Drei Brüder. Jörg H. Trauboth
können oft schneller und effektiver therapieren als monatelange Supervisionen durch einen Psychiater eines Bundeswehr-Krankenhauses. Trotzdem sind seine »Rennpferde«, wie er sie gern nennt, oft nach zehn Jahren im Einsatz ausgebrannt.
Diese Männer aber sind noch lange nicht soweit. Sie brennen für den Einsatz im Nordirak, sie wollen unbedingt die beiden Geiseln herausholen. Auch wissend, dass sich eine derartige Aufgabe nicht oft bietet.
Während Hauptmann Anderson das Briefing hält, sieht Wolf sich den Dritten im Bunde an.
Sie suchten einen Häuserkampfspezialisten, der ein Objekt perfekt einnimmt, der stehend, aus der Drehung und im Sprung einhundertprozentig trifft, und dabei stets den Überblick bewahrt.
»Genau die Voraussetzungen, Herr General, die Feldwebel Tim Nader wie auf den Leib geschnitten sind!«, sagte der Psychologe.
Niemand würde in dem kleinen drahtigen Mann mit seinem Zauselbart und den ernsten Augen einen begnadeten Einzelkämpfer vermuten, der alle klassischen Disziplinen des KSK meisterhaft beherrscht. In der Graf-Zeppelin-Kaserne ist es Tim, der die alle zwölf Monate durchgeführten Stresstests seit Jahren traditionell als Bester besteht, ein guter Teamplayer aber kein Führungstyp.
»Wie kam er eigentlich zu uns?«, fragte Wolf den Psychologen.
»Marc Anderson und er kannten sich von der Schule in Hamburg und spielten gemeinsam in einer American-Football-Mannschaft. Marc brachte ihn nach Calw. Der sprachliche und der psychologische Dienst, mich eingeschlossen, überschlugen sich vor Begeisterung. Tim machte sich in der Kommandokompanie als Top-Mann rasant einen Namen. Marc, Tim und Thomas wurden schnell Freunde.« Doch Wolf war noch nicht zufrieden.
»Warum will der hochintelligente, sprachgewandte Kerl, der verschiedene arabische Dialekte, Englisch und Französisch spricht, nicht Karriere im Geschäft seines Vaters, der Hamburger Tee-Firma, machen und sich bei uns schinden?«
»Richtig, Nader hätte das nicht nötig. Er könnte in seiner reichen, muslimischen Familie leicht Karriere machen. Aber er sucht eine Anerkennung, die er im Geschäft offensichtlich nicht findet. Eine Anerkennung nicht durch andere, sondern bei sich selbst, und das mit großem Ehrgeiz, zum Teil mit Verbissenheit. Die Spezialkräfte sind für ihn das perfekte Betätigungsfeld. Hier kann er wachsen wie nirgendwo! Aber er ist trotzdem auf der Suche. Sein Freund Heinrich ist im KSK angekommen, und ihm ist das genug. Aber Naders weiteres Lebensziel dürfte langfristig außerhalb der Spezialkräfte liegen. Ich höre, er studiert parallel. Irgendwann wird er uns verlassen. Aber bis dahin können wir immens von seinen Fähigkeiten profitieren, einschließlich seiner Zugehörigkeit zum Islam und seinen Studien über eine Welt, die den meisten von uns fremd ist.«
»Gott sei Dank«, sagte Wolf, »denn er macht für den BND im arabischen Raum hervorragende Arbeit hinter den Linien. Er ist seine eigene Fernspähkompanie!«
Wolf ist stolz auf seinen Zögling. Tim Nader ist ein Juwel der besonderen Art beim KSK. Zunächst stand man bei der Eignungsüberprüfung dem Deutsch-Libanesen kritisch gegenüber. Ein Moslem im KSK war ein absolutes Novum. Die intensive Sicherheitsüberprüfung bei der Bewerbung ergab allerdings überhaupt keine Beanstandungen. Die Familie, das Umfeld, der Bewerber – alles völlig sauber.
Wolf hatte daraufhin einen genialen Einfall. Er erkannte schnell, dass Tim aufgrund seiner unschätzbaren, persönlichen Erfahrungen der arabischen Kultur, des Islams und des Korans ein idealer Späher sein könnte. In Absprache mit dem BND bekam Tim nach Beendigung seiner Ausbildung im KSK eine Spezialausbildung als verdeckter Ermittler hinter den Linien. Dafür brauchte er ein entsprechendes Aussehen. Er ließ sich in Abstimmung mit der Führung einen Backen- und Zauselbart wachsen. Zur Freude seiner KSK-Kameraden spielte Tim den Islamisten. Bald hieß er in der Kompanie nur noch »der Imam«. Tims Gebete auf dem Teppich wurden Alltag, und wenn er ein Gebet ausließ, zeigten seine Brüder schon einmal strafend auf die Uhr.
»Ich erbitte mir mehr Respekt, ihr Gottlosen!«
Anschließend tranken sie gemeinsam das Calwer Kult No. 1 Vollbier.
»Prost, Freunde!«, sagte Tim.
Ein Unding für einen Moslem.
Einmal, vor ein, zwei Jahren, nach dem Gebet, setzte sich Thomas zu seinem Freund Tim auf den Boden und fragte ihn: »Warum glaubst du eigentlich an Mohammed, Tim, und nicht an Gottes Sohn Jesus?«
»Jesus ist nicht Gottes Sohn. Er ist ein Prophet, wie Mohammed.«
»Das ist doch Blödsinn. Was glaubst du, wer an den Millionen Kreuzen in den Kirchen hängt? Jesus, Gottes Sohn, natürlich!«
»Gott braucht keinen Sohn«, fuhr Tim ihm dazwischen, »er schafft das allein! Ein Prophet hat lediglich den Job, die zentrale Dienstvorschrift unter das Volk zu bringen. Bei dir ist es die Bibel, bei mir der Koran. Mohammed und Jesus sind Kollegen auf Augenhöhe und dienen einem Gott, und der heißt Allah! Verstehst du das endlich, Trooper?«
»Das ist deine Auslegung von Gott, und sie ist verdammt intolerant!«
Doch Imam Tim ließ nicht locker. Es musste doch möglich sein, den Christen Thomas irgendwann einmal für den Islam zu gewinnen.
»Warst du schon mal in Istanbul?«, fragt er Thomas.
»Ja. Was kommt jetzt?«
»Auch in der Hagia Sophia?«
»Nein, die Besucherschlange davor war zu lang.«
»Geh‘ nächstes Mal rein! Da wirst du Jesus und Mohammed als Propheten an den Säulen dargestellt sehen, und das in der Krönungskirche der byzantinischen Kaiser!«
»Imam, vergiss es, du wirst mich nicht bekehren. Vorschlag: Ich lasse dir deinen Mohammed und du lässt mir meinen Jesus, sollen die beiden sich im Paradies einigen! Außerdem bin ich müde!«
Tim realisierte, dass Thomas den Kern des Islams überhaupt nicht verstanden hatte. Er gab Thomas eine intensive Einweisung in den Koran, über die diesem allerdings die Augen zufielen.
Als er das erkannte, deckte er seinen Bruder liebevoll mit seinem Gebetsteppich zu, und beide schliefen auf dem Zimmerboden nebeneinander ein.
Die Eagles verlassen den Briefing-Raum. Es ist Nacht, wie zum geplanten Angriffszeitpunkt. Ein Haus auf dem Infanterie-Übungsplatz ist so vorbereitet, dass es aussieht, wie das tatsächliche Objekt. Mit einer Temperatur von vier Grad und dem beißenden Wind ist es nicht gerade warm. Doch am Einsatzort in Kalak Chyah wird es nicht viel anders sein.
Marc schaut auf seine beiden Brüder. »Das Ganze wird jetzt geübt: Anflug, Abseilen, Befreiung der Geiseln und Abflug. Ich möchte, dass jeder sich praktisch blind im erwarteten Gelände auskennt. Wir werden alles mitnehmen: Pistolen, Maschinenpistolen, Sturmgewehre mit Granatwaffen und die bekannten Weihnachtsüberraschungen für böse Buben in unseren Westen. Die beiden Wachen müssen wir noch aus der Luft ausschalten. Sollten wir das nicht schaffen oder weitere Tangos antreffen, dann nehmen wir die Hand- und Blendgranaten.«
Um zwei Uhr nachts, bei sternenklarer Nacht, schweben die beiden Hubschrauber vor dem Objekt im Übungsgelände von Hammelburg ein. Zwei als Araber verkleidete Männer vor dem Gebäude eröffnen das Feuer und werden von Tim und Thomas noch aus der Luft mit gezielten Schüssen niedergestreckt. In Sekundenschnelle seilen sich drei Männer ohne jegliche Sicherung ab. Beide Hubschrauber stehen mit laufenden Rotoren an genau der richtigen Position in Feuerbereitschaft. Marc und Tim stürmen die untere Etage. Vor ihnen die beiden Schauspieler-Geiseln. Sie starren die Befreier angsterfüllt an.
»Auf den Boden! Seid ihr allein?«
Die beiden Geiseln nicken hektisch, kommen nicht vom Boden weg, sie sind an der Wand an einen Eisenring gekettet. Tim schießt mit einer gezielten Salve die Ketten auf. Draußen wissen die Eagles dank perfekter Kommunikation zu jeder Zeit, was innerhalb des Gebäudes passiert. Marc und Tim verlassen mit beiden Geiseln das Gebäude. Außerhalb ist alles ruhig. Die Gefangenen können kaum gehen, werden gestützt. Marc gibt das Okay-Zeichen. Aufbruch.
Um genau 02:04:33 Uhr sitzen die Geiseln im Eagle Alpha. Beide Hubschrauber erheben sich ohne jede Beleuchtung