Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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motivierten Geschäftsleute, Plantagen oder Bergwerke einzurichten, in denen Weiße die Aufsicht führten und Einheimische rücksichtslos um des Profits willen ausgebeutet wurden. Für die Verbraucher in den europäischen Metropolen lagen nun Importgüter wie Kaffee, Tee, Bananen, Orangen und Kakao als »Kolonialwaren« zum Kauf bereit.6 Da der Aufbau der notwendigen Infrastruktur teuer war, operierten die meisten Kolonien mit öffentlichen Geldern, um privaten Gewinn zu fördern.

      Etwas weniger klar ist, wie die soziale Dynamik des »Aufstiegs der Massen« mit dem Imperialismus zusammenhing. Einerseits fürchtete man sich vor der Überbevölkerung, bedingt durch den rapiden Bevölkerungszuwachs während der letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts, den Hans GrimmsGrimm, Hans Roman Volk ohne Raum (1926) recht dramatisch darstellt. Nicht wenige glaubten, ein besseres Leben zu erlangen, indem sie in die Kolonien emigrierten. Häufig wurden diese Hoffnungen jedoch enttäuscht, da ein solcher Wechsel mit beträchtlichen Härten verbunden war. Und so erfüllten sich die Erwartungen der Regierungen Europas, mit ihren einheimischen Slums per Imperialismus aufzuräumen, nur selten. Andererseits wirkte die Propaganda bestimmter pressure groups wie der Kolonialbünde und Flottenvereine, die Wirtschaftskreise mit bestimmten kommerziellen Interessen finanzierten, etwa Schifffahrtsunternehmen oder Kolonialimporteure. In Plakaten, Pamphleten und Vorträgen malten sie ein leuchtend helles Bild von den Chancen, die das Imperium dem Einzelnen eröffne – er müsse nur zugreifen.7 Und dann nutzten manche europäische Eliten die imperiale Expansion auch noch, um den Druck umzulenken, der von unten auf soziale Reformen sowie politische Partizipation drängte. So konnten sie einem schlichten Proletarier das Gefühl eingeben, mehr wert zu sein als ein fremdländischer Fürst.

      Der kulturelle Impetus des neuen Imperialismus war das paradoxe Projekt mit Namen mission civilatrice, »zivilisierende Mission«. Darunter wurden das Recht und die Pflicht verstanden, minderbedarfte Völker auf den europäischen Standard zu heben. Ursprünglich beinhaltete dieses Motiv noch das missionarische Ziel, den Heiden die Segnungen des Christentums zu bringen, damit auch sie eine Chance auf Erlösung erhielten. Die säkulare Version dieses Konzepts, die sich während der Aufklärung herangebildet hatte, schloss zusätzlich die Verbreitung einer vernunftbestimmten Lebensweise ein, für die Europäer der Gipfelpunkt der menschlichen Entwicklung. In seinem Gedicht »The White Man’s Burden« (»Die Bürde des weißen Mannes«) formuliert der britische Autor Rudyard KiplingKipling, Rudyard die klassische ethische Fundierung dieses Bestrebens: Er ruft die jungen Leute unter den Kolonisatoren auf, »den Bedürfnissen eurer Gefangenen zu dienen«. Doch indem er die kolonisierten Völker »halb Teufel und halb Kind« nennt, verrät er tiefsitzende Arroganz und Rassismus. Das widerspricht dem altruistischen Geist des Poems, worin er etwa fordert, man möge die sogenannten Wilden »aus ihrer Knechtschaft« befreien, indem man ihnen Wissen, Gesundheit und Zivilisation bringe. Das Zivilisierungsethos gab zwar vor, eine humanitäre Vision der Moderne zu propagieren. Doch in Wahrheit diente es nur dazu, ein problemloses Funktionieren der Kolonisierten innerhalb des imperialen Systems zu gewährleisten; volle Gleichberechtigung blieb ihnen versagt.8

      Noch ein letztes Bündel von Ursachen für den neuen Imperialismus sei genannt. Die Rivalität zwischen den Großmächten trieb bestimmte Länder dazu, mit den anderen um die Wette Kolonien zu erobern und auszubeuten, da sie fürchteten, sie würden sonst abgehängt. Aus der sozialdarwinistischen Sichtweise jener Jahre war die internationale Politik ein Überlebenskampf, der die Regierungen zwinge, jeden vermutbaren Macht- oder Landgewinn eines Nachbarn durch eigene Zuwächse auszugleichen. War ein Imperium einmal installiert, bestand auch die strategische Notwendigkeit der geopolitischen Verteidigung des eigenen Besitzes. Das erforderte Bekohlungsanlagen für die Dampfschiffe der Marine oder die Okkupation weiterer Ländereien, um eine Grenze militärisch abzusichern. 1890 formulierte der amerikanische Admiral Alfred T. MahanMahan, Alfred T. ein überzeugendes Credo zur eminenten Wichtigkeit von »Seemacht«: Imperien wie das britische, argumentierte er, verdankten ihre weltweite Macht ihrer Überlegenheit auf den Ozeanen. Er vertrat somit einen »Navalismus«, der sich bestens in den Imperialismus einpassen ließ. Solche Haltungen verschmolzen zu einer sozialdarwinistischen Vorstellung der nationalen Vitalität, die mit biologischen Metaphern dartat, dass die Zukunft den jungen und wachsenden Nationen gehöre, wogegen die alten und verfallenden das Nachsehen hätten.9

      Der Aufstieg des neuen Imperialismus in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts resultierte also aus der Dynamik der europäischen Moderne, die zu weitestmöglicher Expansion drängte. Viele der dabei wirkenden Motive – etwa wissenschaftliche Neugierde, kapitalistische Habsucht und Massenpolitik – waren treibende Kräfte der Modernisierung. Auch waren die meisten Werkzeuge der Herrschaftsergreifung – etwa Dampfer, Eisenbahnen, Telegrafen und Maschinengewehre – neue technische Erfindungen, welche die europäischen Länder schlagkräftiger machten. Dank ihrer See- und Landarmeen konnten sie neue Territorien erobern und dort bürokratische Verwaltungsapparate errichten, die ihnen die Machtausübung sicherten. Die humanitäre Vision einer »Zivilisierung« der Welt war ebenso eine europäische Erfindung, um den ganzen Erdball nach dem eigenen »progressiven« Bild zu formen. Alles in allem machten diese Kräfte den neuen Imperialismus so unaufhaltsam, dass er selbst störrische Traditionalisten wie Fürst Otto von BismarckBismarck, Otto von überrollte. Letzterer hatte zwar geschworen: »Solange ich Reichskanzler bin, betreiben wir keine Kolonialpolitik«.10 Doch das Ergebnis war das Gerangel, das Afrika und den Rest der noch-nicht-modernisierten Welt zerteilen sollte.

      Muster der Machtgewinnung

      Im Nachhinein erscheint immer noch erstaunlich, dass ein paar wenige Europäer es schafften, ihnen zahlenmäßig weit überlegene Völker und riesige Territorien zu unterwerfen, indem sie schlicht die Vorteile nutzten, welche die Moderne ihnen beschert hatte. Gewöhnlich erweiterten sie lediglich das Eindringverfahren, dessen sich bisher die Forscher, Händler und Missionare bedient hatten, sodass sie auch politische Herrschaft erringen konnten, und zwar, indem sie sich in lokale Konflikte einmischten. In IndienIndien gelang es etwa hunderttausend Engländern, einen ganzen Subkontinent, bevölkert von Abermillionen Menschen, unter ihre Kontrolle zu bringen. Zu diesem Zweck kombinierten die britischen Raj politische Kontaktpflege zu lokalen Prinzen oder Eliten mit dem gelegentlichen Einsatz militärischer Gewalt gegen ihre Feinde. In Deutsch-OstafrikaDeutsch-Ostafrika unterwarfen sich wenige tausend Soldaten und Administratoren erfolgreich ein beträchtliches, von mehreren Millionen Stammesleuten bewohntes Areal, indem sie Allianzen mit Angehörigen zuvor besiegter Stämme eingingen. Gab es hier und da Rückschläge, sandte die Metropole zusätzliche Ressourcen oder Soldaten, um den Druck zu verstärken. Einmal an der Macht, setzten die Europäer darauf, als übergeordnete Organisation Frieden zwischen den Stämmen zu stiften; mit ökonomischen Anreizen und symbolischen Belohnungen wollte man die Kolonisierten daran gewöhnen, dass Fremde sie beherrschten.1

      Eine andere Methode war der rücksichtslose Einsatz von Militär, der sich zu jener exzessiven Gewalt der Kolonialkriege steigerte, in der Technik und Organisation strategische Unzulänglichkeiten kompensieren mussten. So schlugen am 2. September 1898 in der Schlacht bei OmdurmanOmdurman 8000 reguläre britische Soldaten, unterstützt von 17 000 lokalen Hilfskräften, fast 50 000 Derwische in die Flucht, um Englands Kontrolle über den Oberlauf des Nils wiederherzustellen. Während dem General der Eroberer, Sir Herbert KitchenerKitchener, Herbert, leistungsstarke Waffen zur Verfügung standen – Artillerie, Maschinengewehre und Kanonenboote –, waren Kalif AbdullahsKalif Abdullah numerisch überlegene Truppen nur mit Speeren, Säbeln und Vorderladerflinten ausgerüstet. Infolgedessen wurden rund 10 000 seiner Leute getötet, 13 000 verwundet und anschließend ermordet sowie 5000 gefangen genommen. Dagegen erlitten die Briten bescheidene Verluste: 47 fielen, 382 wurden verwundet. Dank der europäischen Überlegenheit war jener Kampf »keine Schlacht, sondern eine Exekution«. So berichtete der junge ChurchillChurchill, Winston über jenen vernichtenden Sieg, der zur sich selbst verstärkenden Legende des Imperiums wurde. Brutalität gegen die Urbevölkerung war daher wesentlich, um mit numerisch begrenzten Kräften eine hohe Überzahl von Einheimischen in Schach zu halten.2

      Eine weitere Strategie bestand darin, dem Handel neue Gewinnmöglichkeiten über die lokale Ebene hinaus zu eröffnen. Man errichtete eine neue Infrastruktur, um die kolonialen Ressourcen besser ausbeuten zu können. Damit Dampfschiffe anlegen konnten, wurden Häfen gebaggert wie San JuanSan Juan in Puerto RicoPuerto Rico; Kais, Kräne


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