Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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Verwaltungskräfte vor Ort waren, bedurfte die Kontrolle über große Territorien und Bevölkerungen der Unterstützung durch ausgebildete Einheimische, niederrangige Beamte, die man zu Büroangestellten, Gerichtshelfern, Polizisten und Zöllnern ernannte. Während ihrer Arbeit bemerkten diese Subalternen mehr und mehr, dass sie ihre Kenntnis der europäischen Gesetze und Verfahrensweisen auch für ihre eigenen Interessen nutzen konnten.6 Paradoxerweise mussten sie, die im Kolonialjargon bald »verwestlichte orientalische Herren« (westernized oriental gentlemen) hießen, gerade um sich dieses Wissen anzueignen, die europäische Dominanz mit aufrechterhalten und gerieten so zwischen die kulturellen Fronten.

      Die Reaktion der Kolonisierten auf diese ausbeuterische Modernisierung war daher höchst ambivalent, was aber nur die Doppelnatur und Widersprüchlichkeit der kolonialistischen Einwirkung reflektierte. Als ihnen klar wurde, wie destabilisierend die Kolonialisierung wirkte, versammelten sich die lokalen Eliten hinter ihren eigenen Traditionen, um sie zu verteidigen. Dies geschah manchmal in blutigen Erhebungen, etwa dem Sepoy-Aufstand 1857, die mit großer Brutalität niedergeschlagen wurden. Eine erfolgreichere Taktik war die der Anpassung: Man lernte gemeinschaftlich die europäischen Gebräuche und Methoden, um sie für die eigenen Zwecke zu nutzen. Denen, die dies versuchten, kam zugute, dass liberale Kolonisatoren den Söhnen der einheimischen Elite erlaubten, an britischen und französischen Universitäten zu studieren, um sich die technischen Fähigkeiten, das Feinwissen und die Kultiviertheit der Europäer anzueignen – Kompetenzen, die sie brauchten, um nach ihrer Rückkehr bei der Transformation ihrer Heimatländer mitzuhelfen.7 In den autokratischeren Landimperien zog dieser Prozess unweigerlich die totale Assimilation an die herrschende Ethnie nach sich, etwa an die Türken, die Russen, die Deutschen oder die Ungarn. Gleichermaßen willkommen geheißen und zurückgestoßen, beschlossen jene kolonialen Intellektuellen, die sich nicht mit ihrer untergeordneten Rolle abfinden mochten, folgende Strategie: Sie wollten ebenjene attraktiven Ideologeme, bewährten Organisationsverfahren und schlagkräftigen militärischen Techniken, die sie von den Europäern gelernt hatten, verwenden, um die koloniale Herrschaft abzuschütteln.

      Imperiale Kultur

      Zwar wird dieser Aspekt oft übersehen, doch der Imperialismus hatte durchaus eine beträchtliche Prägewirkung auch auf die europäischen Länder, deren eigene Entwicklung er teils beschleunigte, teils behinderte. Einige Wissenschaftler meinen, dass sich in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts eine »imperiale Kultur« herausbildete, welche die Notwendigkeit, ein Imperium zu haben, propagierte und dessen Nutzen für die gesamte Gesellschaft pries. Dann hätte der Imperialismus aber viel umfassender als Lehrstoff in den Schulen auftauchen müssen, tatsächlich spielte er dort kaum eine Rolle. Andere Historiker vertreten deshalb die These von den »geistesabwesenden Imperialisten«: Zwar seien sie welche gewesen, aber es sei ihnen nicht recht zu Bewusstsein gekommen. Denn die Einwirkung des Imperiums auf das Leben der Durchschnittsmenschen in Europa sei tatsächlich minimal gewesen.1 Betrachtet man die Belege und Befunde näher, drängt sich der Schluss auf, beide Lesarten könnten teilweise korrekt sein. Eine stark engagierte Minderheit enthusiastischer Imperialisten war direkt ins Betreiben der Kolonien involviert, von denen sie profitierten, weswegen sie ihnen hohe Bedeutung zumaßen. Die passive Mehrheit kam mit der Angelegenheit hingegen kaum in Berührung. Sie nahm die Existenz ihres Imperiums schlicht hin, solange es sie nicht belastete. Doch eine kleine, aber wachsende Schar von Kritikern begann allmählich Einsprüche zu erheben gegen die finanziellen Kosten des Imperialismus und gegen seine ethischen Verstöße.

      Unter jenen, die das Thema Imperium als verlockend empfanden, bildeten europäische Wissenschaftler, die sich in weite Ferne begaben, um neue Dinge zu entdecken, eine bedeutsame Gruppe. Eine ganze Phalanx von Disziplinen war beteiligt: Geografen verkarteten bisher »unbekannte« Territorien; Geologen prüften diese auf Erzlagerstätten; Biologen katalogisierten neue Tier- und Pflanzenarten; Ethnologen beobachteten die Sitten und Gebräuche der »primitiven Kulturen«; Linguisten transkribierten die Dialekte vor Ort; Mediziner studierten die Ursachen tropischer Krankheiten. Zuerst fügten diese Erkundungen nur bereits existierenden Forschungsbereichen neue hinzu, nämlich Nichteuropäisches betreffende Spezialgebiete. Schließlich aber fasste man diese verschiedenen Sujets in Kolonialinstituten zusammen, in denen künftige Imperialisten ausgebildet werden sollten. Wie der postkoloniale Literaturtheoretiker Edward SaidSaid, Edward zu Recht vermerkt, war die Perspektive, die man dort einnahm, ein paternalistischer Blick, der das fremde »Andere« zum Studienobjekt reduzierte. Außerdem zog die exotische Differenz das allgemeine Publikum in den Kolonialausstellungen und den frisch eröffneten Völkerkundemuseen an. Während viele der Funde und Ergebnisse das Bewusstsein rassischer Überlegenheit festigten, trugen andere Forschungen zu wissenschaftlichen Entdeckungen bei, von denen auch die kolonisierten Völker etwas hatten – etwa indem sie ihnen ermöglichten, tropische Krankheiten zu bekämpfen.2

      Einen weiteren einflussreichen Block der Imperialismusbefürworter bildeten die Geschäftsleute, die vom Handel mit den Kolonien profitierten. Einige besaßen Schifffahrts- oder Eisenbahnlinien, die Waren und Post transportierten; dadurch stellten sie Verbindungen und Verkehr zwischen der Heimat und den Kolonien sicher. Auch die Betreiber von Gewürz-, Kaffee- oder Obstplantagen schätzten das Imperium, ebenso die Einzelhändler in Europa, die sie belieferten und die auf eine nicht abreißende Versorgung mit solchen Kolonialwaren angewiesen waren. Viele Kompanien ließen nach wertvollen Mineralien suchen, etwa Diamanten, oder nach Rohstoffen wie Kupfer. Die Materialien wurden dann veredelt und in zahllose Produkte eingearbeitet, die man an Kunden in den Metropolen verkaufte. Imperiumsgewinnler waren ferner die Fabrikanten massengefertigter Textilien und Küchengeräte wie Kochtöpfe; sie brauchten die kolonialen Märkte, damit sie ihre Produktion über das hinaus steigern konnten, was sie zu Hause absetzten.3 Und sogar einige einfache Leute bauten aufs Imperium: Entweder wollten sie sich im Kolonialhandel ein Vermögen erarbeiten oder aber sich dauerhaft in einem dieser Gebiete niederlassen. Zwar meinten liberale Skeptiker, die ökonomischen Ziele, um derentwillen man Kolonialismus treibe, ließen sich billiger durch Freihandel erreichen. Doch die Imperialisten beharrten, politische Kontrolle sei unverzichtbar.

      Staatsbedienstete, die auf eine raschere Karriere hoffen konnten, wenn sie sich in die Auslandsterritorien versetzen ließen, bildeten eine weitere imperiumsfreundliche Interessengruppe. Besonders Armee- und Marineoffiziere lockten die Abenteuer in der Fremde; zudem durften sie damit rechnen, dort schneller befördert zu werden als daheim. In den Kolonien konnten sie ferner neue Waffen wie Kanonenboote und Artillerie an unglücklichen Einheimischen ausprobieren. Wurden in Europa schon zivilisiertere Formen der Kriegsführung verlangt, mussten Militärs sich bei der Niederschlagung von Aufständen wie dem der Hereros an keine Rücksichten halten. Auch bot das Imperium Beamten, die daheim irgendwo in der Mitte ihrer Laufbahn stagnierten, die Möglichkeit eines großen Sprunges nach oben. In den Auslandsgebieten war ihre Autorität weniger eingeschränkt; dort konnten sie die Kolonisierten herumkommandieren. Hatte jemand seine Familie durch einen Skandal kompromittiert, wurde er bisweilen zur Strafe nach Übersee exiliert. Nach einer gewissen Schamfrist durfte er zurückkehren, sofern er nicht erneut Schande auf die Seinen lud. Je nachdem, wo man hinkam, drohten an manchen Versetzungszielorten zweifellos Krankheit oder Tod; aber der noble Lebensstil, den man als Europäer dort pflegen konnte, tröstete über solche Gefahren doch leicht hinweg. Während wissenschaftliche Entdeckungen und ökonomische Entwicklungen dazu beitrugen, Europa zu modernisieren, verstärkte die militärische und bürokratische Seite des Imperialismus eher konservative Machtstrukturen.4

      Und noch eine Gruppe unter den Pro-Imperialisten müssen wir erwähnen: Altruisten, die in die Kolonien gingen, weil sie den indigenen Völkern helfen wollten, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Viele Missionare, ausgesandt von verschiedenen Konfessionen, beseelte der Wunsch, der einheimischen Bevölkerung den spirituellen Trost des Christentums zu bringen und sie moralisch zu läutern. Ähnlich lagen die Dinge bei Ärzten und Schwestern, die an kolonialen Hospitälern tätig waren und ebenfalls versuchten, den Schmerz und das Leid jener zu mildern, denen oft die wissenschaftlichen Kenntnisse und die pharmazeutischen Mittel zur Bekämpfung von Krankheiten und Seuchen fehlten. Des Weiteren zeigten einige Lehrer Bereitschaft, an Schulen in den Auslandsgebieten zu arbeiten. Sie wollten nicht nur der Langeweile ihres kontinentalen Lebens entfliehen, sondern auch das Licht der Aufklärung unter den »illiteraten und abergläubischen« Indigenen verbreiten. Zwar glaubten diese


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