Zeit des Zweifels. Hannelore Veit

Zeit des Zweifels - Hannelore Veit


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Sendungen von CNN in den USA übernommen, ein rein für amerikanische Zuseher ausgelegtes Programm. Es gibt aber an diesem Dreikönigstag nur eine News-Story: Eine immer aggressiver werdende Menge bewegt sich auf der Mall in Washington auf das Kapitol zu. Dieser 6. Januar wird als einer der dunkelsten Tage der amerikanischen Demokratie in die Geschichte eingehen.

      CNN hat in den letzten Jahren ganz klar Position als Anti-Trump-Sender bezogen und ist auch diesmal erwartungsgemäß auf Anti-Trump-Kurs. Donald Trump ist schnell als der Anstifter des Mobs ausgemacht. Doch CNN ist diesmal kein Vorwurf zu machen, die ganze Welt kann live mitverfolgen, was da passiert.

      Der Noch-Präsident – in zwei Wochen wird seine Amtszeit ablaufen – hat zum Sturm auf das Kapitol aufgefordert. In einer Rede vor dem Weißen Haus hat er die Stimmung aufgeheizt. „Stop the Steal”, „stoppt den Diebstahl“. „Wir haben die Wahl gewonnen, wir haben sie mit einem Erdrutschsieg gewonnen. Wir ziehen zum Kapitol, ich bin dabei … Wenn wir nicht kämpfen wie der Teufel, haben wir bald kein Land mehr“, ruft er seinen Anhängern zu. Trump weiß genau, wie er die Menge mitreißen kann, in seinen Wahlkampfauftritten in den letzten fünf Jahren hat er das perfektioniert. Die meisten seiner Anhänger glauben tatsächlich, die Wahl sei von den Demokraten gestohlen worden. Ich bin überzeugt, dass stimmt, was enge Mitarbeiter Trumps behaupten: Donald Trump selbst glaubt, er habe die Wahl gewonnen. Er hat den Boden für diese Lüge schon lange vor der Wahl bereitet: Er könne die Wahl nur durch Wahlbetrug verlieren, hatte er im Sommer verkündet. Krankhafte Lügner, das weiß die Psychologie, glauben oft selbst an ihre Lügengebäude.

      Rädelsführer in der Menge greifen Trumps Ruf auf, haben offenbar nur darauf gewartet. „Nehmen wir das Kapitol ein“, ruft einer, immer wieder wird der Satz von anderen wiederholt. „Wir marschieren zum Kapitol, das ist die Richtung“, ein Mann mit roter Trump-Kappe formt die Hände zum Megaphon und deutet in Richtung Kapitol. Dort ist ein demokratischer Prozess im Gange, den sie verhindern wollen: Der Kongress ist an diesem Tag zusammengekommen, um das Ergebnis der Präsidentenwahl vom 3. November zu bestätigen.

      Auf den etwas mehr als zwei Kilometern hinauf zum Kapitol steht den Trump-Fanatikern nichts im Weg. Fahnenschwingend ziehen sie die Mall entlang, mit Stars-and-Stripes-Flaggen, blauen „Keep America Great“-Fahnen, und dazwischen immer wieder die Konföderiertenflagge. Es ist die Flagge der im Bürgerkrieg unterlegenen Südstaaten, jene Flagge, die White Supremacists – Rechtsextreme, die an die Vorherrschaft der Weißen glauben – so gerne hissen. Die paar Absperrungen, die das Kapitol umgeben, sind schnell überrannt. Viel zu wenige Sicherheitskräfte schützen das Gebäude, den Sitz des Kongresses, dieses Wahrzeichen der amerikanischen Demokratie. Die Kapitol-Polizei ist hoffnungslos überfordert. Sie fordert, wie wir aus späteren Berichten wissen, Unterstützung an, die aber nicht, oder viel zu spät, kommt. Die Meute stürmt ins Kapitol.

      Was sich abgespielt hat, das belegen 15.000 Stunden Videos, aufgezeichnet von Fernsehkameras, von Sicherheitskameras, von Facebook-Livestreams und von den Tätern selbst. Mit Baseball- und Lacrosseschlägern gehen Trump-Anhänger auf Sicherheitskräfte los, Feuerlöscher werden als Waffen benutzt, sogar ein Skateboard dient als Waffe. Fenster werden eingeschlagen, Türen eingetreten.

      Der Präsident schweigt. Warum ruft er seine Anhänger nicht zurück, fragen sich die Kommentatoren der Fernsehsender, frage auch ich mich, die ich diese unvorstellbaren Szenen von Österreich aus mitverfolge. Mehr als drei Stunden dauert es, bis Donald Trump die Meute auffordert, keine Gewalt anzuwenden. Trump ist in seiner ersten Reaktion immer noch aufseiten seiner Anhänger: „Ich weiß, es schmerzt“, meldet er sich zu Wort, „es tut euch weh. Die Wahl ist uns gestohlen worden … Aber geht jetzt nach Hause.“

      Die Meute ist längst im Kapitol, hat Büros von Kongressabgeordneten besetzt. Abgeordnete des Repräsentantenhauses und Senatoren fliehen oder verschanzen sich in Büros. Grinsend lümmelt ein weißhaariger Mann im blauen Holzfällerhemd auf dem Sessel im Büro der Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, ein Bein auf ihrem Schreibtisch, einen 970.000-Volt-Elektroschocker an seiner Hüfte. Das Foto von Richard Barnett ist um die Welt gegangen. Genauso wie das des „Schamanen“ im Sitzungssaal des Senats: Mit Kriegsbemalung, nacktem Oberkörper, Büffelhörnern und Kojotenschweif steht er da.

       Ignorierte Warnungen

      Der Schamane, mit bürgerlichem Namen Jake Angeli, ist kein Unbekannter. Als Anhänger der rechtsextremen Verschwörungstheoretikergruppe Q-Anon ist er schon Monate zuvor bei rechtsnationalen Protesten zu beobachten gewesen. Mein Kollege David Kriegleder traf ihn im Sommer 2020 in Phoenix in Arizona am Rande eines genau solchen Protestes, gekleidet war Angeli auch damals im Schamanen-Outfit. Bereitwillig ließ er sich interviewen – und gab krause Theorien von sich: „Q-Anon ist eine weltweite Bewegung“, fantasierte er, „gerichtet gegen die Verschwörer, die überall ihre unterirdischen Stützpunkte haben, um Menschen zu klonen und damit die Weltherrschaft an sich zu reißen. Trump ist der Good Cop, der mehr Hintergrundwissen hat als andere Präsidenten vor ihm, er ist der Whistleblower, der die Welt aufklärt über Dinge, die wir alle nicht wahrnehmen.“ Donald Trump als der Befreier, der die Welt vor der Machtergreifung durch den „Deep State“, den Staat im Staat, schützt. Unwissenheit paart sich hier mit Dummheit. Verschwörungstheorien dieser Art sind en vogue geworden.

      Der Mob war eine Mischung von Q-Anon-Anhängern, rechtsextremen Gruppen wie den Proud Boys, bewaffneten Anti-Regierungsmilizen wie den Oath Keepers und überzeugten Trump-Anhängern, die sich vom Sog der Ereignisse mitreißen ließen. Die Nation war geschockt, und doch: Ganz so unvorhersehbar war der Sturm auf das Kapitol nicht. Das bestätigt fünf Monate später ein – ausnahmsweise von beiden Parteien, Demokraten und Republikanern, verabschiedeter – Senatsbericht: Die Geheimdienste hatten schon Wochen zuvor gewarnt, dass ein bewaffneter Sturm auf das Kapitol in Vorbereitung sei. Enorme Fehler passierten. Kritische Informationen über die Bedrohung wurden nicht weitergegeben, weder die Bundespolizei FBI noch das Heimatschutzministerium hatten gewarnt, obwohl es im Internet Aufrufe zur Gewalt gab. Gut möglich, dass einige dieser Fehler nicht ganz unabsichtlich passierten, dass die Kapitolstürmer Sympathisanten in staatlichen Institutionen hatten.

      Für Donald Trump selbst hatte der Sturm auf das Kapitol unmittelbare Folgen: Er musste sich noch einmal einem Amtsenthebungsverfahren stellen, als erster Präsident in der Geschichte der USA wurde er zwei Mal impeached. Wegen des Vorwurfs der Anstiftung zum Aufruhr leitete das Repräsentantenhaus dieses zweite Verfahren ein. Über die Bühne ging es, als Trump längst nicht mehr Präsident war, durchgezogen wurde es von den Demokraten mit dem Hintergedanken, Donald Trump die Möglichkeit zu nehmen, noch einmal zur Präsidentenwahl anzutreten. Die Entscheidung über ein Impeachment fällt aber nicht im Repräsentantenhaus, sie fällt im Senat. Einige wenige republikanische Senatoren stimmten im Februar 2021 mit den Demokraten, doch die notwendige Zweidrittelmehrheit kam nicht zustande. Der 45. Präsident der Vereinigten Staaten wurde zum zweiten Mal in einem Impeachment-Verfahren freigesprochen.

      In der Stadt Washington hinterließ der Sturm auf das Kapitol Spuren. Im März 2021 flog ich noch einmal nach Washington, um mir selbst ein Bild zu machen: Das Weiße Haus verbarrikadiert zu sehen, das war ich nach dem Tumultsommer 2020 gewöhnt, jetzt war auch das Kapitol verbarrikadiert. Betonblöcke und Zäune schirmten es ab, immer noch, mehr als zwei Monate später, waren Straßen gesperrt, nahe ans Kapitol heranzukommen war unmöglich. Unübersehbar, dass sich dieses Land verändert hatte. Unübersehbar, dass hier ein Angriff auf die Wahrzeichen der Demokratie, auf die Demokratie selbst stattgefunden hatte.

       Das weiße Gesicht des Terrors

      Unübersehbar ist auch, dass der rechtsextreme Terror zu neuer Stärke angewachsen ist. Inlandsterrorismus, domestic terrorism, ist die neue große Gefahr, so auch der Justizminister der Biden-Regierung, Merrick Garland, bei seiner Anhörung im Senat. Während nach den Anschlägen des 11. September 2001 vor allem islamistischer Terror im Blickpunkt der Öffentlichkeit stand, entwickelte sich schleichend, anfangs fast unbemerkt, die rechte Terrorszene. In den letzten 20 Jahren gingen dreimal so viele Angriffe auf US-Boden auf das Konto von Rechtsextremen wie auf das Konto islamistischer Terroristen. Weiße Nationalisten sind das Gesicht


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