Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann
continuaSchriftscriptio continua)27 nur bzw. primär auf den auditiven Kanal angewiesen gewesen wäre. Vielmehr lässt Laktanz durchblicken, dass er den auditivenauditiv Kanal für Bildungszwecke nicht zuverlässig genug hält.
Gegen eine besondere kognitivekognitiv Schwierigkeit, die mit dem Lesen von scriptio continuaSchriftscriptio continua in der Antike verbunden gewesen sein sollte, spricht auch die Tatsache, dass es sowohl im griechisch-28 als auch im lateinisch-sprachigen Bereich eine Entwicklung von der scriptio discontinuaSchriftscriptio discontinua zur scriptio continua gab. Aufschlussreich ist vor allem die sehr späte Aufgabe von WorttrennungenWort-trennungen (s. Schrift) im Lateinischen. Darauf aufmerksam gemacht hat schon R. P. Oliver 1951;29 ausführlich ist die lateinische Worttrennung in den 1970er Jahren von E. O. Wingo untersucht worden:
„The practice of word-division was standard in Etruscan and it was probably from this source that it entered into Latin, where it is found in the very earliest inscriptionsInschriften such as the lapis niger [CIL I2.1] and the fibula Praenestina30 [CIL I2.3].31 The word-divider is regularly found on all good inscriptions,32 in papyri,33 on wax tablets, and even in graffiti from the earliest Republican times through the Golden Age and well into the Second Century.”34
Aus den zahlreichen Quellenbeispielen, die Oliver und Wingo aufführen, ist der PapyrusPapyrus PSI 7 743 aus dem 1./2. Jh. besonders hervorzuheben, der einen griechischen Text in lateinischer Transkription mit Worttrennern bietet. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine griechische InschriftInschriften mit Worttrennern in Kom Ombo in Ägypten: SB 5 8905 (88 n. Chr.). Es liegt nahe, eine Projektion der lateinischen Konvention zu vermuten, da die Weihinschrift durch eine Römerin gestiftet worden ist. Als Beispiele für den neuen Stil ohne WorttrennungenWort-trennungen (s. Schrift), der sich ab dem 2./3. Jh. in den Hss.Handschrift/Manuskript findet, führen sie P.Ryl. Gr. 3 473, eine griechisch-lateinische Bilingue (Fragment von den Historiae von SallustSallust), und P. Mich. 7 429 (die Kopie eines grammatischen Traktats) an. Scriptio continua findet sich darüber hinaus auch in den lateinischen Papyri aus Dura Europos. Beispielhaft verwiesen sei auf P.Dura 54, eine kalendarische Liste (225–235 n. Chr.), und P.Dura 60, ein BriefBrief, der auf den Beginn des 3. Jh. datiert wird. Die scriptio continuaSchriftscriptio continua wird in P.Dura 60 allerdings an den Stellen durch einen WortzwischenraumWort-zwischenraum (mit oder ohne Mittelpunkt) unterbrochenLese-pausen/-unterbrechung, an denen Abkürzungen verwendet werden.35 Dieses Phänomen ist auch noch in weiteren Papyri aus Dura Europos erkennbar.36 Es spricht für die These, die Vatri für das klassische Griechisch formuliert hat (s. o.), dass WorterkennungWort-erkennung in der scriptio continua durch signifikante Buchstabenkombinationen (in diesem Fall eben auch im Lateinischen) am Wortbeginn und -ende geleitet wird, was bei der Verwendung von Abkürzungen jedoch nicht möglich ist.
Die Unterschiede in den Konventionen des Schriftsystems vor dem 2. Jh. werden in der frühen Kaiserzeit auch in literarischen Quellen reflektiert. So ist es für SuetonSuetonius Tranquillus, Gaius (Aug.Augustinus von Hippo 87,3) eine Besonderheit, dass Augustus in seinen handschriftlichen Texten die Wörter nicht trennt (non dividit verba).37 Seneca wiederum nimmt Überlegungen zum Stil einer bedächtigen philosophischenPhilosophie RedeRede (weder zu langsamLese-geschwindigkeit noch zu schnell; vgl. auch Sen. ep.Seneca, Lucius Annaeus (d. J.) 40,8.13f) zum Anlass, eine Analogie zum SchreibenSchreiben bei Römern und Griechen zu ziehen:
„Freilich, den Redestrom des Quintus Haterius […] möchte ich einem vernünftigen Menschen als völlig unpassend nicht wünschen: Nie zögerte er, nie hielt er ein; nur einmal hob er an, nur einmal schloß er. Mancherlei paßt, glaube ich, mehr oder weniger zu bestimmten Völkern. Bei Griechen mag man diese Schrankenlosigkeit [licentia] hinnehmen; wir Römer haben uns sogar beim SchreibenSchreiben angewöhnt zu interpungieren. Selbst unser großer CiceroCicero, Marcus Tullius, mit dem die römische Beredsamkeit einen gewaltigen Sprung nach vorn tat, ging schrittweise (gradarius) vor. Die lateinische Sprache ist bedächtiger, wägt ab und stellt sich der Nachprüfung“ (Sen. ep.Seneca, Lucius Annaeus (d. J.) 40,10f; Üb. FINK; modifiziert JH).
Aus der Perspektive des skizzierten materiellenMaterialität Befundes meint Seneca hier die Wortinterpunktion – also Punkte in den Wortzwischenräumen der lateinischen Texte und keine syntaktische oder rhetorische Interpunktion.38 Erst das Verschwinden der Wortinterpunktion im 2. Jh. schuf die Voraussetzung dafür, dass Punkte SinnpausenLese-pausen/-unterbrechung o. ä. bezeichnen konnten oder zur syntaktischen Abgrenzung verwendet wurden.39
Bemerkenswert an Senecas Analogie ist also, dass er das griechische SchriftsystemSchrift-system nicht etwa mit Schwierigkeiten bei der Entzifferung der scriptio continuaSchriftscriptio continua, sondern mit SchnelligkeitLese-geschwindigkeit in Verbindung bringt und die Worttrenner im Lateinischen als Gegenteil von licentia, also als eine Art Zügel betrachtet, in dem sich nicht nur die Bedächtigkeit der RedeRede, sondern der Sprache und damit auch des Lesens von lateinischen Texten widerspiegelt. In jedem Fall ist es geboten, hier die Perspektive Senecas auf die Fremdsprache und deren LeserLeser in Rechnung zu stellen; also womöglich die Tendenz, dass er vorgelesenes Griechisch als rasanter wahrnimmt als vorgelesenes Latein. Angesichts dieser Perspektive in der frühen Kaiserzeit ist die Einführung der scriptio continua umso erstaunlicher.
Daraus folgt also: Wenn das Lesen von scriptio continuaSchriftscriptio continua mit besonderen kognitivenkognitiv Schwierigkeiten verbunden gewesen wäre, widerspräche die recht späte Aufgabe von WorttrennungenWort-trennungen (s. Schrift) im Lateinischen im 2. Jh. auf eklatante Weise dem Ökonomieprinzip, das sich an zahlreichen anderen kulturellen Entwicklungen im römischen Reich zeigt (z.B. in der Landwirtschaft, im Militär usw.).40 Eine Erklärung der Einführung der scriptio continua in das lateinische SchriftsystemSchrift-system sieht P. R. Oliver darin, dass man sich hier an der griechischen BuchkulturBuch-kultur orientiert hat41 – die Übernahme hatte also vorwiegend ästhetischeästhetischer Genuss/Vergnügen und kulturelle Gründe und kann als Phänomen des Zeitgeschmacks verstanden werden.42
Es kommt hinzu, dass bei Augustinus (wie in der Einleitung ausgeführt), das nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierend Lesen von lateinischen Texten in scriptio continuaSchriftscriptio continua explizit belegt ist. Zudem reflektiert Augustinus die kognitionspsychologischen Vorgänge beim Lesen in seiner Schrift de Dialectica.
„Jedes Wort tönt. Wenn es nämlich geschriebenSchriftGeschriebenes steht, ist es nicht ein Wort, sondern das Zeichen eines Wortes (cum enim est in scripto, non verbum sed verbi signum est); denn nachdem die BuchstabenBuch-stabe vom Lesenden angeschaut worden sind, begegnet dem Geist das, was sich im Laut äussern soll (quippe inspectis a legente litteris occurrit animo, quid voce prorumpat). Was zeigen nämlich die geschriebenen Buchstaben anderes als sich selbst den AugenAugen und ausser sich selbst dem Geist die Laute (quid enim aliud litterae scriptae quam se ipsas oculis et praeter se voces animo ostendunt, et paulo ante diximus signum esse quod se ipsum sensui et praeter se aliquid animo ostendit.)? Was wir lesen, sind daher nicht Worte, sondern die Zeichen der Worte (quae legimus igitur non verba sunt sed signa verborum). Aber wie wir, obschon der Buchstabe selbst das kleinste Element von artikuliertem Laut ist, dennoch diese Vokabeln im übertragenen Sinn brauchen, indem wir auch von ‚Buchstaben‘ sprechen, wenn wir ihn geschrieben sehenSehen – obschon dieser ganz und gar stumm ist und nicht als ein Lautelement, sondern als Zeichen eines Lautelements erscheint – so wir auch ein geschriebenes Wort ‚Wort‘