Omega. Jörg H. Trauboth
in der Wohnung ins Chaos stürzen. Die Ansprechperson würde angesichts der Aussage, man sei von der Polizei und der Notfallseelsorge, erstarren, schreien oder vielleicht sogar kollabieren.
Vielleicht würden beide auch einfach nur ruhig hineingebeten.
In der Wohnung würden sie nur eine Person oder auch ganz viele antreffen, vielleicht Kinder, vielleicht Kranke. Möglicherweise ständen sie in einer ordentlichen oder gänzlich verschmutzten, übel riechenden Wohnung. Oder sie würde ein multikulturelles Szenario mit sehr vielen schreienden Menschen erwarten. Wie auch immer. Sie müssten sich auf jede Situation einstellen.
Holms würde behutsam aber schnörkellos die Todesnachricht überbringen. Er würde nicht von Leiche, sondern der verstorbenen Person sprechen, so wie er es gelernt hatte. Aber – wie viele seiner Kollegen – schätzte auch er diese hochoffizielle Pflicht nicht, denn er litt regelmäßig mit, insbesondere, wenn Kinder vom Leid betroffen waren.
Einmal hatten die beiden erlebt, wie der alkoholisierte Bruder des Toten den Polizeibeamten Ganter Holms in der Überbringungsphase der Todesnachricht heftig am Hals würgte und schrie, er solle nicht so einen Unsinn reden. Holms gelang es kaum, ihn abzuwehren. Seine Hand glitt schließlich zur Waffe. Jelke half damals erfolgreich zu deeskalieren. Sie sagte nur einen Satz: »Ich weiß, wie sehr du deinen Bruder liebst.«
Der Mann hing anschließend weinend in ihren Armen. Holms beließ es dabei.
Doch meistens lief es ruhig ab. Holms würde nach der ersten Schockphase erläutern, dass der Leichnam in die Rechtsmedizin käme und in einigen Tagen mit der Freigabe des Toten zu rechnen sei. Beide würden in leere Augen blicken, die nur das eine signalisierten: »Das ist nicht wahr! Bitte, lieber Gott, lass’ es nicht wahr sein!«
Erfahrungsgemäß würde Ganter Holms bereits in der ersten halben Stunde an Jelke übergeben, seine Kontaktdaten hinterlassen und sich mit seinem aufrichtigen Beileid von den Hinterbliebenen verabschieden. Er würde sich in der Haustür noch einmal prüfend umsehen, ob seiner Kollegin irgendeine Gefahr drohen könnte.
Nun wäre sie allein auf sich gestellt und würde mit ihrer seelsorgerischen, feinfühligen Arbeit beginnen. Jelkes Seelsorge hätte gar nichts mit Kirche oder irgendeiner Religion zu tun, sondern nur mit ihrer Sorge, einer aus dem Takt geratenen Seele zu helfen. Ihr Auftrag wäre erfüllt, wenn es gelänge, das seelische Gleichgewicht ihres Gegenübers wenigstens etwas wiederherzustellen und in das Leben zurückzuführen.
Sie hatte sich oft gefragt, ob der therapeutische Ansatz, eine fremde, vollkommen erschütterte Person in wenigen Stunden zu stabilisieren, nicht vermessen sei. Doch mit einer einfühlsamen Fragetechnik nach dem SAFER-Modell gelang es ihr meistens. Sie würde im ersten Schritt Stabilisieren, im zweiten helfen, die Situation zu Akzeptieren, sodann im dritten die Erkenntnis Fördern, dass extreme Verhaltensweisen normal seien. Sie würde im vierten Schritt daran arbeiten, Bewältigungsstrategien zu Entwickeln mit dem Ziel, fünftens verlorene Selbstständigkeit Rückzugewinnen.
Doch es gab Einsätze, in denen SAFER gar nicht gelingen wollte. Jelke traute sich dann, die bewährte Methodik mutig über Bord zu werfen, um mit ihrer ganz persönlichen empathischen Art und Lebenserfahrung Ruhe ins seelische Chaos zu bringen und alles zu tun, um ein posttraumatisches Belastungssyndrom zu verhindern.
Zuweilen, wenn die Erschütterung gar nicht so groß war, fungierte sie lediglich als Expertin für die notwendigen organisatorischen Folgemaßnahmen. Auch das gab es: Sozialarbeit ohne Seelsorge.
Nach zwei oder drei Stunden würde sie die Wohnung mit all ihren nagenden Zweifeln verlassen, ob sie hinter der Tür eine wirkliche Hilfe gewesen war. Vielleicht würde man sich nicht einmal an ihren Namen erinnern. Doch wenn sie beim Verabschieden ein gutes Gefühl hatte oder sogar später eine positive Rückmeldung bei der Notfallseelsorge eintraf, wäre es wieder da, das Gefühl der Dankbarkeit, dass man Menschen am empfundenen eigenen Abgrund helfen konnte und auch das der Demut, jeden geschenkten guten Tag ohne Leid genießen zu dürfen.
Wenn die Krisenintervention jedoch die eigene Psyche überfordern würde, könnte Jelke eine Supervision in Anspruch nehmen. Das war bisher nicht nötig gewesen.
Doch dieses Mal würde es ganz anders kommen. Schlimmer, als Jelke es sich je hätte vorstellen können.
Sie rasten mit Blaulicht zum Präsidium Richtung City Nord nach Winterhude. Der Beamte auf dem Beifahrersitz sprach mit der Leitstelle. Er drehte sich kurz zu Jelke und meinte:
»So geht das schon den ganzen Tag. Aber dieser Mord an einer jungen Frau und Mutter im Park schlägt alles. Hier läuft gerade eine Großfahndung. Hoffentlich erfolgreich!«
Dabei deutete er in den Himmel auf einen Polizeihubschrauber vom Typ Eurocopter 135.
»Es gibt offensichtlich erste Hinweise. Sonst wäre der nicht in der Luft. Mit unseren Libellen erreichen wir in sieben Minuten jeden Punkt innerhalb Hamburgs.«
Jelke verzichtete darauf, Fragen zu stellen. Sie fragte sich selbst, wie viele Menschen wohl notfallseelsorgerisch in dieser Mordangelegenheit betroffen sein könnten, als die Meldung durchkam:
»Informieren Sie bitte die Notfallseelsorgerin Frau Jelke Lorberg. Wir versuchen, weitere Unterstützung zu bekommen!«
Der Wachhabende im Eingang des Präsidiums winkte Jelke kurz zu, man kannte sich, sie wurde erwartet. Die Türen öffneten sich, und Jelke eilte zum Büro von Kriminalhauptkommissar Ganter Holms.
Der große, graubärtige, gepflegte Mann begrüßte sie – sichtbar erleichtert über ihr schnelles Eintreffen.
Er mochte diese mittelgroße Frau mit dem blonden, gelockten und halblangen Haar über ihrer lilafarbenen Einsatzjacke und ihrer ruhigen und bestimmten professionellen Art. Sie ging ihm gerade bis zur Schulter, und trotzdem waren sie beide auf Augenhöhe bei ihrer gemeinsamen Arbeit.
Holms, Anfang fünfzig, war seit einigen Jahren Witwer und Jelke mit ihren gut dreißig Jahren immer noch Single. Er hatte einmal kurz überlegt, ob er sie nicht einmal privat zum Essen einladen sollte. Aber gleichzeitig fürchtete er, dass damit ihre Beziehung belastet werden könnte. Sie galten im Präsidium als psychosoziales Dream-Team für schwierige Fälle. Doch Jelke faszinierte ihn. Er war mit dem Thema noch nicht durch.
»Hallo Jelke, du hast es vielleicht schon gehört, in Blankenese wurde vor etwa einer Stunde eine junge Frau in der Nähe ihres Hauses bestialisch ermordet.«
Dabei zeigte er auf ein Foto auf seinem Schreibtisch.
»In ihrem Kinderwagen fehlt das Kind. Wir wissen, wer die Frau ist, und wir haben eine Videoaufzeichnung vom möglichen Attentäter. Bisher haben wir es nicht geschafft, den Ehemann zu erreichen. Deswegen fahren wir jetzt direkt zum Wohnhaus, bevor er es durch die Medien erfährt.«
Holms wollte sich gerade seine Schirmmütze greifen, als Jelke sich das Polizeifoto genauer ansah. Sie nahm es in die Hand, erschrak, schnappte nach Luft, wollte reden. Doch aus ihrem Hals kam nur ein leises Stöhnen.
Holms sah sie besorgt an und dann auf den blutdurchtränkten Kopf der Toten.
»Das solltest du dir besser nicht antun.«
Jelke wankte. Sie war jetzt kreidebleich. Holms sah, dass sie Gefahr lief, zusammenzubrechen. Er drückte sie sanft aber bestimmt auf den Stuhl.
Jelke versuchte wiederum, etwas zu sagen. Aber sie stammelte nur: »Ich kenne sie, sie ist, mein Gott, sie ist …«
Holms sah sich um.
Der nächste Wasserhahn befand sich am Ende des Flures. Er öffnete seine geliebte, etwas speckige Ledertasche, in der er wie immer eine Thermoskanne mit Tee in den Dienst brachte, und führte einen gefüllten Becher an ihren Mund.
»Beruhig’ dich, Jelke. Was meinst du? Du kennst sie?«
Jelke schaute zu ihm hoch. Ihre Augen waren voller