EI_LAND. Andreas Hillger

EI_LAND - Andreas Hillger


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hob die Hand und hämmerte mit seinen gekrümmten Fingern eine unsichtbare Schlagzeile in die wirbelnden Rauchschwaden, die von meiner Zigarette über dem Tisch aufstiegen: »The Egg from the Edge!« Wolter sah mich triumphierend an, mir aber hatte es die Sprache verschlagen. »Verstehen Sie denn nicht, Hagen? Sie werden es lieben, all die Influencer und Early Adopters. Genauso, wie sie die Hard Seltzer und Power Bowls geliked haben, bis aus der Behauptung eine echte Bewegung wurde. Wir hatten in der Agentur ein Wandtattoo, das uns den Sinn unserer Arbeit immer wieder vor Augen hielt: ›Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.‹ Kennen Sie das? Ist von Karl Marx, aber trotzdem gut. Wie, sagten Sie, muss man die Eier einlegen?«

      Ich hatte meine Fassung wiedergefunden und räusperte mich: »Nun, man braucht Zwiebeln und Salz, Pfeffer und Senfkörner, Lorbeer und Kümmel. Dann kocht man die Eier zehn Minuten und schlägt ihre Schale leicht an …«

      Konrad unterbrach mich. »Das ist doch ein guter Anfang, aber das lässt sich sicher noch verfeinern. Und dann natürlich die Art der Zubereitung. Damit lässt sich hervorragend spielen, weil der Kunde selbst über Basics und Extras entscheiden kann. Auch aus hygienischen Gründen sind die Eier perfekt: Die Schale schützt den harten Kern, eine saubere Angelegenheit – und ein Perfect Pairing für die Hipster, die ihr Craft Beer am liebsten aus der Flasche trinken. Man muss es bloß richtig präsentieren … lassen Sie mich nur machen, Hagen. Sie liefern das Produkt, ich kümmere mich um den Verkauf. Minimaler Wareneinsatz, maximaler Gewinn. Was meinen Sie? Sind wir im Geschäft?«

      Schon wieder wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Einerseits klang dieser Plan – falls es denn überhaupt einer war – nach einer ausgemachten Narretei, einem verrückten Schildbürgerstreich. Andererseits war das Risiko relativ gering, die Hühner legten ihre Eier ohnehin, und dem absehbaren Scheitern konnte man aus sicherer Entfernung zuschauen. »Ich will das nicht allein entscheiden, das muss im Rat beschlossen werden.«

      Wolter zückte seine Brieftasche und legte eine Visitenkarte auf den Tisch. »Gut, ich verstehe. Überlegen Sie es sich, rufen Sie mich an. Und glauben Sie mir, Sie werden es nicht bereuen.« Dann sah er auf die Uhr und stand auf. »Höchste Zeit! Gelbe Engel darf man nicht warten lassen. Es war mir ein ausgesprochenes Vergnügen, Herr Siegfried! Hoffentlich können wir das bald wiederholen.«

      Ich war mir nicht sicher, ob ich diesen Wunsch teilte.

       VII

      »Wie leer ist das hier. In der Stadt. Und in mir! Wie still sind die nächtlichen Stunden! Kein Mensch ist noch wach. Nirgends Licht unterm Dach. Alles hat längst zur Ruhe gefunden.« Drei Schwestern, »Schlaflied«

      Wolter stapfte mit hochgeschlagenem Mantelkragen durch den Schnee davon, ich blickte ihm nach und drückte mir die Handballen auf die pochenden Schläfen. Ein Schnaps würde jetzt helfen, obwohl es eigentlich gegen meine Regeln verstieß, schon so früh am Morgen zu trinken. Ich goss den letzten Rest aus der Flasche in ein Glas und stürzte ihn hinunter, ehe die Schärfe sich im Mund ausbreiten konnte. The Egg from the Edge? Was für ein dubioser, was für ein verrückter Vorschlag! Doch selbst wenn sich dieser begnadete Verkäufer in seinen Visionen total verrannt hatte, konnte ich in dem Wahnsinn Methode erkennen. Was wäre denn gewesen, wenn die letzten Hornoer ihr Obst vermostet und auf Flaschen gezogen hätten? Bagger-Boskop oder Kipper-Kirsche? Warum nicht gleich Abriss-Birne? Das hätte sich bestimmt bestens verkauft, als bittersüßer Protest aus vollreifen Früchten. Und ich hätte natürlich darüber berichtet, anklagend oder werbend – je nach Bedarf, aber selbstverständlich immer originell. Schon schwirrten mir passende Sprachspiele durch den Kopf – von der letzten Lese bis zum finalen Fallobst, vom drohenden Ende der Haltbarkeitsdauer bis zu fehlenden Konservierungsstoffen. Mit solchen Metaphern kannte ich mich aus, auf diesem Terrain konnte mir auch Wolter nicht das Wasser reichen. Aber wäre das weniger zynisch als seine Idee gewesen?

      Ich spürte, wie mir die angenehme Wärme aus dem Magen allmählich zu Kopf stieg und die Sinne benebelte. Der kurze Moment der absoluten Hellsichtigkeit, für den ich den ersten Schluck so liebte, war vorüber. Vielleicht würde ich mich doch noch einmal hinlegen. Ich hatte ja sonst nichts zu tun.

      Zugleich mit dem schläfrigen Blick zur vergilbten Decke des Schlafzimmers schlingerten auch meine Gedanken rückwärts. Was hatte mich nur dazu bewogen, dieses Vermächtnis anzunehmen? Als ich das Anwaltsschreiben im Briefkasten fand, waren nur wenige Wochen vergangen. Die alte Dame sei still und allein gestorben – »friedlich eingeschlafen«, wie mir der Überbringer der Nachricht später in seiner klinisch kühl möblierten Kanzlei versicherte. Da es keine anderen Ansprüche Dritter gäbe, stünde mir der gesamte Besitz der Frau Hanka Reimer, geboren 1936 als Hanka Müller in Schwarzmühl, uneingeschränkt zu. Nach diesem leicht verunglückten Satz schnaufte der korpulente Verwalter des fremden Eigentums vernehmlich und tupfte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Es war noch immer Sommer und sehr schwül, obwohl ein Ventilator die Luft in diesem Reinraum des Rechts verwirbelte. »Wollen Sie das Erbe annehmen?« Mein Zögern ließ ihn unruhig zappeln, wobei die Uhrkette über seinem Wanst und die Fliege am Kehlkopf bebten. »Haus und Grundstück können Sie natürlich veräußern, Sie kennen die Lage ja. Außerdem ist da noch ein Bankkonto … ein erkleckliches Sümmchen, wenn ich das so sagen darf. Frau Reimer hat ausgesprochen sparsam gelebt. Das Testament hat übrigens einen seltsamen Nachsatz: Die Erblasserin bittet Sie, auf die Lutki aufzupassen.«

      Dieser letzte Satz war es, der meine Entscheidung herbeiführte. Wie konnte ich einen solchen letzten Willen ausschlagen? Zwar wusste ich noch immer nicht, wer diese rätselhaften Lutki sein sollten, aber meine Neugier war geweckt. »Ja! Ich akzeptiere! Und ich werde nach Schwarzmühl ziehen.« Der Anwalt sah mich verwundert an, dann nickte er knapp. »Gut. Aber das Dorf steht auf der Kippe. Falls Sie also einmal rechtlichen Beistand brauchen … Sie wissen ja, wo Sie mich finden können. Viel Glück – oder besser: Glück auf!«

      Ich reiste mit leichtem Gepäck, meine Wohnung in der Stadt war immer nur ein Stützpunkt gewesen. Zwei Fahrten mit einem Kleintransporter sollten genügen, um Möbel und Bücher in das alte Haus zu bringen. Auf dem Rückweg wollte ich entsorgen, was mir im neuen Heim überflüssig schien: die akkurat gefaltete Wäsche aus dem Kleiderschrank, die Batterie von Einweckgläsern aus dem Keller und das Doppelbett mit den durchgelegenen Matratzen. Einigen Erinnerungsstücken gönnte ich eine Gnadenfrist, über ihr Schicksal sollte erst nach Ablauf der Trauerzeit entschieden werden. Denn traurig war ich tatsächlich – auf eine seltsame, dankbare Weise, die sich mit stiller Heiterkeit mischte. Frau Reimers Ersparnisse würden – zusammen mit meinen eigenen Rücklagen – für eine längere Auszeit genügen, die ich dringend benötigte. Jahrelang war ich Ereignissen hinterhergelaufen und hatte mich durch fremde Leben gegraben, um meine selbst auferlegte und gut bezahlte Chronistenpflicht zu erfüllen. Dabei war ich stets scheinbar bescheiden im Hintergrund geblieben oder hatte mich bestenfalls als »Autor dieser Zeilen« zu erkennen gegeben – eine aufgeschminkte Maske mit eingefrorener Miene, hinter der man sein Gesicht wahren und seine Eitelkeiten verstecken konnte. Für Kommentare und Meinungen mochten andere zuständig sein, ich gefiel mir in der Rolle des Reporters an der Front.

      Dafür hatte anfangs schlicht meine Jugend als Voraussetzung genügt: Ich war recht flink und einigermaßen verständig, hatte gerade mein Abitur bestanden und wollte mich noch nicht für ein Studium entscheiden. Also kellnerte ich abends und schrieb am Tag für die Lokalseiten der Neuen Ruhr Nachrichten – ein zielloses Treiben, dem erst der Fall der Mauer seine Richtung gab. Plötzlich wollte jedes Provinzblättchen exklusive Geschichten aus dem fernen Osten drucken, aber kaum jemand der älteren Blattmacher mochte dafür seinen angewärmten Platz in der Redaktion verlassen. Ich stürzte mich in das Abenteuer und fand, aus dem Pott kommend, die besten Geschichten schon bald in mitteldeutschen Revieren. Dass die Arbeit hier noch schwerer und schmutziger, ihr Ertrag geringer und die Technik hoffnungslos veraltet war, las man im tiefen Westen natürlich gern. Und als die Anteilnahme am Schicksal der wiedergewonnenen Brüder und Schwestern allmählich nachließ, weil man die wachsenden Kosten dieser Familienzusammenführung addierte, konnte ich erste Skandale aus diesen neuen Ländern gut verkaufen. Singende Baggerfahrer und alte Seilschaften, gehetzte Ausländer und verschollene Millionen … Mit meinem alten Volvo erregte ich zu dieser


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