EI_LAND. Andreas Hillger

EI_LAND - Andreas Hillger


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immer Vergangenheit verheizt, gehen Lebensläufe von Generationen in Rauch auf. Und der Fortschritt misst sich an der Strecke, die der Vorschnittbagger täglich zurücklegt. Man kann ihn aber auch in Megatonnen aufwiegen.«

      »Jetzt werden Sie mal nicht pathetisch.« Wolter blickte mich mit leicht glasigen Augen an, die Worte kamen ihm hörbar schwer über die Lippen. »Wo gehobelt wird, fallen eben Späne. Und schließlich heilt die Zeit doch alle Wunden.«

      Ich schnaubte verächtlich. »Ja. Einfach einmal umgraben und dann wieder zuschütten, am besten mit Wasser. Von der Schlachteplatte zur Seenplatte, ein Paradies für die Segler aus der Stadt. Auf dem Grund aber liegen die versunkenen Siedlungen wie Vineta vor der Küste – als unsichtbares Zeichen für mangelnde Demut und wachsende Gier. Kennen Sie Horno? Das war mal ein Hort des Widerstands, ein Symbol für den Aufstand der kleinen Leute gegen die großen Mächte. Ein Dorf mit Geschichte, sechseinhalb Jahrhunderte alt, gebaut auf Findlingen und Lehm, mit Anger und Kirche als Mittelpunkt. Halbwegs heile Welt – und plötzlich im Weg. Schon lange vor der Wende hatte man beschlossen, dass die Bagger die kürzeste Strecke durch den Ort nehmen sollten, obwohl sie dabei gar keine Kohle finden würden. Ein Ausweichen wäre zwar möglich gewesen, hätte aber wohl zu viel Zeit und Geld gekostet. Kurzerhand wurde das Gelände zum Schutzgebiet erklärt, allerdings nicht für die Natur, sondern für den Bergbau. Eine einfache Formel: Keine neuen Häuser, keine neuen Menschen. Als der Wind im Land dann drehte, keimte bei den Alteingesessenen Hoffnung – und wurde bitter enttäuscht. Zwar galt Horno nun als Denkmal, aber auch das hielt die Geschichte nicht auf. Versprechen wurden gegeben und gebrochen, man lockte mit fetten Ködern – und jene wenigen, die Heimat noch immer der Entschädigung vorzogen, galten wahlweise als Verräter oder Märtyrer. Der Name des Dorfes ging um die Welt, Inder und Indianer sahen in ihm ein Vorbild für ihren eigenen Kampf gegen Landnahme … doch schließlich wurde Horno aufgelöst, das Ortsschild abgeschraubt. Am Ende gab es nur noch ein altes Paar, das sich weigerte, seine Obstbäume im Stich zu lassen. Wie Philemon und Baucis saßen sie fest verwurzelt auf ihrem Land, während man auf dem Kirchhof schon die Toten ausgrub. Kennen Sie die Stelle in Goethes ›Faust‹?« Ich griff den Band aus dem Regal und schlug ihn dort auf, wo das Lesebändchen die Passage markierte: »›Hat er uns doch angeboten / Schönes Gut im neuen Land! / Traue nicht dem Wasserboden, / Halt auf deiner Höhe stand!‹ Der alte Minister für Bergbau wusste wohl, wovon er sprach. Aber den eigentlichen Sinn für schwarzen Humor offenbarte auch in diesem Fall der Weltgeist selbst. Denn wissen Sie, wie die letzten Hornoer hießen? Domain! Sprechen Sie das mal englisch aus!«

      Wolter lachte hell auf. »Kein schlechter Scherz, in der Tat! Aber warum erzählen Sie mir das alles?«

      »Haben Sie das noch immer nicht verstanden? Schwarzmühl ist wie Horno, eine kleine Geisterstadt am Ende einer Straße, die gleich hinter dem Ort ins Nichts mündet. Die meisten sind schon fort, nur die Hartnäckigsten klammern sich noch an Hab und Gut. Mit Liebigs Hund sind wir die Glorreichen Sieben, ohne ihn das dreckige halbe Dutzend – ein Häuflein Freischärler im Kampf gegen eine übermächtige Armee. Bei Lichte besehen ist es ein Spiel auf Zeit, das den Preis mit jedem Tag steigert. Auch die Domains haben schließlich in letzter Sekunde einen Vergleich geschlossen, als ihnen die unverstellte Aussicht auf die Bagger die Ausweglosigkeit ihrer Lage vor Augen führte. Aber sie haben sich teuer verkauft. Und wir sind nicht billiger zu haben. Allerdings gibt es ein Problem: Wir können nichts für unsere Zukunft tun, sondern müssen mit dem unaufhaltsamen Verfall leben. Denn wenn wir den Wert der Siedlung steigern, schmälern wir unsere Aussicht auf Erfolg. Die Grundstücke und die Häuser sind längst geschätzt, jede Veränderung zum Besseren ist verboten. Und darauf lauern unsere Feinde ja nur – dass wir ihnen den Beweis für ihre Behauptung liefern, es gehe uns nur um Gewinn. Ich weiß, das klingt verrückt, aber wir sitzen die Gegenwart aus, während uns die angeblich frohe Zukunft belagert – ein klassisches Patt, ein Waffenstillstand von unbestimmter Dauer. Selbst wenn die Tage von Island längst gezählt sein sollten, kennt doch niemand die Stunde der Kapitulation.«

      Wolter gähnte. »Absurd! Jedes Ende mit Schrecken wäre doch besser als so ein Schrecken ohne Ende. Und Sie haben Spaß an diesem Manöver?«

      Wie sollte ich es ihm verständlich machen? »Ich bin der ultimative Zugezogene, ein finaler Späteinsiedler sozusagen. Das Haus habe ich geerbt – und ich erfülle einen letzten Willen, indem ich es bewohne. Das ist schwer zu begreifen, vor allem so weit nach Mitternacht. Wir reden morgen weiter. Sie können auf dem Sofa schlafen, Decke und Kissen bringe ich gleich. Zum Bad geht es über den Flur, zweite Tür links.«

       V

      »Die Kostüme sind zerrissen, In Perücken nisten Motten. Die Kulissen – längst verschlissen – Schwanken, wanken und verrotten.« Drei Schwestern, »Bettlers Bankett«

      Der Schnaps verweigerte mir in dieser Nacht seinen Dienst, der dringend nötige Schlaf wollte sich nicht einstellen. Stattdessen dämmerte ich mich durch halb vergessene Bilder, die mir mein Gespräch mit Wolter wieder zu Tage gefördert hatte. Ich sah mich an der Abbruchkante stehen, mein Smartphone als Diktiergerät in der Hand, neben mir ein Mann mit Anzug und Bauhelm. Er wies mit großer Geste in die Weite und redete von Ableitungen und Aufforstungen, von kontrollierten Emissionen und neuen Planverfahren. Obwohl die Episode schon einige Zeit zurücklag, hörte ich die Worte noch genau – den nüchternen Ton des Managers, mit dem sich die Begeisterung für das technisch Mögliche und für den eigenen Anteil an dieser Leistung maskierte. Der Botschafter der neuen Eigentümer hatte mit tschechischem Akzent gesprochen, und die historische Volte amüsierte mich nun abermals: Jener Landgewinn, der dem böhmischen General Wallenstein nicht gelingen konnte, nachdem er mit seinen kaiserlichen Truppen an der Schwarzen Pumpe gerastet hatte, war seinen Nachfahren fast vierhundert Jahre später im Handstreich geglückt. Sie hatten das Recht, hier nach Kohle zu schürfen, einfach gekauft – und zwar ausgerechnet von den Schweden, die sich von diesem schmutzigen Geschäft reinwaschen wollten, in das sie selbst erst kurz zuvor eingestiegen waren. Von Vattenfall zu Energetický a Průmyslový – ein einvernehmlicher Handel über Grenzen und Menschen hinweg. Was Gustav Adolf wohl dazu gesagt hätte, der einst im Kampf gegen Wallensteins Truppen fiel – auf einem Feld bei Lützen, unter dem man später auch Kohle fand?

      Genau so wollte ich das schreiben, weil man das Fußvolk auch diesmal nicht nach seiner Meinung gefragt hatte. Die Marschrichtung wurde noch immer am Kartentisch beschlossen, der Boden samt seiner Schätze in Verträgen verteilt und zur Plünderung freigegeben. Politik war nur die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, den Preis zahlten hier wie dort die Verlierer. Natürlich würde ich auch ihnen eine Stimme geben, genau genommen die jener alten Frau, die ich an diesem Sommertag kennengelernt hatte. Sie hieß Hanka Reimer, ich hatte sie auf der Fahrt zum Ortstermin in ihrem Vorgarten gesehen, wo sie in einer einfachen Kittelschürze Unkraut zupfte. Eigentlich wollte ich aus dem geöffneten Wagenfenster nur kurz nach dem Weg fragen, aber auf meinen Gruß hatte sie sich ächzend erhoben und war an den Zaun gekommen. »Ganz einfach, junger Mann! Immer geradeaus, die Allee entlang, bis an die Kante. Dahinter geht es steil abwärts – aber keine Angst, die Schlucht ist gut beschrankt! Wenn Sie sich sattgesehen haben, können Sie gern noch mal Halt machen. Es führt ohnehin keine andere Straße zurück. Also bitte wenden!« Ein bitteres Lachen hatte diesen Satz begleitet.

      Tatsächlich war ich auf der Rückfahrt noch einmal ausgestiegen und hatte das Grundstück durch die hölzerne Pforte betreten. Das Tor der Scheune hing schief in den Angeln, ihr Dach war an einer Ecke eingestürzt, doch das Haus schien gepflegt und solide. Hinter halb geöffneter Gardine hatte sie mich hereingewunken, nun saßen wir bei Pfefferminztee – »vom eigenen Beet« – und Mohnkuchen – »nach Großmutters Rezept« – in ihrer guten Stube. Frau Reimer wühlte in einem Karton mit Fotos und erzählte aus ihrem Leben – vom langen Fußweg zur Klippschule im Nachbardorf, von der Angst vor den Russen mit ihren Panjewagen und ihren grimmigen Gesichtern, von der Enteignung des Vaters nach dessen Heimkehr aus der Gefangenschaft und von ihren vielen Jahren als Köchin im Chemiekombinat.

      Hankas Ehe war kinderlos geblieben, der Mann schon vor Jahren gestorben. Und nun wartete sie in dem Haus, in dem sie das Licht der Welt erblickt hatte, nur noch auf ihren eigenen Tod. Die schwarz-weißen Aufnahmen,


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