Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann
mein Freund, ein Sturz aus hochgesteigerter Erwartung, als ich beim fortschreitenden Lesen sehenSehen mußte (ἐπειδὴ προϊὼν καὶ ἀναγιγνώσκων ὁρῶ) …“ (Plat.Platon Phaid. 98b; Üb. DIRLMEIER, leicht mod. JH). In dieser LeseszeneLese-szene ist eindeutig individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre vorauszusetzen, die mit dem Ziel verbunden ist, in möglichst kurzer Zeit einen Überblick über mehrere BücherBuch zu bekommen. Dabei wird explizit hervorgehoben, dass das Ziel darin liegt, die Inhalte kritisch zu evaluieren. Die kognitive Verarbeitung bei diesem überfliegendenAufmerksamkeitoberflächlich/flüchtig Lesen zu EvaluationszweckenEvaluation (s. auch Korrektur) wird mit dem Verb ὁράωὁράω angezeigt. Eine weitere Stelle aus dem Werk Platons, an der die kognitive Verarbeitung bei der individuell-direkten Lektüre impliziert ist, findet sich in der Gegenüberstellung des Rechnens durch den Arithmetikers und des Lesens durch den literarisch Gebildeten in Plat. Tht. 198e–199a.33 Exemplarisch für viele ähnliche Leseszenen sei auf Xen.Xenophon Eph.Xenophon von Ephesos 2,5,3 hingewiesen. Hier erhält Habrocomes einen BriefBrief, „nahm ihn, las ihn und wurde betrübt durch das Geschriebene (ὁ δὲ ἔλαβε καὶ ἀνέγνω καὶ πᾶσι μὲν ἤχθετο τοῖς ἐγγεγραμμένοις).“ Vgl. außerdem die Gegenüberstellung von Lesen und Hören als zwei unterschiedliche Kanäle der kognitiven Aneignung von Wissen bei Clem. Al.Clemens von Alexandria paid. 3,78,2, der hervorhebt, dass das Lesen gelehrt wird, das Hören aber nicht gelehrt wird. Aus dem Kontext geht eindeutig hervor, dass die individuell-direkte Lektüre zur Wissensaneignung gemeint ist (s. u. 9.5). Aufschlussreich ist ferner eine Stelle im RomanRoman Joseph und Aseneth, an der mit ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω bezeichnetes Lesen gleichsam im Sinne einer MetapherMetapher zweiten Grades34 verwendet wird: „Levi aber sah die Regung seines Herzens, denn Levi war ein ProphetProphet und sah genau mit seinen Gedanken und seinen AugenAugen und las das im Herzen des Menschen Geschriebene (<ἀν>εγίνωσκε <τὰ γεγραμμέναγράφω> ἐν τῇ καρδίᾳ <τοῦ> ἀνθρώπο<υ>)“ (JosAs 23,8JosAs 23,8; Üb. REINMUTH).
Das durch hinzutretenden Artikel substantivierte PartizipPartizip wird häufig zur Reflexion über bzw. zur direkten Ansprache der LeserLeser verwendet;35 dies ist auch inschriftlichInschriften belegt (v. a., aber nicht nur, in spätantiken, christlichen Inschriften).36 Es ist bemerkenswert, dass selbst Isokrates in seinem BriefBrief an Alexander, eine Einzelperson, gleich zu Beginn die Leser im Plural (ὃ ποιήσει τοὺς ἀναγνόντας μὴ νομίζειν ἤδη με παραφρονεῖν διὰ τὸ γῆρας μηδὲ παντάπασι ληρεῖν …; Isokr.Isokrates ep. 5,1) in den Blick nimmt, was impliziert, dass der Brief (zumindest in der überlieferten Form) zur PublikationPublikation/Veröffentlichung bestimmt war.37 Aufschlussreich ist auch das papyrologisch bezeugte „Edikt über das aurum coronarium“ (P.Fay. 20) von Alexander Severus, in dem am Ende bestimmt wird, dass in jeder Stadt AbschriftenAbschrift zu veröffentlichen seien, und zwar dort, wo sie den Lesern am besten sichtbar seien (… μάλιστα ἔστα̣[ι] | σύνοπτα τοῖς ἀναγινώσκουσ<ιν>. P.Fay. 20 col. 2, Z. 23 = SB 14 11648).38 Analog dazu wird in lateinischen Quellen das Partizip von legere verwendet, um den Leser direkt anzusprechen bzw. über ihn zu reflektieren.39
Seltener, aber dennoch vorkommend, wird das Verb im Griechischen dazu verwendet, Verweise auf andere Schriften oder ZitateZitat anzugeben bzw. eine LesefruchtLese-frucht wiederzugeben (s. u.).40 Dagegen konnten keine eindeutigen Belege gefunden werden, dass das Verb regelmäßig (und jenseits konzeptioneller Übertragungen individuell-direkteLektüreindividuell-direktr LeseakteLese-akt auf indirekte Rezeption) auch direkt die hörende Rezeption eines Textes beschreibt, der vorgelesen wird.41 Diese negative Beobachtung wiegt umso schwerer, als sich in den Quellen eindeutige Formulierungen auch mit anderen Lexemen finden lassen, welche eine solche Rezeptionssituation des VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt-Lassens eindeutig markieren.42
Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass das lateinische Äqivalent cognoscocognosco,43 auch wenn im Lateinischen mit legolego ein anderes HauptleseverbHauptleseverb verwendet wird (s. u. 3.3), ebenfalls sporadisch im Sinne von „lesen“ zu finden ist.44
3.1.2 Ἀναγιγνώσκω mit zusätzlichen Präfixen
Durch Präfigierung kann die Wortsemantik des Verbes spezifiziert werden: διαναγιγνώσκωδιαναγιγνώσκω (durchlesen) wird verwendet, um anzuzeigen, dass ein Text, ein BriefBrief bzw. ein BuchBuch oder Werk vollständigUmfangvollständig gelesen wird.
Vgl. Cass. DioCassius Dio. 58,10,7: καὶ τέλος διαναγνωσθείσης τῆς ἐπιστολῆςἐπιστολή πάντες …; Isokr.Isokrates or. 12,201.241, u. Diog. Laert.Diogenes Laertios 2,5,40 verwenden dieses Wort zur Beschreibung des individuellen und evaluierenden Durchlesens eines Redemanuskripts; Polyb.Polybios 3,32,1f hebt die Länge und Anzahl seines Werkes verteidigend hervor. Es sei leichter, seine 40 BücherBuchdurchzulesen (πόσῳ γὰρ ῥᾷόν ἐστι καὶ κτήσασθαι καὶ διαναγνῶναι βύβλους τετταράκοντα …), in denen Geschichte in einem Stück und komprimiert präsentiert sei, als sich die Informationen aus den verschiedensten Quellen episodischer GeschichtsschreibungGeschichtsschreibung selbständig zusammenzutragen. Bei Polyb. 21,11,3 scheint zudem die Sorgfalt beim Durchlesen hervorgehoben zu sein. Vgl. ferner Polyb. 31,14,1; Ael. var.Aelianus, Claudius hist. 14,43; Athen.Athenaios deipn. 3,60 (102b). Bei Diog. Laert. 3,1,66 hat das Verb eher die Konnotation „einsehen, konsultieren“ von spezifischen HandschriftenHandschrift/Manuskript mit kritischen Randbemerkungen.
Die Vergleichsbasis für ἐξαναγιγνώσκωἐξαναγιγνώσκω (LSJ: read through) ist vergleichsweise gering. Zwei Stellen bei PlutarchPlutarch, an denen keine spezifische Bedeutung eindeutig gesichert werden kann,1 stehen zwei Stellen ebenfalls bei Plutarch und Athenaios gegenüber, an denen es offensichtlich