Luise und Leopold. Michael van Orsouw

Luise und Leopold - Michael van Orsouw


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      Dieser reagierte erstaunlich gelassen und betrachtete die angebliche Affäre als eine weitere Laune seiner Frau, die sicher bald vorübergehe. Das Gerede erschien ihm wenig glaubhaft, schliesslich sei Giron acht Jahre jünger als seine Frau und erst noch ein eitler Geck, den er nicht ernst nehmen könne – eine kolossale Fehleinschätzung, die sich nun rächt, da seine Frau mit genau diesem Giron sogar ins Ausland getürmt ist, bis nach Zürich.

      Jetzt ist das Quartett vollständig: der unverheiratete Erzherzog Leopold mit seiner Geliebten Wilhelmine, der «Künstlerin», sowie Sachsens Kronprinzessin Luise mit ihrem Geliebten, dem Privatlehrer ihrer Kinder, die sie in Dresden zurückgelassen hat. Auch wenn sie sich in Zürich frei bewegen können, nehmen Journalisten ihre Anwesenheit wahr und schreiben über sie: «Eine zweifelhafte Ehre ist der Stadt Zürich dadurch zu teil geworden», urteilen beispielsweise die Neuen Zürcher Nachrichten.

      Vor dem Hauptbahnhof besteigen Luise, Leopold und ihre Begleiter einen Pferde-Omnibus (also einen Buswagen, der von einem Pferd gezogen wird). Der Zufall oder das Pech will es, dass sie ausgerechnet jenen Pferde-Omnibus wählen, der an diesem Nachmittag mit einem Tramwagen zusammenstösst. Auch das noch! Ein komplett unnötiger Unfall. Aufgrund der niedrigen Geschwindigkeit kann das Unglück den Fahrgästen nichts anhaben. Doch müssen die königlichen Hoheiten das letzte Wegstück zum Hotel zu Fuss zurücklegen.

      Um den Aufenthalt in Zürich zu vertuschen, greift die aussergewöhnliche Reisegruppe zu einer ausgeklügelten Finte. André Giron hat einem Freund den Auftrag gegeben, im Namen von Luise in Brüssel ein Telegramm aufzugeben. Darin benachrichtigt sie – angeblich! – den sächsischen Hof ihres verlassenen Gattens, dass sie definitiv nicht mehr nach Dresden zurückkehren wolle.

      Der Inhalt des gefälschten Telegramms verbreitet sich in ganz Europa und schlägt – gemäss der sonst um Zurückhaltung bemühten Neuen Zürcher Zeitung – ein «wie eine Bombe»; denn bislang vermutete man Luise noch immer in Salzburg und bestimmt nicht in Brüssel, wo ihr Liebhaber André Giron herkommt.

      Thronfolger Friedrich August schickt seine Leute sofort nach Belgien: Für die delikate Mission bestimmt er Hofmarschall Wolf Ferdinand von Tümpling, den Kammerherrn Luises, zudem Baronin von Fritsch, die Oberhofmeisterin, und den sächsischen Kriminalkommissar Arthur Schwarz. Sie sollen seine Frau möglichst diskret zur Umkehr bewegen und einen grösseren Skandal verhindern.

      Doch in Brüssel sind die Geflohenen nicht zu finden. Um ihre Spuren noch besser zu verwischen, entscheiden Luise, Leopold und ihre Begleiter, nach Genf weiterzureisen. Zuvor erkunden sie nochmals die Stadt Zürich. Vielleicht haben Luise und André, Leopold und Wilhelmine etwas gegessen und dann das nahe Stadt-Theater besucht, das heutige Opernhaus; dort wird an diesem Abend die Oper «Zar und Zimmermann» gespielt. Diese hätte ausgezeichnet zu ihrer momentanen Situation gepasst, denn in der Oper verstellt sich der mächtige Zar Peter I. und gibt sich als einfacher Zimmermannsgeselle aus, was ihm mal besser, mal weniger gut gelingt.

      Luise und Leopold steht ebenfalls ein Leben fernab royaler Höfe bevor. Sie sprechen beispielsweise darüber, in der Schweiz ein Kinderheim zu eröffnen; die Oper mit dem verbürgerlichten Zaren wäre also eine Inspirationsquelle gewesen.

      Eine nützliche Bekanntschaft

      Tags darauf – der Kalender zeigt den 15. Dezember 1902 – packen die vier ihre wenigen Sachen im Grandhotel Bellevue in Zürich zusammen und fahren mit der Eisenbahn nach Genf. Der Grund für die Reise an den Lac Léman dürfte Leopolds Absicht sein, seine Wilhelmine Adamovic möglichst schnell zu heiraten, was ihm in Genf einfacher erscheint. Deshalb ist er geflohen, deshalb hat er sich an den Kaiser höchstpersönlich gewandt, deshalb will er auf alle seine Privilegien und den Titel eines Erzherzogs verzichten.

      In Genf kennt Leopold bereits Rechtsanwalt Adrien Lachenal, der äusserst beschlagen, eloquent und gut vernetzt ist; schliesslich war dieser zuvor Bundesrat und sogar Bundespräsident gewesen. Zudem arbeitete Lachenal als Staatsanwalt, Richter, Grossrat, Nationalrat und Ständerat mit liberalem Parteibuch. Aus dem Bundesrat ist er aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten, jetzt wirkt er als famoser Redner und effizienter Strafverteidiger – unter anderem für Leopold, später auch mehrfach für Luise. Genf gilt zu dieser Zeit als vergleichsweise liberal: Ehebruch wird im Kanton Genf seit 1875 nicht mehr geahndet, was Luise sehr entgegenkommt. Hier kann sie sich sicher fühlen.

      Die vier Reisenden kommen im Genfer Hotel d’Angleterre unter, am Quai du Mont-Blanc 17; sie mieten vier Zimmer mit direktem Blick auf den Genfersee, die Berge dahinter und den schon damals speienden Jet d’eau. Das Hotel liegt ganz in der Nähe des «Beaurivage», in welchem Kaiserin Elisabeth 1898 übernachtet hatte. Auf dem Quai direkt davor wurde sie ermordet. Genf, die ganze Schweiz und erst recht das Habsburgerreich waren schockiert und trauerten um die geliebte Kaiserin.

      Das tragische Attentat scheint die vier Getürmten überhaupt nicht zu kümmern. Sie führen in Genf ein sorgenfreies, gemächliches Vorweihnachtsleben mit Spaziergängen und Einkäufen in der Stadt. Das erinnert an Joseph Roths Roman «Die Kapuzinergruft»: Dort teilt die adelige Hauptfigur mit ihrer Entourage «den skeptischen Leichtsinn, den melancholischen Fürwitz, die sündhafte Fahrlässigkeit, die hochmütige Verlorenheit, alle Anzeichen des Untergangs, den wir damals noch nicht kommen sahen. Über den Gläsern, aus denen wir übermütig tranken, kreuzte der unsichtbare Tod schon seine knochigen Hände. Wir schimpften fröhlich, wir lästerten sogar bedenkenlos.»

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      Erlebte die «schlimmsten Tage» seines Lebens: Friedrich August III., Luises Ehemann.

      So lebt auch unser Quartett «sündhaft fahrlässig» und «bedenkenlos» in den Tag hinein, während im Hintergrund die Drähte heiss laufen. Denn Luises Ehemann Friedrich August III. erlebt «die zwei schlimmsten Tage» seines Lebens, wie er in einem Brief schreibt: Bei einem Jagdunfall hat er den Unterschenkel gebrochen, weshalb er sich kaum fortbewegen kann. Und er hat keine Ahnung, wo sich seine geflohene Frau aufhält. Er weiss nur, dass sie einen Liebhaber hat und Salzburg mit unbekanntem Reiseziel verlassen hat; zudem liess sie ihn mit den fünf Kindern sitzen, das jüngste ist gerade mal ein Jahr alt, das älteste knapp zehn. Sein Vater, König Georg von Sachsen, der ihn schon immer vor Luise gewarnt hatte, welche in dessen Augen eine verweichlichte und unzuverlässige Habsburgerin sei, nervt ihn ausserdem. Trotz des Wissens um ihre Affäre mit dem Sprachlehrer hält Friedrich August zu seiner Frau und schreibt in einem Brief: «Ich hänge an ihr trotz allem, was passiert ist, mit jeder Faser meines Herzens. Sie ist leichtsinnig, sie ist unklug, sie nimmt es mit der Wahrheit nicht immer genau, aber sie ist nicht schlecht von Natur.»

      Nach zwei Tagen Ungewissheit findet die sächsische Geheimpolizei heraus, dass sich die entwichene Kronprinzessin nicht in Brüssel aufhält.

      Sondern in Genf.

      In der neutralen Schweiz.

      Mit ihrer föderalen Gesetzgebung.

      Im Hotel d’Angleterre.

      Sofort reist eine neue Delegation aus Sachsen dorthin und quartiert sich ebenfalls im besagten Hotel ein. Die Leitung der Gruppe obliegt dem sächsischen Kriminalbeamten Arthur Schwarz, der auch schon in Brüssel nach Luise gesucht hat. In Genf entwickelt Kriminalist Schwarz einen Plan, wie er mit seinen Leuten die Kronprinzessin kidnappen und zurück nach Dresden bringen könnte.

      Doch die Genfer Polizei ist wachsam, erfährt von der Absicht und bringt den Plan zum Scheitern; denn Genf duldet keine geheimen Aktionen ausländischer Polizei in der Stadt.

      Daraufhin beschwert sich der Kanton Genf in Bern, sodass die Schweiz offiziell beim Königreich Sachsen vorstellig wird und sich wegen dieser Missachtung der Schweizer Souveränität beklagt: Auf Schweizer Boden jemanden zu entführen, stelle im Minimum einen «unfreundlichen Akt» dar, wie das in gewundenem Diplomatendeutsch heisst. Doch das sächsische Ministerium beeilt sich zu betonen, dass gar keine Entführung geplant gewesen sei. Beschwichtigend heisst es, ihre Kriminalkommissare hätten lediglich versucht, Luise zu einer freiwilligen Heimkehr zu bewegen. Danach hat es allerdings nicht ausgesehen.

      Der


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