Omega. Jörg H. Trauboth

Omega - Jörg H. Trauboth


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Auch das noch! Dann bist du draußen, Jelke! Sieht so aus, als bräuchtest du selbst Beistand.«

      Er überlegte, wen er schnell heranrufen könnte, doch zunächst unterbrach er diese Gedanken.

      »Wie heißt das Kind?«

      Jelke riss sich zusammen.

      »Pia, sie heißt Pia, mein Gott …«

      »Pia Anderson, richtig?«

      »Ja, die Tochter von Karina Marie und Marc.«

      »Wie alt ist dein Patenkind Pia?«

      »Acht Monate«, stammelte sie, »wisst ihr, wo das Kind ist?« »Nein, Jelke, das wissen wir nicht. Hast du ein Bild von Pia?« Sie wischte sich durch ihre nassen Augen, scrollte durch ihre Bildergalerie, während Ganter ihr über die Schulter schaute. Jelke, so schlecht es ihr gerade auch ging, war in dieser Phase ein unerwartetes Geschenk für die Ermittler.

      Er zeigte auf ihr Handy: »Die beiden Bilder, Jelke, schick’ sie mir bitte auf mein Smartphone!«

      Er eilte zu seinem Computer. Wenig später waren die Fotos von Pia Anderson im Netz des Polizeipräsidiums.

      Jelke hatte das Gefühl, hilfreich sein zu können. Es tat ihr in diesen schrecklichen Minuten gut.

      Er kam wieder zu ihr herüber. Sie schien etwas gefasster zu sein.

      Behutsam legte er seine Hand auf ihre Schulter.

      »Geht es etwas besser?«

      »Danke, Ganter, ich muss das wohl durchstehen. Es ist eben einfach nur entsetzlich und unbegreiflich.«

      »Hast du eventuell die Handynummer vom Vater des Kindes? Sein Büro ist nicht besetzt, seine mobile Nummer wird gerade aufgeklärt, aber so ginge es schneller.«

      »Ist mir klar, Ganter«, sagte sie leise, immer noch unter dem Eindruck des katastrophalen Ereignisses, »es gibt nur ganz wenige Menschen, die seine Nummer kennen. Seit seinem Coup vor einem Jahr ist er auf Tauchstation.«

      »Ich erinnere mich vage«, meinte Holms.

      Durch die Tür eilte ein Kollege herein: »Unterlagen zu eurem Fall!«

      Holms blätterte kurz durch und strich zufrieden durch seinen Bart.

      »Ich denke, Jelke, das ist er … schau’ hier.«

      Jelke sah das Foto auf einem Personendatenblatt und nickte. »Ja, das ist Marc. Mein Gott, wir müssen sofort zu ihm!«

      »Meinst du wirklich, dass du das schaffst? Notfallseelsorgerin für den Mann deiner ermordeten Freundin?«

      Er hoffte insgeheim, dass sie sich das zutraute, zumal es schwierig sein dürfte, auf die Schnelle einen geeigneten Ersatz für sie zu bekommen. Da wäre noch Daniela Becker-Dubois, eine Psychotherapeutin, die eng mit dem Landeskriminalamt zusammenarbeitete. Aber die war für heute abgemeldet.

      Jelke schloss einen kurzen Augenblick die Augen. Sie hatte gelernt, sich durch Atmung und Konzentration herunterzubringen. Was für eine Tragödie! Ihre Freundin ermordet, das Kind verschwunden, der Vater vermutlich unvorbereitet. Welche Krisenintervention würde für ihn die beste sein? Eine fremde Person, die ihn bei der Überbringung der Todesnachricht psychologisch auffängt? Oder eine vertraute Person, die die Familie durch und durch kennt?

      Wahrscheinlich die letztere Option. Falls er damit einverstanden wäre, müsste sie sich zusammenreißen, um die seelsorgerische Professionalität nicht mit der privaten Beziehung zu vermengen. Sie fragte sich, ob sie das schaffen würde, nicht nur in den ersten Stunden, sondern auch in der Folgezeit.

      Sie schaute Holms fest und bestimmt an. »Ich werde Marc Anderson zur Seite stehen, wenn er das möchte. Ich bin bereit!«

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      Marc war auf dem Weg vom Marinestützpunkt Eckernförde zurück nach Hamburg. Es waren anstrengende zwei Tage bei den Kampfschwimmern der Marine gewesen. Wochenlang war an dem Szenario gefeilt worden, und dann war alles schiefgegangen. Er hatte mit seinem Team, der Maritime Security Services (MSS), seinen Auftrag nicht erfüllt. Allerdings hatten sich die Kampfschwimmer aus Eckernförde etwas einfallen lassen, womit nun wirklich nicht zu rechnen gewesen war.

      Marcs Männer waren – so das Übungsszenario – im Rahmen der Feinddarstellung in die Rolle von Piraten geschlüpft. Mit modernster Waffentechnik ausgestattet, hatten sie ein Schiff geentert und dessen Besatzung in ihre Gewalt genommen. Nun liefen die Lösegeldverhandlungen mit der Reederei. Die Aufgabe der Piraten war es, das Schiff gegen Befreier zu verteidigen, wobei nicht klar war, ob die Angreifer wasserseitig oder aus der Luft kommen würden.

      Marc hatte mit Tom, Hermy, Ale, Thunder und Mike, alles ehemalige Elitesoldaten, jede denkbare Option durchgespielt. Sie rechneten mit einer Annäherung von Hubschraubern und einem Abseilen aus der Luft, mit einer Annäherung über oder unter Wasser, vielleicht sogar mit einem Unterwasser-Scooter abgesetzt aus einem U-Boot.

      Die Marine hatte sich viel vorgenommen, denn der Respekt vor den zivilen Kollegen war enorm. Schließlich hatte Marcs Team in einer waghalsigen Aktion die Passagiere der Luxusyacht SUNDOWNER befreit, auf der seine schwangere Frau, die Hotelmanagerin Karina Marie, und die Familie des US-Präsidenten George F. Summerhill von Terroristen gefangen gehalten wurden. Die Kaperung wurde nicht zuletzt durch das Eingreifen von Navy SEALs ein voller Erfolg. Das deutsche Team wurde vom US-Präsidenten im Weißen Haus ausgezeichnet, und obwohl Marc jeden Pressekontakt ausgeschlagen hatte, konnte nicht verhindert werden, dass über ihn und Karina Marie über Wochen berichtet wurde.

      Bei einem großen Streaming-Dienst wurde überlegt, über den inzwischen legendären Marc Anderson eine Serie zu drehen. Zwei Staffeln waren praktisch gewährleistet, denn vor dem spektakulären Entern der SUNDOWNER hatte er Karina Marie, damals Lebensgefährtin eines deutschen Unternehmers, bereits ebenfalls einmal befreit und dabei lieben gelernt. Action, Liebe und Politik könnte man gut vermarkten, einschließlich der Geburt des Babys Pia, so die Einschätzung der Manager. Doch Marc hatte abgelehnt. Sein Erfolg lag auch in der professionellen Diskretion seines Sicherheitsunternehmens begründet.

      Der Tag auf dem Übungsschiff in der Rolle der Piraten verging, ohne dass etwas geschah. Offensichtlich spielte die Gegenseite mit der Zeit. Also Sichern nach allen Seiten, Wasseroberfläche prüfen, auf Geräusche achten. Es blieb still.

      Eine stockfinstere Nacht bei bewegter See brach ein. Kein Problem mit den Nachtsichtgeräten, nur anstrengender, vor allem nach fünfzehn Stunden Wache ohne Pause. Marc stand auf der Brücke, hinter ihm der Übungsleiter mit dem Clipboard in der Hand, als die Meldung von Tom kam: »Taucher Backboard, Entfernung fünfzig!«

      Marc sah die Köpfe unter ihren Tauchermasken in den Wellen hoch- und hinunterschaukeln. Er schaute genauer, es waren mindestens vier.

      Wie vorher eingeübt, feuerten Marc, Ale und Thunder, das ALPHA 1-Team, gezielt über das elektronische Erfassungssystem auf die wippenden Köpfe. ALPHA 2 – Mike, Hermy und Tom – teilten sich auf und sicherten die anderen Seiten des Schiffes. Doch merkwürdigerweise zeigte die elektronische Zielerfassung nicht einen einzigen Treffer. Ale setzte das Fadenkreuz noch einmal genau auf einen Kopf in den Wellen. Schuss!

      Keine Trefferbestätigung.

      Inzwischen waren die Angreifer fast am Schiff.

      Plötzlich erkannte Marc, was hier geschah. Unter den Taucher-Köpfen war überhaupt kein Körper. Aber eine Leine, und die wurde von je einem kleinen Scooter zum Schiff dirigiert. Er wollte gerade an sein Team den Befehl zur Neupositionierung durchgeben, als sehr lebendige und martialisch aussehende Kampfschwimmer in die Brücke eindrangen, zusammen mit dem überwältigten ALPHA 2-Team, während unten an Backboard die Dummys dümpelten und an Bord gezogen wurden.

      Marc nahm resignierend die Hände hoch.

      »Übungsende!«, befahl der Leitungsoffizier und griente Marc an. Marc lachte anerkennend zurück. Die Männer der Maritime Security Services waren mit einem einfachen Trick reingelegt worden.


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