Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann
Zugriff im Leseprozess als ein Zusammenspiel von phonologischemPhonologie, morphologischem und semantischem Verarbeitungssystem im Gehirn konzeptualisieren.15 Daher wird in der Forschung zu Recht konstatiert, dass die Thesen Saengers zum Zusammengang zwischen WorttrennungenWort-trennungen (s. Schrift) und der Entstehung des nicht-vokalisierendenStimmeinsatznicht-vokalisierend Lesens aus kognitions- und neurowissenschaftlicher Sicht zu relativieren sind.16
„In conclusion, in all graphic systems, both alphabetic and logographic, lexical (visual/orthographic) and non-lexical (phonological) processes interact in word recognition, with the lexical route leading the way. Things are not as clear-cut as Saenger believes.”17
Eine besonders profilierte und innovative Gegenposition nimmt A. Vatri in einem 2012 erschienenen Aufsatz ein, der auf der Grundlage aktueller und schriftsystemvergleichender Blickbewegungsmessungen überzeugend zeigen kann, dass die WorterkennungWort-erkennung altgriechischer scriptio continuaSchriftscriptio continua analog zum ThailändischenSchriftThailändisch durch bestimmte Häufungen von Wortkombinationen funktioniert haben muss und gerade nicht auf die phonologischePhonologie Realisierung angewiesen war. Wegen der besonderen Relevanz für die hier diskutierte Frage, beziehe ich mich im Folgenden ausführlich auf seine Argumentation. Zuvor sind allerdings noch einige grundsätzliche Bemerkungen zu den physiologischen und kognitionspsychologischen Grundlagen des Lesens notwendig.
Die BlickbewegungBlickbewegung (s. auch Auge) des Auges beim Lesen ist nicht kontinuierlich, sondern strukturiert sich aus einer abwechselnden Abfolge von schnellenLese-geschwindigkeit Vorwärtsbewegungen (SakkadenSakkade; Ø ca. 200–250 ms) und Momenten des Anhaltens (FixationenFixation; Ø ca. 20–40ms) an einem bestimmten Punkt, der preferred viewing location (PVL)preferred viewing location (PVL) genannt wird, wobei dieser Prozess durch schnelle Rückwärtsbewegungen (RegressionenRegression; etwa 10–15 % der Sakkaden) unterbrochenLese-pausen/-unterbrechung wird und durchschnittlich etwa 30 % der Wörter überhaupt nicht fixiert werden (skipping).18 Daher kann man den Leseprozess auf der visuellvisuell-kognitivenkognitiv Ebene zwar als unstetig charakterisieren, „diese Unstetigkeiten des Leseprozesses werden zeitlich integriert und bleiben beim Lesen und- bzw. vorbewußt.“19 Die hohe FrequenzFrequenz der Sakkaden hängt u. a. mit den physiologischen Limitationen des Blickfeldes zusammen,20 wobei das Konzept der perceptual spanperceptual span den Bereich beschreibt, aus dem ein LeserLeser/eine Leserin während der Fixation Informationen verarbeiten kann. Die Größe der perceptual span steht insbesondere in einem Zusammenhang mit der Lesekompetenz (so können etwa Leserinnen und Leser mit einer großen perceptual span schneller lesen);21 für geübte Leserinnen und Leser des Englischen gelten 3–4 BuchstabenBuch-stabe links und bis zu 14–15 Buchstaben rechts der Fixation als durchschnittliche Größe für die perceptual span.22 Die PVL liegt üblicherweise links neben der Wortmitte. Die Blickbewegung wird durch Wortgrenzen geleitet, die parafovealparafoveal preview wahrgenommen werden. Parafoveal meint einen Bereich des visuellen Feldes, der bis zu 5° um das Zentrum der visuellen Wahrnehmung (foveale Wahrnehmung durch Lichtreize, die auf die fovea centralis treffen) liegt und von der peripheren Wahrnehmung zu unterscheiden ist.23 Dabei beschreibt der sog. parafoveal preview das Phänomen, dass beim Lesen nicht nur das gerade fixierte Wort wahrgenommen und kognitiv verarbeitet wird, sondern auch Buchstaben und Wörter rechts der Fixation. Die aus der parafovealen Wahrnehmung erhaltenen Informationen steuern die AugenbewegungAugen-bewegung – insbesondere die Fixationspunkte.24 Das bedeutet, beim Lesen wird nicht nur das gerade fixierte Wort wahrgenommen und verarbeitet, sondern auch schon die vorausliegenden Worte. Dabei wird in der Kognitionsforschung allerdings kontrovers diskutiert, wie viele Informationen ein Leser aus der parafovealen Wahrnehmung extrahieren kann und ob WorterkennungWort-erkennung im Leseprozess seriell oder parallel funktioniert.25
Bei modernen „westlichen“ SchriftsystemenSchrift-system geht die gängige Schulmeinung davon aus, dass Leserinnen und LeserLeser die Wortgrenzen anhand der WortzwischenräumeWort-zwischenraum identifizieren: Dies wird daraus geschlossen, dass englische Texte in scriptio continuaSchriftscriptio continua nicht nur langsamer gelesen werden, sondern sich die PVLpreferred viewing location (PVL) auch von der Wortmitte auf den Anfang des Wortes verlagert.26 Interessant ist nun aber die Frage, inwiefern sich dieses Phänomen durch ausgiebiges Lesen von deutschen oder englischen Texten in scriptio continua verändern würde, also ob man das Lesen von scriptio continua üben und zu welchen LesegeschwindigkeitenLese-geschwindigkeit man gelangen kann. Mit diesen Fragen ist das methodische Problem verbunden, dass empirische Vergleichsuntersuchungen von Texten in „westlichen“ Schriftsystemen (also z.B. dem Englischen) a) mit Probanden gearbeitet haben, die nicht geübt waren im Lesen von Texten ohne Wortzwischenräume,27 und b) nur mit Probanden arbeiten können, deren LesesozialisationLese-sozialisation (s. auch Schriftspracherwerb) von einem Schriftsystem mit Wortzwischenräumen bestimmt ist; die Simulation des Lesens dieser Schriftsysteme ohne Wortzwischenräume also notwendigerweise defizitär bleiben muss. Zu solchen Fragen liegenHaltungliegen m. W. keine umfassenden Studien vor.
Allerdings deuten Studien von J. Epelboim u. a. zumindest in die Richtung, dass das Lesen von Texten in scriptio continua möglicherweise „antrainiert“ werden kann. Sie haben schon in den 1990er Jahren die Mehrheitsmeinung hinterfragt und aus ihren experimentellen Daten geschlossen, dass Wortzwischenräume die SakkadenSakkade gerade nicht steuern, sondern dass das Wiedererkennen von Worten die entscheidende Rolle spiele.28 Bezüglich der Frage, wie die WorterkennungWort-erkennung dann aber genau funktioniert, bleiben die Studien jedoch vage. Neuere Studien deuten darauf hin, dass die unbewusste Sensibilität für die FrequenzFrequenz bestimmter Buchstabenkombinationen am Anfang und am Ende von Worten eine entscheidende Funktion bei der Worterkennung habe29 (s. dazu unten mehr), wobei entsprechend der oben skizzierten Modelldiskussion komplexe kognitivekognitiv Prozesse vorauszusetzen sind.
Aufschlussreich sind bezüglich der hier verhandelten Fragen Studien zu SchriftsystemenSchrift-system, die keine WortzwischenräumeWort-zwischenraum aufweisen, die – wie vor allem die Sprachen Südostasiens – erst in der letzten Zeit verstärkt in den Fokus der LeseforschungLese-forschung gerückt worden sind.30 Bei Schriftsystemen ohne Wortzwischenräumen wirkt die Hinzufügung von Wortzwischenräumen redundant und hat keinen positiven Einfluss auf die Effizienz des Leseprozesses. Die Hinzufügung von WorttrennungenWort-trennungen (s. Schrift) bei einem Schriftsystem ohne Wortzwischenräume kann sogar zu einer Unterbrechung des flüssigen Leseprozesses führen.31 Es ist zu vermuten, dass durch die Einfügung von Wortzwischenräumen in einem Schriftsystem, das eigentlich keine Wortzwischenräume kennt, die gewohnte Sakkadenlänge gestört wird. So formuliert Vatri m. E. völlig zu Recht: „The readers’ deep-rooted habits play a major role, and this must also have applied to the ancient readers of scripturascriptura continua.”32
Als Vergleichsbasis für das klassische altgriechische SchriftsystemSchrift-system bezieht sich Vatri auf die ThailändischeSchriftThailändisch Schrift, die, als alphasyllabische Schrift ohne WortzwischenräumeWort-zwischenraum geschriebenSchriftGeschriebenes, den antiken Gegebenheiten viel näherkomme als die von Saenger33 herangezogene westafrikanische VaiSchriftVai-Schrift (eine reine SilbenschriftSilbe). Aufschlussreich ist nun der empirisch anhand von Blickbewegungsuntersuchungen gewonnene Befund der LesepraxisLese-praxis thailändischer Leserinnen und LeserLeser, dass diese sich trotz fehlender Wortzwischenräume im nicht-vokalisierendenStimmeinsatznicht-vokalisierend Lesemodus nicht von der Praxis englischer Leserinnen und Leser unterscheidet. Thailändische Leserinnen und Leser können genauso schnellLese-geschwindigkeit lesen wie englisch-sprachig; die BlickbewegungBlickbewegung (s. auch Auge) ist deckungsgleich; die SakkadenSakkade landen analog zu englisch-sprachigen Leserinnen und Lesern auf den gängigen PVLpreferred viewing location (PVL) (links von der Mitte des Wortzentrums).34 Daraus schlussfolgert Vatri: „[T]here is no reason to assume that reading unspaced text is a particular demanding cognitive task in itself, and Saenger’s model must be rejected.”35
Statt durch die WortzwischenräumeWort-zwischenraum erkennen Leserinnen und LeserLeser der ThailändischenSchriftThailändisch Schrift die einzelnen Wörter wahrscheinlich anhand bestimmter Buchstabenkombinationen am Beginn und am Ende der Worte, wie eine statistische Erhebung der Häufigkeitsverteilung in einem KorpusKorpus von 2.300 Wörtern nahelegt: „10 out of 74 characters occur at 76,4% of word endings and at 54,2 of word beginnings.“36