Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann

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Lektüre und hier unabhängig davon, ob der Text mit der Lesestimme oder der inner reading voiceStimmeinnere (inner reading voice) realisiert wird.

      R. Cribiore schlussfolgert mit Bezug auf die genannten Quellen differenzierter, dass scriptio continuaSchriftscriptio continua besonders für Anfängerinnen und Anfänger des Lesens eine besondere Herausforderung dargestellt hätte.14 Der diskutierte Quellenbefund reicht aber m. E. für eine solche Schlussfolgerung, dass das Lesenlernen in einem SchriftsystemSchrift-system mit scriptio continua schwerer sei als in einem Schriftsystem, das WortzwischenräumeWort-zwischenraum aufweist (hier gelten die methodischen Vorbehalte, die sich aus den Ausführungen unter 4.1 ergeben), insgesamt nicht aus; die Quellen lassen m. E. höchstens die Schlussfolgerung zu, dass Unterschiede zwischen der antiken und modernen Didaktik des SchriftspracherwerbsSchrift-spracherwerb bestehen. Allerdings weisen die in den Quellen durchscheinenden Leselernmethoden (insb. Dion. Hal.Dionysios von Halikarnassos comp. 25 [s. o.]: erst BuchstabenBuch-stabe, dann Silben, dann Wörter) äußerst interessante Analogien zum Prinzip der „Silbenanalytischen Methode“ auf. Dieser Ansatz, der in der modernen Didaktik des Schriftspracherwerbs dezidiert linguistisch fundiert ist, versteht sich als Reaktion auf die Defizite der gängigen analytisch-synthetischen Ansätze, die entsprechend der Phonem-Graphem-Korrespondenz-Regeln den Leselernprozess zu strukturieren versuchen (Methoden, die mit Fibel und Anlauttabellen arbeiten).15 Außerdem korrespondiert er mit den oben schon skizzierten kognitionspsychologischen Einsichten zur Schriftsprachenverarbeitung.

      Als zusätzliche Evidenz verweist er auf PapyriPapyrus aus Schulkontexten, auf denen WorttrennungenWort-trennungen (s. Schrift) oder Trennungen nach Silben zu finden sind.16 Die von Cribiore angeführten Papyrusbeispiele mit Worttrennern oder mit Trennungen von Silben können allerdings auch nicht als Beleg für die These herhalten, dass das Lesen von scriptio continuaSchriftscriptio continua eine größere Herausforderung für Lerner dargestellt hätte als ein hypothetisches altgriechisches SchriftsystemSchrift-system mit scriptio discontinuaSchriftscriptio discontinua. Vielmehr lassen sich die Übungen präzise in das aus den Quellen herausscheinende Curriculum einordnen.17 Zum anderen weist die überwältigende Mehrzahl der Papyri, die Cribiore als Schulmaterial aufführt, Texte in scriptio continua auf.18

      Auch die Aussagekraft der weiteren, angeführten Quellen, die als Evidenz für vermeintliche Schwierigkeiten des Lesens von scriptio continuaSchriftscriptio continua, angeführt werden, hält einer genaueren Überprüfung ebenfalls nicht stand.

      Aristot.Aristoteles rhet. 3,5,6 [1407b12] wurde bereits oben bei der Besprechung des Lexems εὐανάγνωστοςεὐανάγνωστος besprochen (s. o. insb. Anm. 57, 58, S. 120 f): Ob ein Text εὐανάγνωστος (gut lesbarLesbarkeit) ist, steht bei Aristoteles nicht mit dem SchriftsystemSchrift-system in Zusammenhang; ihm geht es hier rein um syntaktische und lexikalische Aspekte. Die Charakterisierung des SklavenSklave des Trimalchio, der ein BuchBuch ab oculoLesenab oculo liest (Petron.Petronius Arbiter, T. sat. 75,4), kann die Beweislast nicht tragen, die ihr damit aufgebürdet wird, dass hier auf einen vermeintlichen Lesesklaven rekurriert werde, der die Kunst des „Vom-Blatt-Lesens“ beherrschte.19 Eine solche Interpretation setzt in zirkulärer Weise voraus, dass Lesen in der Antike kognitivkognitiv besonders herausfordernd gewesen wäre und dass die LiteralitätLiteralität/Illiteralität insgesamt nur schwach ausgeprägt war. Aus der Stelle selbst geht nicht hervor, ob die Lesetechnik, die mit ab oculo angedeutet wird, so herausragend war, wie üblicherweise unterstellt wird. Der satirische Kontext bei PetroniusPetronius Arbiter, T., der „dem LeserLeser die Halbbildung des Trimalchio vor Augen“20 führen möchte, und die anderen Charakterzüge, mit denen Trimalchio seinen Sklaven beschreibt, lassen doch eher Zweifel an dieser Interpretation aufkommen: Dass der SklaveSklave z.B. die recht einfache Rechenoperation beherrscht, durch zehn teilen zu können (decem partes dicit) – aber etwa nicht durch sieben –, spricht gerade nicht für eine besonders hohe kognitive Begabung, die für das Lesen ab oculo als notwendig vorauszusetzen wäre. Es handelt sich also bei der Fähigkeit ab oculo legere um eine Fähigkeit, die im schulischen Elementarunterricht gelehrt wird, wie auch H. Krasser betont.21 Bestätigt wird diese Interpretation durch einen expliziten Verweis auf diese LesefähigkeitLese-fähigkeit (s. auch Literalität) in den Hermeneumata PseudodositheanaHermeneumata Pseudodositheana, anonyme, vermutlich irgendwann in der Kaiserzeit entstandene,22 bilinguale Handreichungen für den Schulunterricht, die neben Glossaren und kurzen Übungstexten sozialgeschichtlichSozialgeschichte in vielerlei Hinsicht aufschlussreiche Schilderungen des Tagesablaufs eines Schülers aus dessen Perspektive enthalten. In einem dieser sog. Colloquia, dem Colloquium Stephania, findet sich die Formulierung: „Dann [lese ich] ἀπὸ τοῦ ὀφθαλμοῦ/ab oculo, schnellLese-geschwindigkeit (ταχέως/citatim), einen unbekannten Text und einen, der wenig gelesen wird“ (Colloqiua Stephania 17d, ed. DICKEY). Aus dem Kontext geht dabei hervor, dass die Schüler dies im UnterrichtUnterricht jeweils individuell (καθ’ ἕνα/per singulos) und mit binnendifferenziertem Schwierigkeitsgrad (καθ’ ἑνὸς ἑκάστου δυνάμεις καὶ προκοπήν/iuxta unius cuiusque vires et profectum) zur gleichen Zeit tun (vgl. Colloqiua Stephania 18a/b, ed. DICKEY). Zusammen mit dem Verweis auf die GeschwindigkeitLese-geschwindigkeit in 17d impliziert dies, dass hier sogar nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierend individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre im Blick ist.

      Ferner adressiertAdressat auch Ptol.Ptolemaeus, Claudius krit. 10,11–16 nicht das Lesen von scriptio continuaSchriftscriptio continua; ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις wird hier vielmehr als phonologischerPhonologie Fachterminus verwendet (s. o. 3.1.4).23 Irenäus diskutiert in haer. 3,7,1f Ambivalenzen in den Paulusbriefen, die durch missliche syntaktische Konstruktionen (v. a. Hyperbata) entstehen und bei der lectiolectio zu theologischTheologie problematischen Verstehensmöglichkeiten führen können, wenn derjenige, der vorliest, nicht aufpasst und nicht genügend Atempausen macht (Si ergo non adtendat aliquis lectioni nec per interualla aspirationis manifestet in quo dicitur …). Dies hat zwar indirekt mit der scriptio continua – präziser: mit fehlender Interpunktion zur Markierung der syntaktischen Struktur – zu tun, sagt aber nichts über höhere kognitivekognitiv Fähigkeiten aus, die vermeintlich notwendig wären, um scriptio continua zu lesen. Die zitierteZitat Stelle deutet vielmehr darauf hin, dass derjenige, der vorliest, die Atempausen nutzen soll, um sich einen Überblick über das Folgende zu verschaffen, um dieses richtig vorzulesen.

      Nirgendwo in den Quellen lässt sich also fassen, dass antike LeserLeser Probleme mit in scriptio continuaSchriftscriptio continua geschriebenen Texten gehabt hätten, wohl lässt sich demgegenüber festhalten, dass zu kleine BuchstabenBuch-stabe ein Ärgernis für die visuellevisuell Wahrnehmung des Textes darstellten.24 Zudem sei darauf verwiesen, dass in der antiken PhilosophiePhilosophie die grundlegenden Unterschieden der Perzeption und kognitivenkognitiv Verarbeitung beim Lesen auf der einen und dem Hören auf der anderen Seite durchaus reflektiert wurden25 – die Aufnahme von Gelesenem ist also im antiken Denken nicht einfach auf auditiveauditiv Verarbeitung reduziert worden. Dies spiegelt auch eine Stelle bei Laktanz wider; und zwar verweist dieser im Kontext seiner Reflexion über das Verhältnis von LernenLernen und Zeit auf die perzeptuellen Vorteile des Lesens gegenüber dem Hören sowie der Begrenztheit des GedächtnissesGedächtnis.

      „Diese allgemeine Bildung ist zu erwerben auf der Basis von LesepraxisLese-praxis (discendae istae communes litterae propter usum legendi); denn bei einer so großen Vielfalt der Gegenstände kann sie weder dadurch erworben werden, dass man alles hört (nec disci audiendo possunt omnia), noch dadurch, dass man es im GedächtnisGedächtnis behält“ (Lact.Lactantius inst. 3,25,9).26

      Die Argumentation von Laktanz würde keinen


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