erskine ChildersChilders, Erskine über eine Gruppe junger Männer, die zufällig auf eine geheime deutsche Armada stoßen und deren Plan durchkreuzen, Großbritannien anzugreifen. Die packende Abenteuergeschichte befeuerte die Ängste der Briten so sehr, dass die Admiralität sich gezwungen sah, mehrere defensive Flottenstützpunkte in und an der NordseeNordsee zu bauen.6 Diese Agentenfiktion war also keine harmlose Unterhaltung, sondern psychologische Vorbereitung auf einen neuerlichen Krieg.

      Der konkrete Hintergrund der kulturellen Kriegsschwärmerei war ein ungestümes Wettrüsten zur See zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich. Da die Royal Navy während des ganzen bisherigen 19. Jahrhunderts die Meere beherrscht hatte, entschied Kaiser Wilhelm II.Wilhelm II., auch Deutschland brauche eine schlagkräftige Seestreitkraft, um seine Kolonien zu verteidigen und die Briten an den Verhandlungstisch zurückzubringen. Um sich ihre Überlegenheit zu bewahren, konterten die Briten 1906 mit einem technologischen Quantensprung, einem neuen Typ von Schlachtschiff, genannt dreadnought (wörtlich: ›Fürchtenichts‹), dessen leistungsstärkere Kanonen, festere Panzerung und höhere Geschwindigkeit die bisher üblichen Linienschiffe obsolet machten. Etwas überrascht war er schon, der deutsche Marinestabschef Alfred von TirpitzTirpitz, Alfred von, doch hielt er an dem Ziel fest, zwei Drittel der britischen Stärke zu erreichen. Dadurch sollte es für London zu riskant werden, die deutsche Flotte zu attackieren. Sein Gegenspieler bei den Engländern aber, Admiral John FisherFisher, John, beharrte darauf, dass die Royal Navy stärker bleiben müsse als die nächststärkeren zwei Flotten zusammen, und sorgte dafür, dass die Briten ihre Kriegsschiffsbautätigkeit verdoppelten.7 Dieses Wettrennen stellte nicht nur den technischen Erfindungsreichtum und die industriellen Kapazitäten der Engländer auf eine harte Probe, sondern auch ihre finanziellen Möglichkeiten und ihre politische Entschlossenheit. Um zu gewährleisten, dass die Öffentlichkeit mit diesen Notwendigkeiten Schritt hielt, war ein gewaltiger Propagandaeinsatz notwendig.

      Gleichzeitig entwickelte sich ein weiterer gefährlicher Wettbewerb zwischen der französisch-russischen Allianz und dem österreichisch-deutschen Zweibund, nämlich der um die größte Armee. Wegen seiner abnehmenden Bevölkerung bestand Frankreich auf der allgemeinen Wehrpflicht und zog 83 Prozent der betroffenen Jahrgänge ein. Die Deutschen dagegen verpflichteten nur 53 Prozent, weil die preußischen Junker das Offizierskorps nicht mit Männern aus der Mittelklasse ›verdünnt‹ sehen wollten. Angesichts ihrer zahlreichen Untertanen riefen die Russen nur 20 Prozent zu den Fahnen, aber sie modernisierten ihre technischen Kapazitäten und vermehrten zumindest die Zahl der Rekruten. 1912 forderte General Erich LudendorffLudendorff, Erich nachdrücklich die drastische Vergrößerung des deutschen Heeres, doch angesichts der gewaltigen Ausgaben für die Marine schien nur eine Erweiterung auf rund eine Dreiviertelmillion Soldaten möglich. Da die Aufstockung der bewaffneten Kräfte recht teuer war, musste die Bevölkerung überzeugt werden, indem man ihr einredete, ein feindlicher Angriff stehe unmittelbar bevor. Das Wettrüsten zu Lande ging nach demselben Muster vonstatten wie das zur See: Wenn eine Seite ihre Kampfkraft stärkte, bemühte sich die andere, nachzuziehen.8 Die Folge der ganzen Aufregung war, dass beide Parteien sich immer unsicherer fühlten.

      Wachsende Furcht und Feindstereotype flossen in spekulative Literatur über einen baldigen Krieg ein. Zu besonderer Bekanntheit gelangte eine prophezeiungsartige Schrift General Friedrich von BernhardisBernhardi, Friedrich von, dem man Kompetenz zutraute; schließlich war er deutscher Militärattaché und Historiker des Generalstabs gewesen. 1911 erregte er eine stürmische Kontroverse mit dem Buch Deutschland und der nächste Krieg; darin bezeichnet er sozialdarwinistisch den Krieg als eine »biologische Notwendigkeit«, um die Tauglichkeit einer Nation zu prüfen. BernhardiBernhardi, Friedrich von proklamiert nicht nur eine sittliche Pflicht, Krieg zu führen, er beharrt sogar auf einem »Recht zum Kriege« und zur Eroberung. Besonders ein Land wie Deutschland dürfe und müsse dieses wahrnehmen, da es bei der Aufteilung der Welt zu kurz gekommen sei. Denn als es die Arena betreten habe, seien die meisten Territorien schon vergeben gewesen. Mit ominösem Unterton nimmt er die Träume späterer Rassisten vorweg, wenn er Möglichkeiten zur Expansion hauptsächlich in Osteuropa sieht. Verbreitet vom Alldeutschen Verband, wurde das Buch rasch ins Englische und Französische übersetzt. Dort im Ausland diente es wiederum als Beweis für die deutsche Kriegslüsternheit; dabei stand es gar nicht im Einklang mit der offiziellen Politik.9 Dieses Szenario und ähnliche Traktate, auch von Autoren anderer Nationen, machten den Ausbruch des Krieges, den sie so fleißig herbeischrieben, nur wahrscheinlicher.

      Reale und vermeintliche Gefahren aus rivalisierenden Ländern wurden namentlich von der Boulevardpresse breitgetreten, billigen Tagesperiodika, die mit Skandalen und Gerüchten hohe Verkaufszahlen erzielten. Die Vorkriegsjahre waren das Goldene Zeitalter der Presse, denn Dutzende von Morgen- und Abendblättern erheischten in den Hauptstädten plakativ öffentliche Aufmerksamkeit. Selbstverständlich hatte jedes große Land eine seriöse Zeitung, England etwa die London Times, Frankreich Le Temps und Deutschland das Berliner Tageblatt, die ihr Bestes taten, akkurat zu berichten. Doch waren auch sie nicht davor gefeit, parteiisch zu werden, wenn es um das ging, was sie für das ›nationale Interesse‹ hielten. Gefährlicher waren Massenpostillen wie die Daily Mail oder die Berliner Zeitung, die sich an ein unterdurchschnittlich gebildetes Publikum wandten und ihm sensationelle Stories boten, ohne sich immer die Mühe zu machen, diese auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen.10 In jedem Land fachte die Boulevardpresse die Leidenschaften des Volkes an, indem sie nationale Stereotype verwendete und Gefahren übertrieb, die von auswärts drohen sollten. Sogar die Kinder wurden militaristisch konditioniert: Man bedachte sie mit Kriegsspielzeug. Indem sie internationale Konflikte anheizten und stereotype Feindbilder kreierten, unterminierten die negativen Dimensionen der Modernisierung den Frieden und halfen, das große Publikum auf den Krieg vorzubereiten.

      Polarisierende Krisen

      Noch war die internationale Kooperation nicht institutionalisiert. Daher erstaunt es nicht, dass eine Serie diplomatischer Krisen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Faktoren, die für Feindseligkeiten sorgten, verschärften. Bisher hatte ein System des Gleichgewichts der Kräfte das Ärgste verhindert, und man betrachtete solche Konfrontationen als normalen Teil internationaler Beziehungen: Staaten verfolgten nun einmal konfligierende Interessen durch Verhandlung oder Gewalt, bis


Скачать книгу