Luise und Leopold. Michael van Orsouw

Luise und Leopold - Michael van Orsouw


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Monarchie herannahen sieht. Die Presse in Berlin spottet, die ungewöhnliche «seelische Erregung», welche zur Abreise beigetragen habe, trage einen Schnurrbart und schwarze Locken; die Journalisten spielen damit auf das Aussehen von André Giron an. Die Neue Freie Presse aus Wien analysiert messerscharf: «So radikal und ohne Scheu hat sich der Bruch der Leidenschaft mit der Tradition noch nie in einem Königshaus vollzogen. Man spürt förmlich diesen Kampf zwischen alter und neuer Zeit.»

      Insofern ist der Skandal viel mehr als ein Regelverstoss zweier Adliger; er steht für den Kampf zwischen dem Gestern und dem Morgen. In der damaligen Zeit wimmelt es von Auf- und Umbrüchen: Die Industrie produziert immer mehr und immer günstiger; die Globalisierung nimmt ihren Lauf; Frauen fordern ihre Rechte ein; Auto, Elektrizität und Telefone beschleunigen den Alltag; Wissenschaft und Kunst zertrümmern das alte Weltbild. Sinnbild für diese Entwicklung sind die elektrischen Gehwege an der Weltausstellung in Paris von 1900: Die alte Welt kommt auf Knopfdruck in Bewegung! Der Soziologe Max Weber verwendet ein passendes Bild: Der Mensch der damaligen Zeit fühlt sich wie in einem rasenden Zug, aber er weiss nicht, wie die Weichen gestellt sind!

      In dieser Zeit rasanter Entwicklungen stehen viele Menschen verunsichert zwischen Tradition und Fortschritt, zwischen gestern und morgen, zwischen «alter und neuer Zeit». Dass Luise und Leopold ihren Bruch mit der Tradition so öffentlich austragen, ist vor diesem Hintergrund zu sehen.

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      Sie inszenieren ihre Liebe auf ungehörige Weise: Luise mit André Giron.

      Ein trauriger Weihnachtsabend

      König Georg in Dresden verliert die Geduld mit seiner geflohenen Schwiegertochter Luise. Zuerst sagt er sämtliche königlichen Anlässe ab, zudem verfügt er, dass alle Theater im ganzen Königreich Sachsen geschlossen bleiben, «anlässlich des schmerzlichen Ereignisses in der sächsischen Königsfamilie», wie es offiziell heisst. Tags darauf geht er noch einen Schritt weiter: Er befiehlt, dass der ganze Hofstaat der Kronprinzessin per sofort aufzulösen sei. Zudem weist er seine Behörden an, Luise am Überschreiten der Grenzen des Landes Sachsen zu hindern. Damit erklärt der König seine Schwiegertochter Luise noch vor Weihnachten zur unerwünschten Person. Oder mit anderen Worten: Sachsen lässt seine Kronprinzessin fallen.

      Das hält das Quartett nicht davon ab, am 24. Dezember das Weihnachtsfest im Hotel zu feiern, sogar mit einem eigens dafür gekauften Christbaum. Die Stimmung in der Schweiz richtet sich nicht grundsätzlich gegen die illustren Gäste. Stellvertretend sei die Zeitung Der Bund aus Bern zitiert: «Wir gestehen auch einer Kronprinzessin und einem Erzherzog das Recht zu, ihr Privatleben einzurichten, wie es ihren Neigungen und Ansichten am besten entspricht. Wir Republikaner sind gewiss am wenigsten geneigt, uns gesittet zu entrüsten, wenn wir sehen, dass irgendwo Mächte des Temperamentes und des Blutes über das starre monarchische Prinzip den Sieg davon tragen. Und besonders sind wir zur Nachsicht gestimmt, wenn eine Frau wie die Kronprinzessin mit ihrem Freiheitsdrang sich gegen den Zwang veralteter Etikette auflehnt.»

      Doch man kann in Genf auch andere Meinungen vernehmen. Am Weihnachtstag trifft ein Brief ein, der wenig Feststimmung verbreitet haben dürfte. Ein anonymer Verfasser schreibt an Luise: «Die Schande, die Sie dem sächsischen Könighause sowie dem Vaterland bereitet haben, kann gar nicht in Worte ausgedrückt werden und ruft die allgemeine Erbitterung aller edeldenkenden Menschen hervor. Eine derartige Besudelung der Ehe eines gekrönten Hauptes […] kann nur als ein Verbrechen angesehen werden, deren irdische Strafe Sie, nebst Ihrem Galan nicht entgehen können.» Die angedrohte Konsequenz ist heftig und wenig weihnachtlich: «Das Loos eines Attentats ist für Sie gezogen und bestimmt. […] Das Blut ihres Galans Giron wird zuerst fliessen.»

      Ein solcher Drohbrief hinterlässt seine Spuren bei den Empfängern. Entsprechend schreibt Kriminalkommissar Schwarz in seinem Tagesbulletin: «Frau Kronprinzessin gibt sich hier den Anschein, als sei sie lustig und guter Dinge, obgleich sie es nach meiner augenscheinlichen Ueberzeugung durchaus nicht ist. Sie sieht auffallend blass und eingefallen aus und als ich ihr heute früh auf der Treppe begegnete, glaubte ich eher eine ältere kranke Frau als unsere Kronprinzessin zu sehen. Dem Ausdruck der Augen fehlt jeder Glanz.»

      Ob mit oder ohne Glanz in ihren Augen – Luise empfängt nach Weihnachten im Hotelzimmer einen Reporter der Wiener Zeit, dem sie anvertraut: «Das war ein schrecklicher Weihnachtsabend. Wir zündeten den Baum an und beschenkten uns mit Kleinigkeiten, aber dann vermochten wir uns nicht mehr zu halten und weinten alle miteinander furchtbar.» Die Prinzessin fasst sich gleich wieder und markiert trotzige Stärke: «Aber wenigstens bin ich jetzt frei! Endlich dem Zwang entronnen.»

      Die Journalisten mögen die Story sehr: Eine Kronprinzessin und ein Erzherzog türmen, weil sie Leute aus dem Volk lieben; zudem ist sie schwanger. Das ist Boulevardstoff vom Feinsten, auch für klassische Zeitungen, die sich zu dieser Zeit mehr und mehr für solche Themen öffnen. Darum versuchen aggressive Reporter im Genfer Hotel d’Angleterre, für ihr Lesepublikum zusätzliche Details zu erfahren. Es ist Weihnachten und Neujahr, also ohnehin Nachrichtenflaute, weshalb ihre Berichte umso gefragter sind. Luise, Leopold und André Giron empfangen Journalisten aus Deutschland, Österreich, Frankreich, der Schweiz und sogar aus Amerika und geben bereitwillig Auskunft, zum Beispiel den bekannten und auflagenstarken Zeitungen.

      Le Figaro aus Paris.

      Den Münchner Neuesten Nachrichten.

      Dem New York Herald.

      Leopold bekräftigt dabei, dass er möglichst bald frei sein und seine Geliebte heiraten wolle. Luise hofft, «die Ehe zu lösen», worauf sie Giron heiraten wolle, denn ihre Liebe zu ihm sei «viel zu innig».

      In ihren Memoiren erwähnt Luise einen amerikanischen Reporter, der zu ihr gesagt haben soll: «Hören Sie, Prinzessin, ich werde diese Treppe, über die Sie schreiten, mit Banknoten bedecken, wenn Sie mir einige Worte sagen: Ist das nicht ein annehmbares Geschäft?» Sie aber lässt den Mann stehen und behauptet, dass sie nur sehr selten mit Reportern gesprochen habe – was so sicher nicht stimmt …

      Eine öffentliche Anerkennung der Schuld

      Denn die Zeitungen sprechen eine andere Sprache. Unzählige direkte Zitate von Luise, die nicht erfunden sein können, liest man in den nächsten Tagen in den Blättern vieler Länder. In den Berichten werden jetzt auch ihre verlassenen Kinder ein Thema. «Meine Kinder sind das einzige, was ich auf dieser Erde bedauere … Ich bin entschlossen, alle meine Mutterrechte aufrechtzuerhalten. Eine Mutter hat selbst, wenn sie schuldig ist, das Recht, ihre Kinder zu lieben und zu sehen», sagt sie dem Neuen Wiener Tagblatt. Dass sie sich in den Zeitungen öffentlich des Ehebruchs schuldig bekennt, wird ihr später zum Verhängnis werden.

      André Giron gefällt sich in der Rolle als Ansprechpartner für die Journalistenschar, ihm schmeichelt das grosse Interesse an seiner und Luises Geschichte. Er gibt gerne Auskunft, ermöglicht sogar Einblicke in sein Tagebuch, das allerdings nur ein trockenes Journal mit wenig aufregenden Kurznotizen ist. Dem Wiener Neuigkeits-Welt-Blatt fällt auf: «Speziell der Herr Giron nahm kein Blatt vor den Mund. Er rühmte sich seiner Beziehungen zu der Gattin des sächsischen Kronprinzen in geradezu abscheulicher Weise. Schmählicher hat noch kein Galan die Frau, die ihm Ehre und Familie geopfert, öffentlich blossgestellt.»

      Besonders gerne empfängt der Belgier Giron Korrespondenten von Pariser Blättern, um sich von ihnen interviewen zu lassen. Der junge Mann entwickelt sich zum Deuter der offensichtlich kompromittierenden Situation. Er stellt Luises Ehegatten als gütig, aber dumm dar: Friedrich August ist aus seiner Sicht ein einfacher, grobschlächtiger Soldat; Luise, seine Geliebte, verkörpere hingegen die reinste Poesie, begeistere sich für Kunst, Schönheit und edelste Empfindungen, schwärmt er dem Echo de Paris vor, «sie litt ein Martyrium».

      Von seinen eigenen Worten berauscht, lässt es der junge Lehrer auch zu, dass ein Fotoreporter der Pariser Wochenzeitschrift L’Illustration ihr gemeinsames Hotelzimmer betritt. Der Fotograf stellt die beiden für ein Brustbild schräg hintereinander: Vorne ist Luise zu sehen, mit einer hochgeschlossenen Bluse und dem Blick nach rechts; hinter ihr steht André Giron, ebenfalls den Blick nach


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