Drei Brüder. Jörg H. Trauboth

Drei Brüder - Jörg H. Trauboth


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spürt die große Not. Sie wird sich noch genauer informieren, bevor sie heute Abend nach zwanzig Uhr endlich die Füße hochlegen kann.

      Henriette Behrens hat ein diskretes Treffen, und das kennt nur ihre Büroleiterin und langjährige Freundin Susanne Ehrlich.

      Auf dem Krypto-Handy erscheint die Nummer vom Außenminister von Rüdesheim. Die Bundeskanzlerin ist ihm gegenüber mehr als vorsichtig. Der Koalitionspartner hatte ihn bei der Regierungsbildung gnadenlos durchgeboxt, und nun ist er traditionsgemäß in dieser Funktion leider auch Vizekanzler. Was hinter den Kulissen läuft, kann selbst sie nur ahnen. Gelegentlich bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihn zurückzupfeifen, was in der Presse sofort als Konflikt in der Außenpolitik zwischen ihr und dem Außenminister ausgelegt wird. Rüdesheim beobachtet sie argwöhnisch, auch in ihrem offensichtlich auffällig guten Verhältnis zum Verteidigungsminister.

      »Herr von Rüdesheim, haben wir ein Problem?«

      »In der Tat, Frau Bundeskanzlerin.«

      Er berichtet von dem Erpressungsvideo.

      »Das müssen Sie noch wissen: Die Drohung wird von einem sehr gut Deutsch sprechenden Terroristen vorgetragen. Sie, Frau Bundeskanzlerin, werden namentlich adressiert und massiv bedroht. Das Thema läuft bereits allen Medien mit den üblichen Spekulationen über unsere Reaktion. Ministerialdirigent Dr. Kürten bereitet für heute eine Sitzung des Krisenstabes WEFI bei uns im Lageraum vor.«

      Henriette überlegt kurz.

      Option eins, ich delegiere das Ganze wie so Vieles. Option zwei, ich mache den Fall zur Chefsache und greife aktiv in das Geschehen ein. In beiden Fällen: Ausgang offen. Option zwei kann ich zeitlich überhaupt nicht gebrauchen, und sie ist auch politisch gefährlicher …«

      Sie weiß, dass sie in dieser brisanten Lage auf einem Feuerstuhl sitzt. Zwei deutsche Geiseln könnten erstmals von dieser Terrororganisation hingerichtet werden. Es ist nicht ihr Ding, heiße Themen auszusitzen. Sie wurde gewählt, um zu handeln. Sie handelt im Kabinett, in Brüssel, und sie muss jetzt auch einmal im Krisenkeller handeln! Henriette entschließt sich für die Option zwei.

      »Um wie viel Uhr tagt der Krisenstab?«

      »Um 16:00 Uhr.«

      »Ich werde dazukommen. Bitten Sie auch Innenminister Dr. Bauer und Verteidigungsminister Voss dazu – und natürlich alle Ebenen, die wir für die Entscheidungsfindung benötigen.«

      »Wird erledigt, Frau Bundeskanzlerin.«

      So ein Blödmann, denkt Henriette. Wann begreift der endlich, dass ich kabinettsintern nur mit Namen angesprochen werden möchte?

      Dann ruft sie ihr Leitungsbüro an, lässt die anstehenden Besprechungstermine mit Banken, Kirchen und Gewerkschaften kürzen. So wird sie noch einige Telefontermine schaffen. Das Umziehen kann ich vergessen, denkt sie und greift sich ein paar Akten.

      »Zum AA Krisenreaktionszentrum!«

      »Normal oder mit Blaulicht?«

      »Normal, ich möchte vor Kriegsausbruch noch in Ruhe ein Nachmittagsschläfchen machen.«

      Ihr Lieblingsfahrer gibt dem ersten Wagen die Einzelheiten durch und schmunzelt. Er ist stolz darauf, diese Chefin fahren zu dürfen. Sie sieht nicht nur verdammt gut aus, sondern hat es richtig drauf, und wie immer die Ruhe weg.

      Im Lageraum sind alle versammelt. Noch ist der zentrale Bildschirm dunkel. Gespannte Ruhe. Zum ersten Mal wird die Chefin selbst bei einer Krise anwesend sein.

      Seit 15:30 Uhr fahren gepanzerte Limousinen vor. Die Fahrer springen heraus und öffnen den Ministern die Türen. Raumschutz ist hier nachrangig, man ist im Innenhof bereits im gesicherten Bereich. Verteidigungsminister Paul Voss wird von einem Heeresgeneral begleitet, Innenminister Dr. Siegfried Bauer von einem hohen Beamten der GSG 9 Bundespolizei, der Hausherr, Außenminister Georg von Rüdesheim, kommt allein.

      Dr. Rudolf Kürten begrüßt jeden Einzelnen seiner Gäste per Handschlag. Großes Kino heute. Doch in Krisen wie dieser wird Rudi ganz ruhig, noch ruhiger als sonst.

      Die Herren werden höflich, aber bestimmt gebeten, ihre Handys vor Eintritt in den Lageraum abzugeben. Das dient nicht nur der Sicherheit, sondern folgt Rudis Prinzip. Das Prinzip heißt: Kopf vor Technik.

      Rudi überblickt den Raum. Der ist so, wie er ihn immer haben wollte. Leere Tische, aneinandergereiht in einem langen ovalen Block, am Ende über Eck. Schreibblock, Stift, sonst nichts. Diese ungewöhnliche Logistik hatte ihm ebenfalls jener Oberst aus Blankenese empfohlen. Seitdem gibt es im Lageraum keine Informationsüberflutung mehr. Es wird konzentriert und kurz vorgetragen, zugehört und diskutiert. Krisenrelevante Informationen werden während der Sitzung aus den Fachbereichen außerhalb des Lageraumes abgerufen, aus allen Ressorts und den Geheimdienstquellen. Bei Bedarf wird alles, was wichtig ist, auf einen großen Schirm projiziert. Doch nur bei Bedarf.

      Rudi ist zufrieden. Hier befindet er sich direkt auf der strategischen Ebene. Trotzdem ist er froh, dass heute die letzte Entscheidung nicht auf seinen Schultern ruht.

      Um exakt 15:58 Uhr wird es plötzlich ruhig im Lageraum.

      »Meine Damen und Herren, die Frau Bundeskanzlerin!«

      Alles erhebt sich.

      Strahlend betritt sie in ihrem dezenten, blauen Kostüm den nüchternen, unpersönlich großen Raum. Henriette gibt dem Hausherrn die Hand. Georg von Rüdesheim weiß, dass sie auf einen Handkuss keinen Wert legt.

      »Guten Tag zusammen, ich freue mich, hier im Krisenkeller zu sein! Mein Handy hat man mir abgenommen. Wäre auch sinnlos gewesen, wenn ich die Wände hier sehe.«

      Lachen im Raum. Vorschrift ist Vorschrift auch für die Nummer Eins.

      »Frau Bundeskanzlerin, ich stelle vor, Ministerialdirigent Dr. Kürten, Ministerialrat Dr. Bloedorn, BKA-Direktor Busch und der Kommandeur KSK, Brigadegeneral Wolf.«

      Es folgen Ressortleiter und eine Reihe von Mitarbeitern. Die Crème de la Crème im Krisenkeller.

      Henriette legt Wert darauf, jedem Einzelnen die Hand zu schütteln. Wertschätzung durch persönliche Begrüßung, wann immer möglich, ist ihre Devise. Sie ist sich ihrer Premiere in diesem Kreise bewusst, und ihr Charme erfasst schnell den gesamten Lageraum.

      »Ich möchte zuerst das Video sehen.«

      »Selbstverständlich, Frau Bundeskanzler«, erwidert Bloedorn, grammatikalisch völlig korrekt.

      »Ich bin bekanntlich eine Frau«, sagt sie gewinnend, »also können Sie ruhig Frau Bundeskanzlerin zu mir sagen, selbst, wenn das einem weißen Schimmel gleich kommt. Die Tautologie nehme ich zugunsten der Emanzipation gerne in Kauf!« Wieder Erheiterung. Sie hat schon jetzt den Schlüssel umgedreht, denkt Rudi. Señora Henrietta hat ein Gespür dafür, dass auch im Worst Case gelacht werden darf … die Spannung muss raus … denn gleich wird es ernst, verdammt ernst.

      Das projizierte Video ist erschreckend. Eine Gruppe maskierter Terroristen. Aber irgendetwas ist anders als sonst, denkt Henriette. Die gesamte Inszenierung. Das ist wie Hollywood …

      Der Mann im Vordergrund will gerade sprechen.

      »Bitte Stopp!«, sagt die Kanzlerin.

      Sie erträgt das nicht, denkt Bloedorn.

      Stimmt nicht. Die Kanzlerin will sich das stehende Bild erst einmal genau ansehen, bevor die Sprache kommt. Für sie ist der Gesamteindruck, die Körpersprache mindestens so wichtig wie das gesprochene Wort. Und hier erst recht. Was ist Show, was ist echt?

      Sie schaut sich die Figuren genau an. Beide Geiseln in der inzwischen typischen, orangefarbenen Häftlingskleidung, identisch mit der Kleidung im Gefangenenlager Guantanamo. Kleider als Unterdrückungssymbol. Ihr habt unsere Brüder, wir eure. Wir sind auf Augenhöhe – Gottlose!

      Weier und Fischer knien gefesselt auf dem Wüstenboden mit einem Schild um den Hals:

      


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