Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


Скачать книгу
wie Amerika im Kalten Krieg Diktaturen in der »Dritten Welt« unterstützte, geißeln viele postkoloniale Wissenschaftler nach wie vor die schändlichen Konsequenzen des imperialistischen Rassismus und der Unterdrückung durch die Weißen.3

      Die Intensität und Langlebigkeit der normativen Debatte um den Imperialismus unterstreichen, wie zentral die Imperiumsidee für die moderne europäische Geschichte ist. Jahrhundertelang beherrschte das Streben nach ressourcenreichen Besitztümern in Übersee das Handeln der westlichen Staaten; mit ähnlichen Motiven suchten die östlichen Monarchien benachbarte Territorien zu erwerben. Viele der Rohstoffe, die Europas Industrien verbrauchten, kamen aus den Kolonien, während ihre Fertigprodukte in die vom Mutterland kontrollierten Kolonialmärkte exportiert wurden. Viele Europäer zeigten ein Bewusstsein der Überlegenheit über die sogenannten »Eingeborenen«, während wertvolle Objekte aus der imperialen Kultur die Salons der europäischen Elite zierten. Aufgrund dieser ungleichen Interaktion war das Phänomen Imperium in den Metropolenländern allgegenwärtig. Parallel dazu lernten die Nichteuropäer die Weißen zuerst in deren Eigenschaft als imperiale Ausbeuter, Händler, Missionare, Beamte oder Offiziere kennen. Welche Auffassung sie von den Europäern hatten und was sie ihnen gegenüber empfanden, war daher zutiefst durch ihre Erfahrungen mit imperialer Dominanz und ökonomischer Ausbeutung geprägt.4 An der Wende zum 20. Jahrhundert bestimmte der Imperialismus nicht nur Europas Herrschaft über die Welt, sondern auch die Reaktion der Welt auf Europa.

      Modernisierung war gleichermaßen Ursache wie Ergebnis des imperialen Projekts und eng mit ihm verbunden, wobei sich deutlich die Ambivalenz ihrer Dynamik zeigte. Einerseits beruhte die militärische Überlegenheit der Europäer über die einheimischen Völker auf dem technologischen Vorsprung in Waffen und Organisation, den ihnen die Moderne ermöglichte. Die Rastlosigkeit, neue Gebiete zu erforschen; die Gier, die Risikobereitschaft stimulierte; der Individualismus, der zur Auswanderung ermutigte; der Rechtsstaat, der Vertragstreue erzwingbar machte – all dies war zutiefst modern. Andererseits prägte die imperiale Unterdrückung die kolonisierten Gesellschaften; dabei verbreitete sich eine ausbeuterische Form der Modernisierung durch Gewalt oder Überzeugung auf dem ganzen Globus. Indem sie Plantagen, Handelshäuser, Regierungsapparate und Militärkasernen schufen, aber eben auch Schulen, Kliniken und Kirchen bauten, zerstörten die Imperialisten traditionelle Lebensmuster. Während die imperiale Inbesitznahme die Arroganzgefühle der Europäer und ihr Fortschrittsvertrauen verstärkte, zwang sie den Kolonisierten eine seltsame Mischung aus Unterdrückung und Verbesserung auf. Es ist daher von essentieller Wichtigkeit, die zutiefst problematische Verbindung zwischen Imperium und Moderne zu erkennen.5

      Ursachen der Expansion

      Europas Expansion nach Übersee hatte im 15. Jahrhundert mit wagemutigen Forschungsreisenden wie Vasco da GamaGama, Vasco da begonnen. Portugiesische und spanische Seefahrer machten den Anfang, später kamen niederländische, britische und französische hinzu. Diese erste Welle des Kolonialismus beschränkte sich im Großen und Ganzen auf Küstengebiete und war kommerziell motiviert; private Firmen mit besonderen Konzessionen wie die Niederländische Ostindien-Kompanie trieben sie voran. Hauptsächlich ging es um Edelmetalle wie etwa Silber, die in Europa knapp wurden, oder um Gewürze, Tee und Kaffee, die in der Heimat nicht wuchsen. Ein großer Teil handelte mit unfreiwilliger Arbeit; Menschen wurden zu Sklaven gemacht, weil man billige Kräfte für die Bodenbewirtschaftung in Plantagen auf den karibischen Inseln und dem amerikanischen Kontinent brauchte. In den gastlicheren Regionen Nordamerikas und AustraliensAustralien, deren Klima gemäßigt war und in denen es keine Seuchen wie Malaria gab, entwickelten sich auch Siedlerkolonien, die religiöse Dissidenten, landhungrige Bauern und kriminelle Outlaws anzogen.1 Dieser frühe Kolonialismus errichtete riesige transozeanische Imperien; aber als etwa im ersten Drittel der 19. Jahrhunderts der Freihandel aufkam und mit Sklaven keine Geschäfte mehr gemacht werden durften, war seine Energie weitgehend verbraucht.

      Seit den 1870ern entwickelte sich ein neuer Imperialismus, getragen von der Dynamik der europäischen Modernisierung. Er baute zwar auf früheren Trends auf, doch intensivierte er das territoriale Vordringen und den Herrschaftsanspruch. Der Terminus »Imperialismus« war ursprünglich geprägt worden, um die abenteuerliche Politik Napoleons III. Napoleon III.zu kritisieren, dessen Großmachtgebaren sich im Bau des SuezkanalsSuezkanal äußerte. Kaum war aber der verkürzte Seeweg nach IndienIndien eine »Lebensader des britischen Weltreichs« geworden, bekam das Wort einen positiveren Klang. Während des nun einsetzenden »Wettlaufs um Afrika« teilten die europäischen Mächte den Kontinent untereinander auf; den Verlauf der Grenzen legten sie in der BerlinerBerlin Kongo-Konferenz 1884/85 fest. Der neue Imperialismus, der sich dabei formierte, sollte sich vom Kolonialismus älteren Musters unterscheiden. Zwar trieben auch ihn Wissenschaftler, Missionare und Handelsleute als Pioniere voran, doch wurde er sehr rasch von Regierungen für ihre Zwecke übernommen. Entsprechend erhoben sie Ansprüche auf ganze Territorien, statt sich wie zuvor mit den Küstenlinien zu begnügen, weshalb sie weit ins Landesinnere vorstießen und militärische Sicherheits- und bürokratische Herrschaftsapparate errichteten. Diese eher invasive Form der Machtausübung erlaubte es Plantagenbesitzern, Bergbauunternehmen, Finanzinvestoren und Schifffahrtsgesellschaften, ihren Profit künftig im Rahmen der europäischen Hegemonie zu erwerben.2

      In den 1920ern versucht der amerikanische Politologe Parker T. MoonMoon, Parker T. das Wesen dieses »neuen Imperialismus« näher zu bestimmen, indem er dessen politische Aspekte hervorhebt. Er definiert ihn als »Ausdehnung der politischen oder ökonomischen Kontrollmacht eines Staates auf einen anderen, in Kultur oder Rasse vom ersteren verschiedenen, mit Hilfe eines Ideenkorpus, der diesen Schritt rechtfertigen soll«. Jene klassische Definition hält also nicht die ökonomische Ausbeutung für den Hauptfaktor, sondern betont, dass zum neuen Imperialismus eine direkte oder indirekte Form von Herrschaft, kulturelle und rassische Unterschiede sowie eine die Expansion propagandistisch stützende Rhetorik gehörten. Eine jüngere Definition malt ein komplexeres Bild: »Charakteristische Merkmale eines Imperiums waren enorme Größe, ethnische Diversität, das Bestehen aus vielen Einzelterritorien als Ergebnis in der Vergangenheit erfolgter Abtretungen oder Eroberungen, besondere Formen übernationaler Macht, veränderliche Grenzen, ein Fluktuieren der Landeshoheit in den Randgebieten und schließlich ein Geflecht aus interaktiven Beziehungen zwischen den imperialen Zentren und den Peripherien«. Diese Beschreibung hat den Vorteil, dass sie nicht nur die maritimen Imperien wie das Großbritanniens umfasst, sondern auch die landgestützten autoritären Imperien Russlands, des Osmanischen Reichs und Österreich-Ungarns.3

      Dass Europa seine Expansion nach Übersee und seine Praxis der territorialen Eroberungen wieder aufgriff, wurde durch mehrere komplementäre Aspekte der Moderne beschleunigt. Ein oft übersehenes Motiv war wissenschaftliche Neugier. Man wollte die Geografie unbekannter Regionen erkunden – denken wir an David LivingstonesLivingstone, David Versuche, die Quellen des Nils zu entdecken – und die dort vorhandenen Ressourcen kartografieren, um sie dann ausbeuten zu können. Ingenieure reizte die Herausforderung, in schwierigem Gelände Häfen, Brücken, Bahngleise, Telegrafenleitungen und Kanäle zu errichten, kurz: die widerspenstige Natur zu zähmen. Den Europäern sollte so ermöglicht werden, ihre neuerworbenen Gebiete auch zu durchdringen und von ihnen zu profitieren.4 Ferner entwickelte sich eine neue wissenschaftliche Disziplin, die Ethnologie. Anhand repräsentativer Objekte und Subjekte studierte man fremde Kulturen, die man für »primitiver« hielt als die eigene; man beschrieb ihre seltsamen Gebräuche und sammelte ihre religiösen und weltlichen Artefakte. Diese Anthropologen brachten Produkte und manchmal sogar Menschen aus exotischen Ländern mit nach Hause und zeigten sie in eigens dafür etablierten neuen Museen. Die europäischen Besucher konnten sie und ihre seltsamen Gebräuche dort bestaunen – und sich ihnen überlegen fühlen.5

      Ökonomische Interessen spielten zweifellos auch eine wichtige Rolle. Sie trieben Abenteurer in fremde Länder, wo sie ein Vermögen zu machen hofften. Als die Massenproduktion aufkam, suchten Branchen wie die Textilindustrie neue Märkte außerhalb Europas, denn die kargen Löhne, die man den Arbeitern daheim zahlte, hielten den Konsum niedrig. Neue technologische Entwicklungen wie die Elektrizität und das Automobil erforderten außerdem Rohstoffe, die man auf dem Alten Kontinent nicht bekam, etwa Kupfer für Kabel oder Kautschuk für Fahrzeugreifen. Außerdem vermehrte die Verbreitung des Wohlstands das verfügbare Kapital der Spekulanten, die fest entschlossen waren, dort zu investieren,


Скачать книгу