Drei Brüder. Jörg H. Trauboth
Bundesnachrichtendienst hat zweifelsfrei den Deutsch sprechenden Terroristen auf dem Video identifiziert. Es ist ein Wilfried Peschtl aus Hannover, seit elf Monaten verschwunden. Er hat derzeit die Rolle eines Vorzeigeterroristen.«
»Was wissen wir über die Vita dieses Mannes?«
»Peschtl ist ein Deutsch-Ägypter. Er steht bei uns auf der Liste radikaler Islamisten, weil er in Indonesien Kontakt mit al-Qaida hatte, und das auch nicht verheimlichte. Er hat lange Jahre in Köln gelebt und ist mit seiner Familie in Richtung Türkei verschwunden. Peschtl heißt beim IS Djehad Ardeshir. Er hält es für seine Pflicht, Ungläubige umzubringen.“
Harry zeigt mehrere Fotos des Dschihadisten: Groß, blond, Bart und Nickelbrille.
»Der sieht eher wie ein Gelehrter aus und nicht wie ein Gewalttäter«, bemerkt der Außenminister.
»Er ist intelligent und hat in Ägypten Religionswissenschaften und Kommunikation studiert. Hinter diesem Gesicht steckt allerdings einer der brutalsten ausländischen Terroristen. Vermutlich war er schon im direkten Umfeld von Bin Laden an Terrorakten in Pakistan beteiligt und ist dann mit einer Gruppe Islamisten zum IS gekommen. Er liebt die Außendarstellung und brüstet sich damit, engen Kontakt zu Kalif Abdullah, dem politischen und religiösen Führer des IS zu haben.«
»Gehen wir davon aus, dass der IS hinter dieser Entführung steckt, oder ist das eine Splittergruppe?«, fragt der Außenminister mit Blick auf Busch.
»Mit Sicherheit kommt diese Aktion von ganz oben. Die Drohung ist an die Bundesregierung gerichtet, das macht auch keine Splittergruppe ohne Weisung. Und die Geiseln werden bei Mossul, also in der Nähe des Hauptquartiers des IS gefangen gehalten. Das ist der Stand heute, und der kann sich mit Veränderung der Lage im Irak sehr schnell ändern. Vor allem sollten wir nicht darauf hoffen, dass irakische Spezialkräfte die beiden deutschen Geiseln heil herausbringen. Das ist bereits bei anderen Geiselbefreiungen gründlich missglückt.«
»Gibt es politische Kontakte zu diesem selbst ernannten Kalifen?«, fragt der Außenminister.
»Ob man mit dem Kalifen überhaupt in Kontakt kommen kann, ist zu bezweifeln, Herr Minister, und der Versuch auch nicht zu empfehlen. Er ist aktuell der meistgesuchte Terrorist der Welt. Die Amerikaner haben auf ihn eine Prämie von zwanzig Millionen US-Dollar ausgesetzt. Abdullah war ein Straßengauner. Mehrere Jahre saß er im Camp Bucca, dem zeitweise größten Gefängnis der Amerikaner im Irak. Drei seiner Vorgänger wurden ermordet. Als selbst ernannter Nachfolger Mohammeds muss er Erfolge in der Expansion des Gottesstaates nachweisen und sich zudem in seinem Handeln strikt an die Scharia halten, wohl wissend, dass der Schura-Rat ihn daraufhin ständig prüft, wie er ihn auch jederzeit absetzen kann.«
»Was ist der Schura-Rat?«, will die Kanzlerin wissen.
»Ein wichtiges Gremium in der IS-Führungsriege, in dem neun Geistliche sitzen, die in islamischem Recht bewandert sind. Der Rat soll gewährleisten, dass die IS-Spitze sich an die fundamentalistische Auslegung der Scharia hält. Nach der Lehre des Korans kann er den Kalifen sogar absetzen – theoretisch.«
»Und praktisch?«, setzt die Kanzlerin nach.
»Eher nicht, das ginge zu weit. Der IS ist zwar in seinen Ansichten extrem altmodisch, aber in seiner Führung hochmodern. Ich darf das an dieser Grafik erläutern.
Kalif Abdullah hat zwei Stellvertreter, einen für Syrien, den anderen für den Irak. Beide sind Oberstleutnante aus der irakischen Armee und Kampf- und Gefängnisgefährten des Kalifen. Das Trio bildet die Führungsebene, genannt das Emirat, darunter sind neun Räte.«
»Können die Drei allein entscheiden?«, will die Bundeskanzlerin wissen.
»Soviel wir wissen, nein. Das Emirat wird von dem Schura-Rat und dem Führungsrat durchaus überwacht. Nachgeordnet sind weitere Räte – ähnlich wie Ministerien – zuständig für Recht, Sicherheit, Militär, Geheimdienste, Medien, Finanzen und die Kämpfer.«
»Sie sagen, sie werden von den Ministerien überwacht? Sind ja Zustände wie bei uns …«
Die Herren schmunzeln.
»Teils, teils, Frau Bundeskanzlerin. Der Schura-Rat prüft, ob sich die Führung an die fundamentalistische Auslegung der Scharia hält. Wenn also Kalif Abdullah mit Ihnen einer Verhandlungslösung zustimmen würde, und der Rat der Auffassung ist, die beiden Gottlosen müssen enthauptet werden, dann wird sich der Kalif dem beugen müssen. Und davon ist auszugehen.«
»Ich halte das auch für einen theoretischen Ansatz, Frau Bundeskanzlerin«, bemerkt von Rüdesheim, »unsere Verbündeten hätten kein Verständnis dafür, dass wir mit dem meistgesuchten Terroristen über die Auslösung zweier Geiseln verhandeln.«
»Sie erinnern sich an den letzten Fall«, ergänzt Rudi, »da konnten wir mit dem IS noch verhandeln. Die Geisel kam frei. Aber da waren wir militärisch noch nicht engagiert. Heute ist die Lage ganz anders.«
Henriette bemerkt das zustimmende Nicken in der Runde. Trotzdem, sie ist immer für Verhandlungen. Gerade bei Entführungen.
»Hinzu kommt«, fährt Rudi fort, »die Terroristen setzen sich mit dieser multimedialen Inszenierung im Namen Allahs selbst unter Zugzwang. Bisher wurde jede öffentliche Enthauptungsdrohung realisiert. Die Entscheidung der Terroristen ist somit präjudiziert. Das Ultimatum wird nach unserer Einschätzung nicht verlängert, will sagen, die Geiseln haben ohne Hilfe keine Chance.«
»Und was heißt das?«, fragt die Bundeskanzlerin.
»Wenn es unsere Zielsetzung ist, das Leben der Geiseln nicht zu gefährden, und ich denke, das ist unumstritten, dann müssen wir zeitnah handeln«, sagt ihr oberster Krisenbeauftragter Rudolf Kürten. Er ist jetzt bei den Objectives, doch das weiß nur er.
Was heißt das nun wieder?, denkt Bloedorn.
Rudi lässt die Katze noch im Sack und kommt mit dem Ausschlussverfahren.
»Da es keine Geldforderung gibt, sondern nur eine politische Erpressung, sehen wir keine Verhandlungslösung.«
»Und wenn wir eine Menge Geld anbieten? Werden die dann doch weich?«, will die Bundeskanzlerin wissen.
»Der Islamische Staat hat durch die erbeuteten Öl- und Gasvorkommen, durch unveränderte Zuwendungen befreundeter Staaten und durch Raub in den eroberten Gebieten trotz seiner massiven Gebietsverluste immer noch genug Geld. Wir sprechen über Milliarden.«
»Und selbst wenn er etwas bräuchte, wir zahlen ja bekanntlich nicht in Geisellagen«, ergänzt der Außenminister.
Das wollen wir hier mal nicht näher ausführen, denkt Henriette und erwidert: »Natürlich nicht … und in diesem Fall können wir dem IS ja kaum Entwicklungshilfe anbieten, wie beim letzten Mal.«
Die Herren senken die Köpfe. Nur drei unter ihnen kennen die Summe, die unter einem unspektakulären Titel über den Haushalt eines anderen Ministeriums gezahlt wurde. Der Bundesrechnungshof prüft auch das Auswärtige Amt regelmäßig.
»Also gut«, sagt sie, »wenn Lösegeld nicht funktioniert, und wir zum Schein auf die politische Erpressung eingehen?«
»Das wird uns niemand abnehmen«, interveniert der Außenminister, »und würde auch öffentlich unserem Grundsatz widersprechen, dass wir nicht erpressbar sind. Ich muss wirklich davor warnen, Frau Bundeskanzlerin. Es würde auch nur ein einziges Mal funktionieren, was ich im Übrigen bezweifle. Der internationale Schaden wäre in jedem Fall enorm.«
»Könnte ein hochrangiger Vermittler eines anderen Staates helfen?« Henriette denkt dabei an den Emir von Katar. Der war äußerst zugänglich.
»Eine interessante Option«, fährt Rudi fort, »die Erfahrungen aus den Hinrichtungen der bisher enthaupteten westlichen Geiseln zeigen jedoch, dass es den Dschihadisten überhaupt nicht um Verhandlungen geht. Es geht ihnen um den öffentlichen Showdown, in dem wir, die Regierungen, die tatsächlichen Opfer sein sollen. Die Geiseln sind denen völlig egal.«