Omega. Jörg H. Trauboth
überkam ihn. »Entschuldige, Jelke. Es ist zu viel. Ich weiß nicht, wie ich das klar kriegen soll.«
»Soll ich dir etwas zu essen machen?«
»Danke, nein. Wir gehen nachher zum Tatort, wenn die Meute weg ist.«
»Ich mach’ dir trotzdem ein Brot. Du entscheidest, ob du es möchtest. Darf ich an den Kühlschrank gehen?«
Er antwortete nicht. Es war ihm vollkommen gleichgültig.
Sie saßen sich gegenüber. Er bekam keinen Bissen herunter, vergrub seinen Kopf in den Händen, versuchte sich zu konzentrieren. Es war nicht möglich. Sein Gehirn war wie abgestellt. Dann rasten die Gedanken wieder wie wild, überschlugen sich.
Er rannte zur Toilette. Jelke hörte, wie er sich erbrach.
Er kam zurück, sah sie verweint an. »Jelke, sag’, dass es nicht wahr ist. Das ist alles ein furchtbarer Irrtum. Marie ist mit Pia bei ihren Eltern. Sie ist bei den Eltern, ganz bestimmt.«
Sie kam zu ihm, schaute ihn so fest und eindringlich an, wie es ihr möglich war.
»Nein, Marc, Karina Marie ist tot. Ich bete, dass Pia lebt und ihr nichts geschieht.«
Er beugte sich zu ihr herunter. Sie ließ ihn an ihrer Schulter weinen.
Nach einer Weile sagte er fast flüsternd: »Wir müssen ihre Eltern benachrichtigen.«
Marc hatte selbst die Jokerfrage in der Erstberatung initiiert. Benachrichtigung von Angehörigen oder Freunden bedeutete Handeln. Wer benachrichtigte, war gleichgültig, Hauptsache, die Notwendigkeit war bewusst geworden. Es war der erste kleine Schritt zurück in die Welt da draußen.
»Ein Kollege ist bereits bei ihnen«, erwiderte sie.
»Das ist gut, danke, Jelke, danke, ich könnte das jetzt nicht. Mein Gott, ihre Mutter ist dement und der Mann schwer herzkrank.«
»Das ist ein wichtiger Hinweis, Marc. Ich werde das durchgeben. Ist sonst noch jemand zu informieren? Das muss nicht jetzt sein.«
»Sie hat sonst niemanden mehr. Ich auch nicht.«
Es klingelte an der Haustür.
Jelke war darauf eingestellt, Medien abzuweisen. Sie schaute durch das seitliche Fenster.
Draußen standen Tom, Ale, Thunder, Hermy und Mike.
»Marc, dein Team möchte dich besuchen, ist das okay für dich?«
Er nickte.
Marc stand auf und blickte seine Brüder so abwesend an, wie sie ihn noch nie erlebt hatten. Weder im Kampf, noch im Training, weder im Gespräch noch in vertrauter Runde. Dieser Mann hatte ganz offensichtlich seinen Kompass verloren.
Einer nach dem anderen kam zu ihm, fast wie aufgereiht. Der Hüne Tom, Marcs Weggefährte von Anfang an, legte die Hand auf Marcs Schultern. Sie sahen sich an. Es gab nichts zu sagen.
Der Berliner Ale heulte. »Mann Alter, so ’ne Scheiße.« Beinahe wäre ihm sein Standardspruch über die Lippen gegangen: »Det kriegen wir hin.«
Thunder stieß ihm rechtzeitig in die Seite und legte seinerseits den Kopf an Marcs Stirn. Dann heulte auch er.
Hermy nahm Marc in den Arm. Er streichelte ihn liebevoll.
Mike konnte mit der Situation am wenigsten umgehen. Er ging durch das Zimmer … auf und ab. Dann wollte er Marc einen Faustcheck geben, er war völlig durch den Wind. Marc blickte hinter ihm her. Jelke glaubte für einen winzigen Moment, in Marcs Augen ein sanftes Lächeln gesehen zu haben. Aber es war wohl ein Irrtum.
»Entschuldigt mich, ich muss unter die Dusche«, sagte Marc, »in der Küche steht Bier.«
Die fünf hockten mit der Notfallseelsorgerin um den Couchtisch herum. Sie hatte Tom angerufen, der sofort die anderen alarmiert hatte. Alle machten umgehend auf dem Weg vom Stützpunkt nach Hause kehrt. Sie wollten nur eines, Marc zur Seite stehen, wussten jetzt aber nicht, wie man das macht. Sie hatten bei ihm alles gelernt, um siegreich zu überleben, aber nicht, wie man mit der Trauer eines Marc Anderson umgeht.
Jelke wies sie in die Geschehnisse ein. Als sie den Namen »Ali Naz« aussprach, war es vollkommen still im Raum. Keiner brauchte weiter zu fragen. Sie wussten, das ging sie alle an. »Was machen wir jetzt?«, fragte Thunder.
»Ich denke«, meinte Jelke, »er möchte nachher für sich sein, wir sollten ihn fragen.«
Marc kam herunter. Er war barfuß, seine Haare waren nass, sein Gesicht wie zerstört. Er trug eine Trainingshose und ein T-Shirt, das er im Schrank zufällig zu fassen bekommen hatte. Es war mit einem großen griechischen »O« bedruckt.
Weder er noch seine fünf Brüder dachten sich etwas dabei, außer Jelke, die die christliche Bedeutung von Alpha und Omega kannte. Sie sagte nichts dazu.
Sie rückten für ihn zur Seite, aber er hockte sich abseits auf den Fußboden an die Wand.
»Möchtest du auch ein Bier?«, fragte Ale. Er verneinte.
Seit der Überbringung der Todesnachricht waren keine drei Stunden vergangen, aber es kam Marc vor wie eine Ewigkeit.
Tom war an die Bücherwand gegangen, direkt auf das Porträtfoto von Karina Marie zu. Jelke sah das. Tom wollte Abschied nehmen. Sie fragte vorsichtig zu Marc herüber: »Ist das okay, wenn wir sie in unsere Mitte nehmen?«
Marc nickte.
Sie stand da als Schwarz-Weiß-Foto, lachend mit Pia auf dem Arm, als sie gerade vier Wochen alt war.
»Ich habe eine Kerze dabei, auch okay?«, fragte sie.
Marc überlegte, dann nickte er wieder.
Jelke hatte ein Ritual begonnen. Sie fragte aber nicht weiter, zum Beispiel, ob man gemeinsam beten wolle. Im Gegensatz zu Karina Marie war Marc nicht gläubig. Die Kirche war ihm so fremd, wie die Vorstellung an einen Gott.
Die Männer schwiegen. Tom hätte gern laut ein Gebet gesprochen, aber er traute sich nicht. So saßen sie vor der Kerze und blieben jeder für sich.
Sie hatten den Lebensweg der beiden in entscheidenden Phasen miterlebt. Am längsten Tom, der mit Marc zusammen Karina Marie an der Küste Algeriens aus den Händen des damaligen Islamischen Staates befreit hatte. Alle waren bei der Hochzeit der beiden in der weißgeschmückten evangelischen Kirche in Blankenese dabei gewesen, wo Karina Marie bereits getauft worden war. Sie hatten Spalier gestanden. Sie waren auch in derselben Kirche zur Taufe von Pia erschienen.
Mike erinnerte sich, wie sie sich vor Karina Maries Befreiung von der SUNDOWNER im Wasser in den Arm genommen und skandiert hatten: »Einer für alle, alle für eine, für Karina Marie!« Mike musste innerlich schmunzeln. Er hatte bei dem Wort alle damals einen Schwall Meerwasser geschluckt.
Sie waren so oft mit dem Tod konfrontiert. Aber es betraf immer die anderen.
Marcs Kopf sank herunter. Nach einer Weile raffte er sich auf, ging zur Kerze und drückte sie aus. Wohl, weil er das Treffen beenden wollte. Aber es war vielleicht mehr. Nur Jelke wusste um die wichtige Bedeutung, wenn ein Trauernder das Licht auslöscht.
»Ich muss in die Falle. Es wäre schön, wenn ihr mir die Medien draußen vom Halse haltet. Und Jelke, könntest du heute im Haus bleiben? Das Bett im Gästezimmer hat Marie bezogen.«
Er hatte kaum den Namen ausgesprochen, da drohte er wieder wegzusacken. Tom sprang auf ihn zu und führte ihn die Treppe hoch. Marc nahm es dankbar an.
ALPHA 1 sicherte in dieser ersten Nachthälfte das Gebäude, dann übernahm ALPHA 2. Am nächsten Morgen würden sie sich bei Jelke kurz abmelden. Jelke meldete ihrerseits den Einsatz bei der Notfallseelsorge als beendet, holte ihr Nachtzeug aus ihrer Wohnung und kam nur wenig später zurück. Sie sah, dass die Tatortreiniger die Straße wieder gesäubert hatten, nur die Reste einer Kreidestrichzeichnung waren noch zu sehen. Es war gut, dass Marc das nicht mehr wahrnehmen musste.
Jelke saß allein