Lesen in Antike und frühem Christentum. Jan Heilmann
Analyse von 278.000 altgriechischen Wörtern, dass sich eine Auswahl an Kombinationen extrapolieren lässt, welche bei der WorterkennungWort-erkennung eine wichtige Rolle gespielt haben könnten.37 Daraus lässt sich ableiten, dass gerade die übersichtliche Anzahl an relativ häufig vorkommenden, markanten Wortendungen im System der griechischen Grammatik bei der Worterkennung in der scriptio continuaSchriftscriptio continua eine wichtige Rolle gespielt hat. Der relativ regelmäßige Gebrauch von Partikeln wie δέ, γάρ usw. könnte eine Markierungsfunktion von Satzanfängen gehabt haben. Insgesamt resümiert Vatri gerichtet gegen das vielfach zu findende Postulat, scriptio continua sei schwerer zu lesen und hätte daher phonologischPhonologie realisiert werden müssen, m. E. völlig zu Recht: „No physiological constraints prevent the Greeks from reading silently.“38
Die These, scriptio continuaSchriftscriptio continua könne nur adäquat dekodiert werden, wenn sie vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend realisiert würde, ist mit zwei weiteren Schwierigkeiten verbunden: a) mit einem reduktionistischen Verständnis der kognitivenkognitiv Herausforderungen des lautenLautstärkelaut Vortragslesens, das in den antiken Quellen reflektiert wird (s. u.); b) mit einer falschen Vorstellung der kognitiven Prozesse beim nicht-vokalisierendenStimmeinsatznicht-vokalisierend Lesen.39 Und zwar wird insbesondere die in der neueren kognitionspsychologischen LeseforschungLese-forschung „wiederentdeckte“ inner reading voiceStimmeinnere (inner reading voice)40 übersehen. Die Unterschiede zwischen vokalisierendem und nicht-vokalisierendem Lesen sollten also nicht zu grundsätzlich konstruiert werden.
Auch wenn die aktuellen Studien, die die kognitivenkognitiv Prozesse beim vokalisierendenStimmeinsatzvokalisierend VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt und nicht-vokalisierendenStimmeinsatznicht-vokalisierend Lesen vergleichen, an modernen SchriftsystemenSchrift-system gewonnen worden sind und eine Übertragbarkeit auf die Antike unter einem methodologischen Vorbehalt steht, so sind die Ergebnisse trotzdem aufschlussreich: So zeigen diese Studien, dass die Muster beim vokalisierenden und nicht-vokalisierenden Lesen generell sehr ähnlich aussehen, sich aber in Nuancen, die durchaus bedeutsam sind, unterscheiden.41 So ist das nicht-vokalisierende Lesen etwa schneller und verbunden mit einem effektiveren parafovealparafoveal preview preprocessing des noch nicht fixierten, folgenden Wortes. Der GeschwindigkeitsvorteilLese-geschwindigkeit des nicht-vokalisierenden Lesens resultiert vor allem daraus, dass beim vokalisierenden Vorlesen jedes Wort ausartikuliert werden muss, während die inner reading voiceStimmeinnere (inner reading voice) nicht durch die physiologischen Grenzen des menschlichen Artikulationsapparates beeinträchtigt wird und nicht zwingend jede SilbeSilbe eines Wortes vollständigUmfangvollständig artikulieren muss. Einige der empirisch festgestellten Unterschiede deuten darauf hin, dass die kognitiven Anforderungen der Verarbeitungsprozesse beim Vorlesen etwas größer sind: So ist a) die durchschnittliche Fixationsdauer beim vokalisierendenLautstärkevokalisierend Lesen länger, b) die durchschnittliche Länge der SakkadenSakkade kürzer, c) die Größe der perceptual spanperceptual span kleiner, außerdem sind d) häufigere RegressionenRegression beim vokalisierenden Lesen feststellbar.42 Letzteres könnte mit der Notwendigkeit zusammenhängen, beim vokalisierenden Lesen einzelne Phrasen, Satzteile und Sätze überblicken zu müssen, um diese verstehensfördernd und zusammenhängend lautlich zu realisieren. Zudem zeigt sich, e) dass die Informationen aus der parafovealen Wahrnehmung später verarbeitet werden,43 so dass J. Laubrock und R. Kliegl resümieren: „Thus although more time is available due to the longer fixations in oralMündlichkeit reading, apparently this time is not used in the same way for parafoveal preprocessing.”44 Insbesondere beim Vorlesen in performativen Kontexten ergeben sich mutmaßlich zusätzliche kognitive Anforderungen, die aus der fortlaufend notwendigen Reflexion und der Notwendigkeit der Beobachtung von Raumwirkung, Wirkung auf das PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum) etc. resultieren. Diese Parameter werden in den während der Forschungsarbeit konsultierten Studien nicht einbezogen, da die Versuche gleichsam unter „Laborbedingungen“ durchgeführt werden. In jedem Fall deutet aber nichts darauf hin, dass vokalisierende Lektüre einen generellen Verstehensvorteil bietet; so kann nicht zuletzt die GeschwindigkeitLese-geschwindigkeit des nicht-vokalisierenden Lesens variabel angepasst werden, wenn ein Text oder Textteile kognitiv besonders herausfordernd sind.
Es kann also festgehalten werden, dass aus kognitionspsychologischerKognitionswissenschaften und neurowissenschaftlicher Sicht das Lesen von antiker scriptio continuaSchriftscriptio continua nicht auf die phonologischePhonologie Realisierung durch die Lesestimme angewiesen war, sondern potentiell eine Realisation durch die inner reading voiceStimmeinnere (inner reading voice) völlig ausreichend gewesen sein muss.45 Im Umkehrschluss könnte man sogar vermuten, dass die scriptio continua einen Effizienzvorteil gegenüber SchriftsystemenSchrift-system mit SpatienWort-zwischenraum hat, insofern sie Lesern potentiell eine größere perceptual spanperceptual span ermöglicht, da mehr BuchstabenBuch-stabe parafovealparafoveal preview wahrgenommen werden können. Diese Hypothese müsste freilich empirisch erst überprüft werden.
4.2 Das Lesen von scriptio continua im Spiegel antiker Quellen
Dem Fazit Vatris, dass es für antike Leserinnen und LeserLeser keine physiologischen Einschränkungen beim nicht-vokalisierendenStimmeinsatznicht-vokalisierend Lesen von scriptio continuaSchriftscriptio continua gegeben habe, stehen scheinbar Quellenstellen gegenüber, die immer wieder herangezogen werden, um die Hypothese zu belegen, dass antiken Leserinnen und Lesern das Lesen von scriptio continua Schwierigkeiten bereitet hätte.1 Sammelt man die Angaben aus den Ausführungen und Fußnoten zusammen, ergibt sich – ohne die Belege, die zeigen, dass durch die fehlenden WortzwischenräumeWort-zwischenraum gelegentlich Ambiguitäten und insbesondere Fehler beim Abschreiben entstehen2 – die folgende Liste: Dion. Hal.Dionysios von Halikarnassos comp. 25; Gell.Gellius, Aulus 13,31,5; Arist. Rhet. 3,5,6; Quint.Quintilian inst. or. 1,1,34; Petron.Petronius Arbiter, T. sat. 75,4 und Iren.Irenäus von Lyon adv. haer. 3,7,1. Diese Quellen lassen jene Schlussfolgerung aber keinesfalls zu, sondern sind allgemein im Kontext des Lesenlernens zu interpretieren und legen sogar gegenteilige Schlussfolgerungen nahe.
So handelt es sich bei Dion. Hal.Dionysios von Halikarnassos comp. 253 um eine bemerkenswerte Reflexion des eigenen Lesesozialisationsprozesses aus der zweiten Hälfte des 1. Jh. v. Chr., die zudem eine interessante Einsicht in die Selbstwahrnehmung der kognitivenkognitiv Prozesse beim Lesen bietet:
„Wenn wir die BuchstabenBuch-stabe [τὰ γράμματαγράμματα, i. e. Lesen und SchreibenSchreiben] beigebracht bekommen, lernenLernen wir zuerst sorgfältig ihre Namen, danach die Formen und die Bedeutungen [von ihnen],4 dann genauso die Silben und die Flexion in diesen und danach bereits die Wörter und das mit ihnen Zusammenhängende, ich meine sowohl Dehnungen [ἔκτασις] als auch Kontraktionen [συστολή], Akzentuationen und Quantitäten [προσῳδία] und diesen ähnliche Dinge. Wenn wir das Wissen über diese Dinge erlangt haben, dann beginnen wir zu schreiben und zu lesen [γράφειν τε καὶ ἀναγινώσκειν], zuerst zwar nach Silben und langsamLese-geschwindigkeit [κατὰ συλλαβὴν καὶ βραδέως]; wenn aber die rechte Zeit gekommen ist und sich die Formen der Wörter fest in unseren Geist (ἐν ταῖς ψυχαῖςψυχή ἡμῶν) implementiert haben, dann ist unser Umgang mit ihnen von Leichtigkeit gekennzeichnet, und wann immer uns irgendein BuchBuch in die Hand gegeben wird, gehen wir ohne Stolpern hindurch – mit Leichtigkeit und [unglaublicher] Schnelligkeit [ἀπταίστῳ διερχόμεθα ἕξει τε καὶ τάχει {ἀπίστῳ}].“5
Neben den äußerst interessanten Einsichten in die antike Didaktik des SchriftspracherwerbsSchrift-spracherwerb, die hier nicht weiter thematisiert