Angelus Mortis. Theodor Hildebrand
ihr gesprochen. Sie hat uns diese schönen Blumenkränze geschenkt. Ach, wie gut und wie hübsch sie ist!«
Dieses unverhoffte Zusammentreffen und die Worte ihrer Kinder reizten Helenes Neugierde noch mehr. »Still, liebe Kinder«, sagte sie, »sprecht nicht beide zugleich; eines von euch soll mir erzählen, was vorgefallen ist, und das andere kann dann nachholen, was das erste vielleicht vergessen hat.«
Dieser Vorschlag war zwar ganz angemessen, aber nicht frei von Schwierigkeiten, was seine Ausführung anging. Julie, ein höchst lebhaftes, niedliches Mädchen, schien nicht geneigt, ihrem Bruder das Wort zu überlassen, der seinerseits wieder das Recht des Älteren in Anspruch nahm, um der Erzähler des kleinen Abenteuers zu sein. Hieraus entstand ein ernsthafter Streit. Helene versuchte anfangs vergebens den Weg der Güte: Sie drang nicht durch, weil Julie sprechen und Wilhelm nicht schweigen wollte. Die Mutter sah sich endlich genötigt, ihre ganze Autorität zu gebrauchen, und ein bestimmter Befehl legte dem kleinen Mädchen Stillschweigen auf. Julie nahm nun eine schmollende Miene an und setzte sich in einen Winkel des Zimmers, wo sie ihr niedliches Gesichtchen in den Händen verbarg und dabei versicherte, dass ihr Bruder falsch erzähle, dass sie aber gewiss den Mund nicht öffnen werde, um ihn zu berichtigen.
Wilhelm, stolz auf die Auszeichnung, die ihm seine Mutter zuteilwerden ließ, stellte sich lächelnd vor sie hin und fing nun seine Erzählung an: »Ich hatte Lust, liebe Mutter, in das Tal hinabzugehen, um einige von den schönen Blumen, die dort so reichlich auf der Wiese wachsen, zu pflücken. Ich bat daher unseren Werner, uns dorthin zu führen, und er willigte ein; wir waren aber kaum einige Augenblicke da, so lief auch schon Julie, die niemals ruhig bleiben kann, mit allen Kräften auf den Wald zu.«
»Das ist nicht wahr!«, rief Julie, voll Ärger über die Beschuldigung ihres Bruders. »Ich verfolgte einen schönen, bunten Schmetterling und du tatest dasselbe. — Siehst du wohl, liebe Mutter, dass du von Wilhelm nichts Ordentliches erfahren wirst? Daher will ich dir lieber erzählen, was geschehen ist, denn mit mir hat ja die Dame zuerst gesprochen.«
»Ich habe dir befohlen zu schweigen«, antwortete die Mutter sanft, aber ernsthaft; »und ich will, dass du mir gehorchst. Dass ich also meinen Befehl nicht zum dritten Mal wiederholen muss!«
Die Strenge dieser Worte, die doch so wenig der Liebe Helenes zu ihrem niedlichen Töchterchen entsprach, verursachte der Kleinen so viel Schmerz, dass Julie in einen Strom von Tränen ausbrach und ihrer Mutter ihre kleinen Arme um den Hals warf. Helene sah nun ein, dass sie sich zu streng gezeigt hatte, und ohne ein Wort zu sagen, streichelte sie mit ihrer Hand die schönen blonden Locken ihrer Tochter und drückte dann einen Kuss auf ihre Stirn, worauf sich die Heiterkeit bei derselben sogleich wieder einstellte. Indessen fuhr Wilhelm in seiner Erzählung fort. Er berichtete, wie die fremde Dame plötzlich vor seinen erstaunten Blicken erschienen sei, während er gerade seiner Schwester habe nacheilen wollen, die mitten ins dickste Gebüsch gelaufen sei; wie Julie die Hand der fremden Dame gehalten habe und diese sich dann zu ihren Spielen gesellte, »obgleich sie«, bemerkte der Knabe, »die Fröhlichkeit nicht gerade zu lieben scheint. Sie war immer ernsthaft, und das laute Gelächter Julies, womit sie immer sehr freigebig ist, schien ihr sogar ein gewisses Unbehagen zu verursachen. Aber sie behandelte uns mit einer außerordentlichen Güte. Werner, der eigentlich schon längst mit uns nach Hause zurückkehren wollte, musste sich noch sehr gedulden, denn die Fremde wollte gar nicht damit aufhören, immer noch einige Blumen zu den Kränzen hinzuzufügen, die sie für uns wand. Sie ist wirklich erstaunlich geschickt; nur weiß ich nicht, warum sie beständig einen Handschuh an der linken Hand trägt; das muss ihr doch sehr beschwerlich sein. Julie wollte ihn ihr abziehen, aber sie hinderte sie mit einer sehr heftigen Bewegung daran und warf ihr zugleich einen Blick zu, der mich und meine Schwester in Schrecken versetzte; so böse schien er uns zu sein.«
Diese Erzählung wurde in allen Punkten von dem kleinen Mädchen bestätigt, das sich nun beeilte, das Wort zu ergreifen. Julie fügte noch eine Menge Einzelheiten hinzu und erzählte ihrer Mutter, dass die hübsche Dame ihr mitten im Gebüsch so plötzlich erschienen sei, als wenn sie aus der Erde hervorgekommen wäre.
»Ich erschrak anfangs sehr«, fuhr Julie fort, »und als die Dame es bemerkte, schien sie darüber sehr bekümmert zu sein. Sie kam dann lächelnd auf mich zu und ihre freundlichen Worte machten mich bald mutiger. Übrigens hat sie mir nicht einmal die kleinste Frage gestellt, was doch sonst eigentlich alle tun, die mich zum ersten Mal sehen; sie sprach nur von unseren Spielen und Vergnügungen und wie sehr sie meine Freundin zu werden wünschte. Dich und Papa hat sie mit keinem Wort erwähnt.«
Werner, der nun ebenfalls befragt wurde, bestätigte alles, was die Kinder gesagt hatten. Aber über seinem ganzen Wesen schien eine große Verwirrtheit zu liegen, die er vergebens zu verbergen versuchte; sie wurde gegen seinen Willen so sichtbar, dass Helene aufmerksam werden musste.
»Nun, Werner«, sagte sie, »wie es scheint, bist du nicht so sehr für die fremde Dame eingenommen wie Wilhelm und Julie. Hegst du noch immer dein früheres Misstrauen gegen sie oder hast du sie vielleicht gar wiedererkannt?«
»Ich, sie wiedererkannt haben?«, rief der alte Soldat, dessen Gesicht in diesem Augenblick alle Farbe verlor. »Ich wüsste nicht, Frau Oberstin, wie mein Betragen sie zu solch einer Vermutung veranlassen könnte. Ich kenne diese Person nicht; aber dennoch bleibe ich bei meiner Meinung, dass ihr Erscheinen an diesem Ort und zu dieser Jahreszeit zu ungewöhnlich ist, um sich etwas Gutes davon zu versprechen. Wenn Sie meinem Rat folgen wollten, würden sie ihren Kindern nicht erlauben, bekannter und vertrauter mit ihr zu werden. Was die Erlaubnis betrifft, dass diese Unbekannte ihren Fuß über die Schwelle des Schlosses setzt, wissen Sie selbst, was sie zu tun haben. Doch wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich nicht einmal zulassen, dass sie auch nur den Hof überschreitet.«
»Um so streng mit ihr zu verfahren«, erwiderte Helene, »müsste ich überzeugt sein, dass ihre Gesellschaft ganz und gar unpassend für mich ist, was durchaus sein kann. Aber da du sie heute zum ersten Mal gesehen hast, da deine Abneigung ihr gegenüber gar keinen triftigen Grund hat, werde ich mich in meinem Verhalten ganz von den üblichen Gepflogenheiten leiten lassen. Dennoch bin ich fest entschlossen, mein lieber Werner, auf deinen Rat zu hören, falls du irgendetwas über diese Dame weißt, was einem Umgang mit ihr entgegenstehen könnte.«
Werner schien einen Augenblick lang unsicher zu sein, was er der Oberstin antworten sollte; plötzlich hörte diese Unsicherheit jedoch auf, und er versicherte darauf mit fester Stimme, dass seine Furcht nur auf Vorurteilen beruhe, die fremde Dame ihm völlig unbekannt sei und seine Herrschaft jegliches Recht habe, zu handeln, wie es ihr beliebe.
Helene kannte die edle Freimütigkeit des alten Soldaten und zweifelte nicht an der Wahrheit dessen, was er sagte. Sie schrieb sein Misstrauen der natürlichen Bedächtigkeit derjenigen zu, die in der Welt viel gesehen und erfahren haben; das Böse hat sich ihnen in allen Gestalten gezeigt, und sie fürchten stets, es da anzutreffen, wo der Anschein es am wenigsten vermuten lässt. Nur in der Zurückgezogenheit lernt das menschliche Herz, sich einem Vertrauen zu überlassen, das noch durch nichts getäuscht wurde; der häufige Umgang mit Menschen lehrt es jedoch, sie zu fürchten.
Viertes Kapitel
Indem Werner der Oberstin versicherte, dass die fremde Dame ihm unbekannt sei, sagte er bewusst die Unwahrheit. So auffallende Gesichtszüge konnten bei ihm unmöglich in Vergessenheit geraten; er wusste, wie sehr diejenige, welche damit geschmückt war, die zärtlichsten Gefühle zu wecken vermochte, und er fürchtete sich schon jetzt vor einem Zusammentreffen, das die schrecklichsten Stürme für die Zukunft erwarten ließ. Aber sollte er unter diesen Umständen die Ruhe seiner ahnungslosen Herrin vergiften? War es nötig, in ihrem Herzen die verzehrenden Flammen der Eifersucht zu entfachen? Unglücklicherweise gibt es Situationen im menschlichen Leben, in denen es notwendig ist, die Wahrheit zu verschweigen und mit der Lüge ins Bündnis zu treten, um größeren Übeln vorzubeugen. Eine von diesen Situationen war nun eingetreten, und obwohl Werner ihr nur ungern seine Liebe zur Wahrheit opferte, sah er doch letztlich keine andere Möglichkeit, als der Oberstin zu verschweigen, was er wusste. Wie sehr wünschte er sich die Nacht herbei, um ruhig über diese schwierige Lage nachdenken zu können. Er war sich bewusst, wie wichtig es war, sich nichts von seiner inneren Unruhe anmerken zu lassen; denn wenn sich erst