Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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der Bequemlichkeit und Selbstgefälligkeit, die Jahrzehnte des Friedens in ihnen herangezüchtet hatten, dass den politischen Führungsfiguren letztlich der Wille zum Kompromiss fehlte.

      Eine erschreckend destruktive Seite der Moderne wurde offenbar: Statt den Fortschritt der Zivilisation weiterzutreiben, setzten die Entscheidungen von Juli 1914 die Dämonen des Krieges frei. Die nationalistische Ausrichtung der Führungsleute verkehrte wohltätige Entwicklungen in ihr genaues Gegenteil. Technische Innovationen lieferten noch tödlichere Waffen fürs Schlachtfeld; ökonomische Entwicklungen erzeugten noch mehr Ressourcen für die Kämpfe; die soziale Mobilität drängte den Individualismus zurück und presste den Einzelnen unters Joch der Massenmobilisierung; und die gewachsenen Möglichkeiten politischer Teilhabe förderten feindselige Propaganda und deren begierige Rezeption. Nur die eigensüchtige Hoffnung im Blick, sich neue Besitztümer auf dem Kontinent aneignen zu können, wollten die Nationalstaaten Europas einander mit Hilfe ihrer kolonialen Besitztümer bezwingen. Eine effiziente Bürokratie brachte die für den Waffengang notwendigen Ressourcen auf den Weg, und ein modernes Militär arbeitete Mobilisierungspläne und Strategiekonzepte aus, die einen leichten Sieg versprachen.6 Zurückhaltungsgebote verhallten, weil kein übergreifendes System existierte, das sie hätte durchsetzen können. Folglich versank Europa in einen gegenseitigen Vernichtungskrieg, der beinahe den ganzen Kontinent zerstört hätte.

      Ein totaler Krieg

      Grabenkrieg, 1916

      Für die meisten Soldaten war das Kämpfen im Ersten Weltkrieg alles andere als heroisch. Am 29. Oktober 1914 bewunderte Sergeant I. F. BellBell, I. F. von den Gordon Highlanders gerade seine »fast perfekte Schanzarbeit« im Gelände nahe der belgischen Stadt YpernYpern, »da war es, als bräche die Hölle mit ihrer ganzen Macht los«. Plötzlich dröhnten die großen Kanonen und ließen die Erde erzittern, die Ohren klingen und die Augen tränen. Dann sprangen »von überallher Deutsche und attackierten uns«, warfen Handgranaten, duckten sich in Krater, schnitten sich durch Stacheldraht, wanderten auf Zehenspitzen über Minenfelder, ohne sich um sterbende Kameraden zu kümmern. Die erschrockenen Verteidiger krochen hinter Sandsäcke, konterten mit Feuer aus Repetier- und Maschinengewehren, bis die Läufe glühten, aber sahen sich doch zum Rückzug gezwungen. Einem tausendfach vollzogenen Ritual folgend, versammelte ein britischer Offizier seine Soldaten um sich und befahl ihnen, die »Stellung zurückzuholen« – mit Bajonetten im Kampf Mann gegen Mann. Dann spürte Bell einen »dumpfen Schlag«, stürzte kopfüber in das ausgehobene Loch und »stellte fest«, dass sein »rechter Fuß fehlte«. Die Toten lagen in drei Schichten übereinandergehäuft, aber der Geländegewinn war minimal. Schließlich herrschte wieder Stille, und die Leichen verwesten im Schmutz, weshalb sich ein ekelerregender Gestank erhob. Die »krasse Abscheulichkeit« der Szene war unbeschreiblich.1

      Zeitgenossen nannten diesen Konflikt anfangs den »Großen Krieg«, weil er hundert Jahre relativen Friedens beendete und mehr Länder und mehr Menschenmaterial verschlang als die Kriege davor, die durch den Wunsch nach nationaler Einheit motiviert gewesen waren. Es ging zwar hauptsächlich um die Hegemonie in Europa, trotzdem sprach man bald immer häufiger von einem »Weltkrieg«. Schließlich dehnte er sich nach Übersee aus, denn ein Streitpunkt waren auch die Kolonien, und die beteiligten Mächte hatten globale Ambitionen. Millionen toter oder verwundeter Väter, Brüder und Söhne waren zu beklagen, viele Leichen wurden sogar nie gefunden. Die meisten Orte, auch kleine Dörfer, errichteten in ihrer Mitte ein Denkmal für die im Kampfe Gefallenen, eine Stätte patriotischen Gedenkens. Auf dem ganzen Kontinent erinnern noch heute Soldatenfriedhöfe mit ihren endlosen Reihen kleiner weißer Kreuze an den enormen Blutzoll einer männlichen Generation, säuberlich nach Nationalitäten getrennt. An den Schauplätzen berühmter Schlachten, etwa bei VerdunVerdun, entstanden Memorialbauten, an denen sich Veteranen regelmäßig jedes Jahr in feierlicher Runde zum Gedächtnis an ihre toten Kameraden versammelten. Letzteren wurde bescheinigt, dass sie nicht umsonst gestorben seien, indem man sich demonstrativ weiterhin zur nationalen Sache bekannte. Nur eine Minderheit kritischer Intellektueller wie die britische Feministin Vera BrittainBrittain, Vera wagte es, die Berechtigung von Kriegen in Frage zu stellen und auf Versöhnung zu drängen.2

      Das Konzept des »totalen Krieges«, dem General Erich LudendorffLudendorff, Erich 1935 durch sein gleichnamiges Buch zu breiter Bekanntheit verhalf, forderte eine umfangreichere Mobilisierung und eine brutalere Kampfesweise als bislang üblich. »Das Wesen des totalen Krieges«, so LudendorffLudendorff, Erich, »beansprucht buchstäblich die gesamte Kraft eines Volkes.« Zwar waren frühere Konflikte wie der Dreißigjährige Krieg auch schon recht blutig gewesen, aber der Erste Weltkrieg schockierte viele Teilnehmer besonders, weil er alle bisherigen internationalen Bemühungen zunichtemachte, die bewaffneten Auseinandersetzungen auf die Soldaten zu beschränken. Obwohl die Schäden durch Flugzeugbombardements diesmal noch gering blieben, ebneten deutsche Vergeltungsmaßnahmen gegen Partisanen die Unterscheidung zwischen Soldaten und Zivilisten ein. Infolge der von den Alliierten verhängten Seeblockade mussten Frauen, Kinder sowie alte Menschen hungern und wurden anfälliger für Krankheiten. Außerdem erforderte der enorme Personalbedarf der Massenarmeen eine umfassendere Einberufung junger Männer. Wegen des Mangels an Arbeitskräften wurden zunehmend Frauen eingesetzt, und damit genügend Kriegsmaterial bereitstand, musste sich die gesamte Wirtschaft einer Transformation unterziehen, sodass sie dem Militärischen oberste Priorität einräumte. Da die Gefechte immer härter ausgetragen wurden, drängten die Generäle des Weiteren auf die Entwicklung von Waffen mit noch mehr Tötungspotenz. Derweil proklamierten die Politiker großspurige Kriegsziele, die sie nur im Falle eines vollständigen Sieges erreichen konnten.3

      Dieser erste wirklich moderne Krieg unterschied sich fundamental von den gewaltigen napoleonischen Schlachten, denn die Industrialisierung des Schlachtfelds schien die Macht, die ein Staat sich leisten konnte, zu vervielfältigen. Der technische Fortschritt kreierte noch effizientere Tötungsinstrumente wie etwa das Maschinengewehr; dank Fließbandproduktion konnten die Fabriken noch mehr Munition liefern, darunter Artilleriegranaten; die Wehrpflicht ermöglichte es, die Truppenstärke erheblich zu steigern; und der Gebrauch bestimmter neuer Waffen, etwa der Giftgase, verletzte international akzeptierte Normen. Die Mechanisierung des Gefechtswesens forderte so viele Opfer, dass im Frühjahr 1915 die farbenprächtigen Uniformen abgeschafft wurden, da sie dem Feind das Zielen doch gar zu sehr erleichterten. Gleichzeitig mobilisierten Journalisten und Intellektuelle die Heimatfront durch Propaganda, während Behörden zur Überwachung der Kriegsproduktion sich bemühten, knappe Ressourcen wie Stahl und Nahrungsmittel in hinreichender Menge zu sichern. Betriebsdirektoren überredeten Frauen, in den Fabriken zu arbeiten, was die Geschlechterrollen aufweichte. Die Generäle wiederum passten ihre Strategie den Erfordernissen der Massenschlachten an und setzten statt auf Angriff mehr auf Zermürbung. Die politischen Führer schließlich taten ihr Bestes, um jenen emotionalisierten Konflikt aufrechtzuerhalten, denn beenden konnten sie ihn nicht. Im Unterschied zu den Kolonialkriegen, bei denen die Siegeschancen von vornherein auf einer Seite lagen, war der Erste Weltkrieg, wie der Bürgerkrieg in den USAUSA, ein Kampf zwischen Gleichen, weshalb er eine unglaublich hohe Zahl von Opfern forderte.4

      Mögen die Computerspiele unserer Tage in ihrer Vereinfachung auch den Schluss nahelegen, das Geschehen spiele sich nur an der Front ab – dieser erste moderne Krieg wurde nicht allein auf dem Schlachtfeld entschieden, sondern auch in den Herzen und im Denken der Bürger. Schon ein Jahrhundert zuvor hatte der preußische Militärtheoretiker Carl von ClausewitzClausewitz, Carl von geschrieben, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Natürlich blieb die Frage, ob eine militärische Strategie erfolgreich war oder nicht, von zentraler Wichtigkeit für den Ausgang dieses Konflikts. Doch je näher er dem totalen Krieg kam, desto mehr wurde er zum Wettbewerb um Alliierte, denn die Entente und die Mittelmächte suchten gleichermaßen ihre Position zu verbessern, indem sie andere starke Länder in den Konflikt hineinzogen. Der Krieg stellte außerdem die Wirtschaft der beteiligten Staaten auf eine schwere Probe: Wer ihn gewinnen wollte, musste zur nachhaltigen Waffenproduktion in der Lage sein, gerade weil der Kampf länger dauerte als erwartet. Und noch in anderer Hinsicht war der Erste Weltkrieg eine Prüfung, nämlich für den politischen Willen der streitenden Nationen, die Kämpfe trotz aller Schrecken fortzusetzen, im Angesicht grauenvoller


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