Drei Brüder. Jörg H. Trauboth
Sie denn vor, die Operation zu starten?«
»Am ersten Weihnachtstag. Zeit über dem Ziel zwei Uhr nachts Irak-Zeit. Also Mitternacht unserer Zeit. Bis zum 23. Dezember hätten wir auf dem Flugplatz Diyarbakir in der Nähe der türkisch-irakischen Grenze alles fertig, wenn wir heute loslegen.«
Die Runde spürt, dass man angesichts des Ultimatums und des Vorbereitungsdrucks vor einer Go-No-Go-Entscheidung steht.
»Sind wir sicher, dass die Geiseln beim Zugriff vor Ort sind?«, fragt die Kanzlerin.
»Wir werden das vorher noch einmal verifizieren.«
Henriette analysiert die Situation: Die Geiseln in Lebensgefahr, Verhandeln nicht möglich, Lösegeldzahlung keine Option, militärische Spezialkräfte einsatzbereit, die Chancen für eine Rettungsaktion hoch, rechtlich vertretbar. Habe ich eine sinnvolle Alternative, die dem Ziel der Rettung gerecht wird? Nein.
»Sie haben doch immer Decknamen, Herr Wolf. Wie soll denn Ihre Operation heißen?
»Operation Eagle.«
»Warum Eagle?«
»Unsere Kräfte kommen wie ein Adler blitzartig aus der Luft, greifen sich die Geiseln und sind wieder weg. Wir rechnen mit drei bis fünf Minuten. Dann ist der Spuk vorbei und wir sind mit den beiden Geiseln wieder auf dem Heimflug.«
»Und das klappt wie bei der Navy Seals-Operation gegen Bin Laden in Pakistan?«
»Jede Situation ist anders, Frau Bundeskanzlerin, wir haben alle Optionen gedanklich durchgespielt. Meine Männer werden in der Lage eigenständig entscheiden. Selbst ich habe in der Phase des Zugriffs keine Einwirkungsmöglichkeiten mehr. Es wird alles rasend schnell gehen, keineswegs einfach, aber es ist machbar.«
Henriette denkt noch einmal nach. Worauf werde ich mich hier einlassen? Kann ich den Informationen vertrauen? Was sagt mein Bauch?
Der Brigadegeneral Spezialkräfte spürt die Zweifel der Kanzlerin. Er führt ein Kommando, das weltweit zu den besten dieser Art gehört, und ist völlig überzeugt, dass diese Geiselbefreiung eine klassische Aufgabe für seine Elitesoldaten ist. Mit hoher Aussicht auf Erfolg. Es gab schon gefährlichere Szenarien.
»Das Ziel meines Kommandos ist es, die beiden Deutschen, Helmut Weier und Josef Fischer, und unsere Männer in einer perfekt geplanten Überraschungssituation unbeschadet zurückzubringen. Unser Plan ist die einzige und letzte Chance für die Geiseln. Wir setzen modernste Technik und Aufklärung ein und gehen von der Vorbereitung bis zur Durchführung mit höchster Präzision vor. Wir sind sicher, dass wir das stemmen. Failure is not an option, Frau Bundeskanzlerin!«
Rudi grinst innerlich. Hier steht ein Apollo 13-Kollege. Die Lagebeurteilung ist durch die Dynamik der Kanzlerin zwar etwas anders gelaufen als geplant, aber sie war umfassend und folgerichtig. Bis zum fundierten Entschluss, und der steht kurz bevor. Der Brigadegeneral hat das Ding wirklich perfekt gedreht.
Henriette schaut sich um.
»Meine Herren, irgendwelche Kommentare oder Einwände?« Die drei anwesenden Minister nicken zustimmend. Keine Einwände.
»Die langfristige Wettervorhersage ist gut, Frau Bundeskanzlerin«, sagt Bloedorn.
»Ihr Wort in Gottes Gehörgang, Herr …«, sie schaut auf sein Namensschild, »Herr Bloedorn.«
Rudi grinst in seine Hand hinein.
»Frau Bundeskanzlerin«, sagt Harry Busch, »es gibt einen taktischen Vorschlag.«
»Welchen?«
»Anders als eben besprochen: Geben wir dem IS doch ein Signal, dass wir zu politischen Verhandlungen bereit sind, aber mehr Zeit brauchen. Bieten wir an, dass wir mit dem Irak und Syrien über eine Kontaktaufnahme mit dem IS reden wollen. Das könnte vor Ort die Lage für die Geiseln entschärfen. Natürlich ist das ein Scheinangebot. Und die Verbündeten werden soweit möglich vorab informiert.« Henriette schaut zu den Ministern. Man nickt zustimmend. Auch der Außenminister, der zuvor noch anderer Auffassung war.
»Einverstanden, fädeln Sie das ein.«
Henriette betritt wieder einmal Neuland in ihrem Amt. Aber diesmal lastet die Verantwortung schwer. Sie fühlt sich, als hätte sie nach dem festgestellten Eintritt des Verteidigungsfalles jetzt als oberster Dienstherr die Befehls- und Kommandogewalt inne. Und irgendwie ist es ja auch so in dieser Lage. Sie muss das Leben von zwei deutschen Geiseln schützen. Das geht nur militärisch.
Die Bundeskanzlerin holt tief Luft. Dann spricht sie langsam und bestimmt:
»Befehl für die Operation Eagle ist erteilt! Ich werde mir heute noch die politische Genehmigung aus der Türkei einholen. Sie, Herr General Wolf, sind mir für die Vorbereitung und Durchführung persönlich verantwortlich. Sollten sich inakzeptable Unsicherheiten ergeben, blasen wir ab! Wann ist dafür der letztmögliche Zeitpunkt?«
»Bis eine Minute vor der Landung am Objekt, also 25. Dezember, 01:59 Uhr. Bis dahin kann ich noch einen Rückzug befehlen.«
»Können wir die Operation über Video in das Lagezentrum übertragen?«
Die Teilnehmer der Lage sind verblüfft. Eine Videoübertragung von einem Einsatz deutscher Spezialkräfte auf dem Territorium eines anderen Staates, das ist Neuland im Krisenkeller.
»Das kriegen wir hin, auch nachts um zwei Uhr. Die Bilder werden grün sein, aber erkennbar«, bestätigt Wolf. Er hat das für sich bereits mehrmals praktiziert, warum soll es nicht auch mit Schaltung nach Berlin funktionieren. Seine Leute brauchen dafür nur einen sicheren Datenweg.
»… und wir werden dafür sorgen, dass die Bilder hier ankommen, Frau Bundeskanzlerin«, ergänzt geflissentlich Bloedorn.
»Gut, meine Herren, sofern nichts dazwischen kommt, sehen wir uns hier im kleinen Kreis am 24. Dezember, 23:30 Uhr, wieder. Ich weiß, was ich Ihnen hier zumute. Doch ich meine, dass wir unsere Elitesoldaten Heiligabend und über die Weihnachtstage nicht allein lassen sollten. Wenn jemand nicht hier sein kann, habe ich dafür volles Verständnis. Sprachregelung nach außen weiterhin: Die Bundesregierung ist in ihrer Politik nicht erpressbar. Ich danke Ihnen für die hervorragende Unterrichtung. Viel Glück bei der Vorbereitung!«
19:00 Uhr. Die Sitzung ist beendet. Rudi geht sofort in sein Zimmer, er hat eine schwierige seelsorgerische Mission vor sich. Er muss mit den Ehefrauen der Geiseln reden, so reden, dass nichts verraten wird, aber sie dennoch beruhigt sind. Die Quadratur des Kreises.
Bevor die Bundeskanzlerin abfährt, winkt sie den Verteidigungsminister zu sich.
»Wirst du das schaffen, Paul?«
»Wir kriegen das hin, Henriette. Es gibt bei diesen Aktionen keine Garantien. Du weißt das, aber wir sind zuversichtlich, dass wir die beiden Geiseln rausbekommen!«
»Ich hoffe das, sonst Gnade dir Gott. Dann bis nachher. Ich versuche 20:00 Uhr.«
»Bis nachher.«
Als der gepanzerte schwarze Audi A8 mit der Bundeskanzlerin auf dem Rücksitz auf das kleine Hexenhaus mit Walmdach und Butzenscheiben in Berlin-Dahlem zurollt, ist es längst dunkel. Die skandinavische Kaltfront hat Berlin erreicht. Der erste Schnee in diesem Jahr bleibt wie feine, zarte Watte auf den Ästen der Bäume liegen und verwandelt Stadt und Land in eine Märchenlandschaft funkelnder Weihnachtslichter.
Die vorausfahrenden Personenschützer geben über Funk das Okay an den Fahrer. Die Strecke ist »sauber«, die Lage ist ruhig, keine Besonderheiten. Noch haben die Personenschützer keine Weisung für die höchste Sicherheitsstufe 1+ erhalten. Henriette hatte die Termine des restlichen Tages so kurz wie möglich gehalten, sie möchte nach diesem Höllenarbeitstag endlich für sich sein – oder besser gesagt, bei ihm.
Dieser Mann war das Unglaublichste, was ihr nach drei Jahren Ehe und einer unkomplizierten Scheidung widerfahren war.