EI_LAND. Andreas Hillger
»Das Schlimmste ist«, sagte Frau Reimer, »dass es keinen Erben gibt – und dass sie das hier alles einfach abräumen werden. Dann bleibt nichts, kein Andenken, keine Erinnerung. Und man weiß nicht mal, wo man am Ende begraben liegt.« Ich war unangenehm berührt, die Traurigkeit dieses Augenblicks machte mich stumm. Doch dieses Schweigen deutete die Alte falsch. »Wollen nicht Sie vielleicht … Sie sind mir sehr sympathisch, Herr Siegfried!« Sie legte ihre schwielige Rechte auf meine Hand, in ihren Augen lag ein verdächtiger Schimmer. Jetzt bloß nicht weinen, bitte! Oberstes Gebot: Du sollst dich mit keiner Sache gemein machen, auch wenn es eine gute wäre. Aber Frau Reimer ließ nicht locker: »Wenn Sie hier einziehen, bin ich getröstet. Und die anderen, die Lutki, kriegen Verstärkung. Sie passen perfekt hierher, das spüre ich.«
Ich hätte aus vielen Gründen ablehnen müssen, doch mir wollte in diesem Moment kein einziger einfallen. Vor wenigen Stunden hatte ich noch in den Abgrund geschaut und nach eindringlichen Formeln für treffende Beschreibungen gesucht. Nun sah ich die Träne, die sich den Weg durch die Falten bahnen wollte und mit dem Handrücken verlegen weggewischt wurde. Später könnte ich das Erbe immer noch ausschlagen, für den Augenblick aber fühlte ich mich in die Pflicht genommen: »Also gut!« Hanka seufzte, als wäre ihr eine schwere Last von der Seele genommen. »Sie machen mir eine große Freude – und auch den Lutki!«
Als ich an diesem Nachmittag in die Stadt zurückfuhr, blendete das Licht auf den Solarziegeln der Häuser. Eine sanfte Brise drückte die weißen Schwaden, die von den mächtigen Kegeln in der Ferne aufstiegen, seitlich auf die träge kreisenden Rotorblätter der riesigen Windräder. Alles verströmte Ruhe und sammelte doch unaufhörlich Energie, das ganze Land stand unter Strom. Gleich würde am Horizont wohl jene Riesin mit den nackten Brüsten und dem Bukett aus bunten Luftballons auftauchen, die ich von dem Bild über meinem Schreibtisch kannte.
Die verblichene Kopie des Gemäldes war mir in der Ruine eines früheren Kulturhauses in die Hände gefallen, als ich für einen Artikel über verlorene Orte recherchierte. Dort hatte sie an einer Wand gelehnt, unter schlecht gesprühten Graffiti und im Zwielicht hinter den zersplitterten, notdürftig mit Sperrholz verkleideten Scheiben – eine Göttin, die neben dem Bildnis eines kleinen Jungen im Tierpark und einem züchtigen Liebespaar am Strand auf ihre baldige Verbrennung wartete. Andere Reproduktionen waren den Vandalen bereits zum Opfer gefallen, die Asche und verkohlte Überreste der Rahmen häuften sich auf dem nackten Fußboden. Ich hatte das Bild als Souvenir betrachtet, obwohl ein Etikett auf der Rückseite es eindeutig als Volkseigentum auswies. Aber was sollte das schon für ein Volk sein, das sein Inventar mutwillig in Flammen aufgehen ließ? Die schrecklich schöne Erscheinung über der eintönigen Landschaft war mir damals wie ein perfektes Sinnbild für die übermenschliche Größe der Versprechen erschienen, die man hier gegeben hatte, ohne selbst an sie glauben zu können – eine unerreichbare, stets zurückweichende Freiheitsstatue, deren Fackel längst gegen kindliche Belustigung und ein paar Blümchen ausgetauscht worden war. Nun also fuhr auch ich auf leicht geschwungener Straße an Schildern vorbei, die zu nahe liegenden Orten wiesen. Doch der Himmel über dem Revier blieb leer …
VI
»Zu Solei und Bulette Gibt’s gleich am Tresen vorn Ganz ohne Etikette ’ne Molle und ’nen Korn. Am Morgen kratzt der Kater, Am Abend tränkst du ihn. Das gibt es nicht am Prater, Das gibt’s nur in Berlin!« Drei Schwestern, »Berlin, Berlin«
In blassblauen Boxershorts und weißem Unterhemd wirkte Wolter verwaschen und schwammig. Er stand in der Stubentür, als ich aus dem Badezimmer kam, und nickte mir verschlafen zu. »Morgen!« Ich hielt ihm wortlos ein Handtuch hin und ging in die Küche, um Kaffee zu brühen. Normalerweise hätte ich mich um diese Zeit stöhnend zur Wand gedreht und gehofft, dort noch ein wenig Schlaf zu finden. Wenn ich meinem Gast nun also auch diese vage Aussicht opfern musste, durfte er keine überschwängliche Begrüßung erwarten. Ich öffnete das Fenster und blies den Rauch meiner ersten Zigarette in das Morgengrauen über dem noch immer makellos weißen Schnee. Die Kälte tat gut und erfrischte die abgestandene Luft in den Zimmern. Langsam sah ich wieder klarer.
An Wolter hingegen schien das Gelage der vergangenen Nacht folgenlos vorübergegangen zu sein. Als er aus dem Bad kam, hatte er mit dem Anzug auch seine Beredsamkeit wieder angelegt. Er umklammerte den Becher mit beiden Händen und pustete ein Loch in die Schicht aus schwarzem Pulver, das ich reichlich bemessen hatte. »Ah, das tut gut! Wissen Sie, Hagen, ich habe nachgedacht. Diese ganze Geschichte mit dem Dorf und den Baggern, mit den Nestflüchtern und Sitzenbleibern … das ist genau das, was wir Werber ein perfektes Branding nennen. Die Story weist über sich selbst hinaus, sie ist leicht zu erzählen und hat eine Moral. Simpel gesagt: Damit die einen in Licht und Wärme leben können, müssen andere Haus und Hof verlassen. Die im Dunkeln sieht man nicht … Das ruft nach Gefühlen, das versteht jeder sofort. Und es passt in unsere Zeit, weil es schlechtes Gewissen weckt – das beste Argument für jeden Verkäufer. Verstehen Sie? Wir trinken Bier, um den Regenwald zu retten, wir vergeuden Benzin auf dem Weg zu Umwelt-Demos, wir trennen Müll und kippen ihn wieder zusammen … lauter gut gemeinte Versuche, uns selbst zu beruhigen!«
Was wollte Wolter von mir? Viel hätte ich in diesem Moment für eine Kopfschmerztablette oder etwas Hochprozentigeres gegeben.
»Im Grunde ist das ein Ablasshandel, von dem alle Seiten gut leben können. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Auch in unserem Fall lässt sich damit ein Geschäft aufziehen. Die Story haben wir schließlich schon, jetzt fehlt uns nur noch das Produkt.« Er zwinkerte mir zu. »Und da kommen Sie ins Spiel. Sie haben es gestern doch selbst gesagt: Veredlung des Einfachen, ein bisschen Alchemie.« Verwundert rieb ich mir die noch immer leicht verklebten Augen. Wolter missverstand die unwillkürliche Geste offenbar als Zeichen meines erwachten Interesses. »Die Eier! Sie können hier vielleicht kein nachhaltiges Gewerbe mehr treiben, aber ein paar Hühner dürfen Sie gewiss noch halten. Und wenn es uns gelingt, die Ware auf den Bartresen von Berlin zu platzieren, haben wir gewonnen.«
War es mein Fehler, dass ich das Ganze für eine ausgesprochene Schnapsidee hielt? Oder wirkte bei ihm der Obstbrand immer noch nach? »Soleier? Als mitternächtlicher Absacker für die bessere Gesellschaft? Absurd!«
»Natürlich klingt das absurd.« Wolter nickte. »Aber gerade darum hat es ja eine Chance. Die Gier nach Neuem ist in der Hauptstadt ein ungeschriebenes Gesetz. Ständig werden Trends gesucht und gesetzt, das Tempo ist atemberaubend, und wer stehen bleibt, fällt zurück. Nehmen Sie zum Beispiel Gin Tonic. Das war vor ein paar Jahren bloß ein Longdrink, mit dem sich gut betuchte Witwen in Straßencafés den Vorabend schön tranken. Inzwischen finden Sie Barkeeper, die erschöpfende Vorträge über die Flavours und Ingredients halten können, während sie den Schnaps über die Eiswürfel fließen lassen und mit der bitteren Limonade auffüllen. Es gibt Gin mit Koriandersamen und Kubebenpfeffer, mit Zimtrinde und Sauerampfer, mit Brennnesseln und Fichtenspitzen. Brennereien aus Bayern und von der Ostseeküste werben wie Winzer mit Kopf- und Körpernoten, als würden sie erste Lagen und große Gewächse anbieten. Dazu der Wettbewerb der Botanicals, bei dem schierer Überfluss mit bewusster Beschränkung konkurriert, was wiederum Rückschlüsse auf die Wesenszüge des Trinkers gestattet – purer Luxus oder Less is more. Und schließlich die Garnitur: Limettenzeste oder Gurkenscheibe, Grapefruit oder grüner Apfel. Von den Tonics ganz zu schweigen, die dem Gin in vollmundig beschriebenen Charakteren längst ebenbürtig sind – mit Chinarinde von argentinischen Bergen oder aus indischen Wäldern, mit Quellwasser aus den Alpen oder aus Lappland. Man kann sich mit den Highballs an einem Abend um die ganze Welt saufen, von Norwegen über Spanien bis nach Südafrika und zurück nach Japan. Aber man kann natürlich auch Urlaub vor der Haustür machen – mit Gins aus Berlin und aus Brandenburg. Wer es mondän mag, wählt die Flasche mit den Flocken aus Blattgold. Wer lieber die Schöpfung retten will, spendet mit jedem Schluck für einen guten Zweck.«
Ich wollte ihn unterbrechen, doch er ließ mich nicht zu Wort kommen. »Woher ich das alles weiß? Ich habe einen alten Freund, der sich selbst Flaschensammler nennt – auch wenn er natürlich nicht im Müll nach altem Glas stochert, sondern im Netz nach neuen Sorten sucht. Der lädt mich gelegentlich zum Tasting ein … dekadent, aber sehr lehrreich.